Klaviere und ermordete Kinder

Der bedeutende Historiker Saul Friedländer blickt auf die eigene Kindheit, die deutsche Judenverfolgung und auf Martin Walsers Friedenspreis-Rede

Von Geret LuhrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Geret Luhr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Als deutscher Jude spielte man Klavier. Nicht der Umstand also, daß er das Instrument als Kind überhaupt erlernen mußte, besitzt für Saul Friedländer tiefere Bedeutung, sondern die Tatsache, daß das erste Lied, das er spielen lernte, ein Trauermarsch der deutschen Armee war: "Ich hatt' einen Kameraden". Denn erst dieses Detail, das Friedländer beim Schreiben seiner Autobiographie aus der Erinnerung hebt, macht das tatsächliche Ausmaß der deutsch-jüdischen Akkulturation auf symbolische Weise deutlich. Saul Friedländers Buch "Wenn die Erinnerung kommt" lebt von solchen Symbolen. In der Nachfolge Goethes entsteht hier das Allgemeine aus dem Besonderen, wird das Schicksal der deutschen Juden im 20. Jahrhundert aus dem einzigartigen biographischen Detail entwickelt.

Daß es sich bei den Symbolen der kulturellen Integration um blanke Illusionen handelte, das muß auch Friedländers Vater, ein gelehrter Literat und virtuoser Pianist, bald einsehen. Die Familie begibt sich auf die Flucht. Mühevoll rekonstruiert der Sohn nun den weiteren Weg seiner Eltern, die ihn, als Priesterzögling getarnt, in einem französischen Kloster zurücklassen mußten. Die Eltern starben in einem Konzentrationslager. Friedländer, der nach dem Krieg Zionist wurde, ging nach Israel, wo er heute noch lebt. Gleichwohl kehrte er häufig nach Deutschland zurück, auf der Suche nach Antworten, die ihm allerdings niemand geben konnte noch geben wollte: "Und so studierte ich in den Archiven von Bonn, Koblenz oder Freiburg von morgens bis abends Akten, die Akten des Reichsaußenministeriums, des Reichspropagandaministeriums und viele andere." Am vorläufigen Schlußpunkt dieses Studiums steht Friedländers Buch über "Das Dritte Reich und die Juden", für das er 1998 den Geschwister-Scholl-Preis erhielt.

Friedländer hat vor Jahren vom Historiker gefordert, eine "so wahrhaftige Darstellung zu liefern, wie die verfügbaren Dokumente und Zeugenaussagen es nur zulassen, ohne sich zu vorschnellem Abschließen verleiten zu lassen." Deutlich klingt hier jene historistische Schule an, für die es einst galt, Geschichte so darzustellen, wie es eigentlich gewesen. Und tatsächlich bleibt nach der Lektüre des Buches das Gefühl zurück: so wird es wohl gewesen sein! Ein Gefühl, das alle methodische Kritik entkräftet.

Fraglos gehört Friedländer zu den besten Kennern des Nationalsozialismus. Ebenso unzweifelhaft ist er ein versierter, trickreicher Schriftsteller: eine Kombination, von der die Geschichtsschreibung in ihrem Wesen profitiert. Innerhalb eines festgefügten chronologischen Rahmens, der in diesem ersten Band von "Das Dritte Reich und die Juden" die Jahre der Verfolgung von 1933 bis 1939 umfaßt, verschiebt Friedländer ständig die Darstellungsperspektive, wechselt geschickt zwischen der Sicht der Täter, der Opfer und der geduldig zuschauenden Betrachter im In- und Ausland hin und her. Insgesamt verwebt er die Analyseebenen so schlüssig miteinander, daß das Bild des sich anbahnenden Holocaust als Ganzes überschaubar wird.

Solch eine homogene Übersicht hat es bislang in der einschlägigen Literatur nicht gegeben, wohl auch deshalb nicht, weil man glaubte, ohne Vereinfachung und vor allem ohne Verharmlosung des Blicks sei sie nicht zu haben - eine Problematik, die Friedländer durch sein Verfahren kunstvoll umgeht. Indem er nämlich die verschiedenen Realitätsebenen unvorbereitet einander gegenüberstellt, erzeugt er fortlaufend ein "Gefühl der Entfremdung", das, wie er in der Einleitung schreibt, der Tendenz entgegenwirken soll, "mittels nahtloser Erklärungen und standardisierter Wiedergaben diese bestimmte Vergangenheit zu 'domestizieren' und ihre Wirkung abzuschwächen." An dem Erfolg der Technik ist nicht zu zweifeln. Ja letztlich, so hat Jan Philipp Reemtsma zu recht bemerkt, mache nur die Leichtigkeit erstaunen, mit der "die scheinbaren Dilemmata, die die Historiographie des Nationalsozialismus bisher geprägt haben, in Friedländers Buch einfach verschwinden."

Gerade die über das Buch verstreuten und in den verschiedenen Kapiteln jeweils wieder aufgegriffenen Fallbeispiele sind es, die das historische Verständnis erhöhen, die aber auch die Abstumpfungen vermeiden helfen, die sich während der Auseinandersetzung mit der Shoah unweigerlich als eine Art "Reizschutz" einstellen. Auf der Grundlage eines höchst umfangreichen und skrupulösen Quellenstudiums entstehen vor den Augen des Lesers zahlreiche leibhaftige Menschen, deren individuelles Verhalten die Basis der historischen Interpretationen Friedländers bildet. Dabei geht Friedländer über die reine Alltagsgeschichte noch hinaus, indem er zahlreiche literarische Dokumente berücksichtigt, u. a. auch die Tagebücher Klemperers. Die irritierende Tatsache, daß es "unter der überwältigenden Mehrheit der annähernd 525 000 Juden, die im Januar 1933 in Deutschland lebten, kein erkennbares Gefühl von Panik oder auch nur von Dringlichkeit" gab, wird so erst durch den Chor der Einzelstimmen nachvollziehbar. Genauso offenbart sich das Leid, das schon in den ersten Monaten über viele Juden, aber auch über die von Friedländer stets berücksichtigten anderen Opfer hereinbrach, erst in der Konfrontation mit der furchtbaren, vernichtenden Wirklichkeit des jeweiligen Einzelschicksals. Und erst die wenigen Stimmen schließlich, die sich unter den Nichtjuden tatsächlich gegen die Verfolgung erhoben haben, machen das stillschweigende Einverständnis der Bevölkerung mit der nationalsozialistischen "Lösung der Judenfrage" unmittelbar greifbar.

Daß auch Hitler sich von diesem Einverständnis erst noch überzeugen mußte, kann Friedländer sehr plausibel machen: für Hitler, dessen zahlreiche Reden hier genauestens analysiert werden, waren die antijüdischen Maßnahmen nach der sogenannten "Machtergreifung" ein Test dafür, wie weit sich in Deutschland "jedes echte moralische Prinzip zum Schweigen bringen" läßt. Das Resultat fiel deutlich aus: Hitler hatte nicht nur freie Hand, seine antisemitischen Obsessionen auszuleben, sondern er konnte sich auf die eifrige Mithilfe sehr vieler deutscher Hände verlassen.

An diesem sogenannten "Erlösungsantisemitismus" hatten freilich nicht alle, vielleicht nicht einmal die meisten Deutschen teil. Am Ende seiner alle wesentlichen Fragen behandelnden Studie kommt Friedländer zu dem Ergebnis, daß es außerhalb der Partei keine massive Agitation in der Bevölkerung gab, die darauf gerichtet gewesen wäre, die Juden aus Deutschland zu vertreiben oder Gewalttätigkeiten gegen sie zu entfesseln. Man begnügte sich damit wegzuschauen und häufig auch aus der Enteignung der Juden Nutzen zu ziehen. Ganz anders aber in der Partei. Denn hier ist abschließend die Rede von der "erbarmungslosen Hartnäckigkeit der antijüdischen Bemühungen" in Partei und Staat, alle mit den Juden zusammenhängenden Fragen bis ins kleinste Detail zu behandeln, hier spricht Friedländer von einer "Entschlossenheit", "die durch bloße bürokratische Routine allein nicht zu mobilisieren gewesen wäre."

Daß Friedländers Buch trotz seines moralischen Engagements ohne den populistischen Eifer eines Goldhagen auskommt, daß es trotz seines hohen literarischen Wirkungsbewußtseins niemals die eben nur scheinbar engen Bahnen der Wissenschaft verläßt, ist Zeichen einer tiefen Gelassenheit. Diese beruht wohl auf der Einsicht, die bittere Wahrheit über die Vergangenheit werde sich im Verlauf der Zeit ohnehin durchsetzen und immer weiter verbreiten: trotz aller versuchten Verdrängung und trotz aller schützenden Mythen. Während des vergangenen Jahrzehnts, bemerkt Friedländer denn auch, sei die Zeit des Dritten Reichs auf so bedrängende Weise in das Blickfeld geraten, wie nie zuvor.

In seiner Rede zur Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises erkennt Saul Friedländer, daß er mit dieser Position die umstrittenen Ansichten Martin Walsers wenigstens zum Teil bestätigt: Es ist tatsächlich eine Fixierung auf Auschwitz festzustellen. Im Gegensatz zu Walser hält Friedländer diese Fixierung jedoch nicht für eine Folge politischer und medialer Instrumentalisierung - denn dann wäre nicht zu erklären, wieso der Holocaust nahezu auf der ganzen Welt zum Symbol werden konnte -, sondern für das Ergebnis eines langwierigen Erkenntnisprozesses, in dem die nationalsozialistischen Verbrechen der Menschheit als die Manifestation des absoluten, des radikalen Bösen bewußt geworden sind. Wie aber geht man mit diesem Ergebnis um? Die Deutschen, fordert Friedländer, müßten, obwohl sie inzwischen eine "normale" Gesellschaft geworden seien, "ihrer vollkommen unnormalen Vergangenheit auf außergewöhnliche Weise" gedenken. Womit er zugleich in die Mahnmal-Debatte eingreift. "Gebt der Erinnerung Namen", so lautet nicht nur der Titel von Friedländers Rede, sondern auch sein Vorschlag für das vieldiskutierte Mahnmal in Berlin Mitte: Eine Platte aus Stein oder Stahl sei mit den Namen von ermordeten Kindern zu gravieren, ergänzt durch die wenigen biographischen Daten, die für jedes von ihnen vorliegen mögen. Die Beschränkung auf Kinder sei dabei keineswegs als wohlfeiles Mittel für die Schürung von Emotionen gedacht, sondern als Anstoß für künftige Generationen, sich den Geschehnissen anhand ihrer extremsten Auswüchse zu nähern. "Könnte man sich nicht vorstellen", schreibt Friedländer, "daß eines Tages deutsche Kinder, die vor einer solchen Wand oder Platte stehenbleiben, sich fragten: Warum mußte dieses Kind im Alter von nur sieben Jahren sterben, warum dieses andere mit drei Jahren? Warum wurden diese Kinder von der Insel Rhodos abtransportiert, warum jene aus Norwegen, aus Warschau, aus fast allen Ländern Europas, aus Berlin, Düsseldorf, Köln oder München, um dann an weit entfernten Orten getötet zu werden? Wäre ein solches Mahnmal ein dauerhaftes 'Monument der nationalen Schande', oder würde es nicht vielmehr ... Stimmen, die Namen rufen, zum Klingen bringen?"

In seinem großen Geschichtswerk hat das Prinzip, der Erinnerung Namen zu geben, große Wirkung gezeigt. Der Vorschlag, es auf eine Gedenkstätte zu übertragen, sollte den Verantwortlichen zumindest zu denken geben, auch wenn die Ideen Friedländers nicht unbedingt neu sind. An der Tatsache nämlich, daß das ermordete Kind dauerhaft zum Symbol der deutsch-jüdischen Beziehungen geworden ist, läßt sich ohnehin nicht vorbeisehen.

Titelbild

Saul Friedländer: Das Dritte Reich und die Juden 1933-1939. Aus dem Englischen übersetzt von Martin Pfeiffer.
Verlag C.H.Beck, München 1998.
458 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-10: 3406448712

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Saul Friedländer / Jan Philipp Reemtsma: Gebt der Erinnerung Namen.
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 1998.
60 Seiten, 5,10 EUR.
ISBN-10: 3406421083
ISBN-13: 9783406421082

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Saul Friedländer: Wenn die Erinnerung kommt. Aus dem Französischen von Helgard Oestreich.
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 1998.
192 Seiten, 10,10 EUR.
ISBN-10: 3406420532
ISBN-13: 9783406420535

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