Studien zum wahren deutschen Gesellschaftsroman

Der „Tatort“-Krimi am Sonntagabend hat sich im Wochenkalender der Deutschen festgesetzt. Nun zieht das fast 50 Jahre alte Format auch das geballte Interesse der Wissenschaft auf sich

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine Anomalie im fragmentierten Markt des Medienkonsums ist zu konstatieren: An die 10 Millionen Zuschauer versammeln sich Sonntag für Sonntag vor dem heimischem Fernseher, um eine neue „Tatort“-Folge anzuschauen – wenn es denn einmal nur die Hälfte ist, wie beim jüngst gesendeten Schweizer „Tatort“, der anscheinend unter der sommerlichen Extremhitze zu leiden hatte, ist dies gleich eine vielfach kolportierte Meldung wert. Das 1970 erfundene Format, mit dem die ARD gegen die erfolgreichen Freitag-Krimis des ZDF („Der Alte“ und „Der Kommissar“) angehen wollte, hat sich zweifelsohne durchgesetzt und sich bislang nicht überlebt. Ganz im Gegenteil: Immer noch ist der „Tatort“ so etwas wie ein gesamtgesellschaftlicher Straßenfeger, ein Regeltermin, der für einen Großteil der Fernsehzuschauer verbindlich ist und der eine Reihe von Anpassungen an die modernen, angeblich ja so TV-feindlichen Zeiten generiert hat: von Public Viewing bis zur Echtzeitkommentierung auf Twitter.

Aber auch auf der inszenatorischen, der filmischen Seite hat sich der „Tatort“ gewandelt: „Was ist nur mit dem ‚Tatort‘ los?“, fragte sich etwa vor kurzem einer der Rezensenten, die in der FAZ allwöchentlich die kommende Folge besprechen, und hatte von einer höchst anregenden Entwicklung zu berichten. Was schon selbst wieder Tradition hat, gehört die „FAZ“ doch zu den eifrigsten und beständigsten Wegbegleitern des „Tatort“, wie Björn Lorenz zu berichten weiß (in „Föderalismus in Serie“).

Der „Tatort“ hat es sich demnach nicht in seinem Erfolg bequem gemacht, sondern erfindet sich derzeit einmal wieder neu, wie der bereits wieder abgesetzte neue Hamburger „Tatort“ mit dem verdeckten Ermittler Cenk Batu, der prominent besetzte Leipziger „Tatort“, dessen letzte Folge auch eben gesendet worden ist, oder der Dortmunder „Tatort“ zeigen. Harte Fälle, exzentrische Ermittler und rasant erzählte Geschichten zeichnen diese neuen „Tatort“-Folgen aus.

Dagegen anzugehen ist für die etablierten „Tatort“-Kommissare schwer. Der Münchener, der Kölner, der Münsteraner oder auch der Saarbrückener „Tatort“ erfreuen sich immer noch großer Beliebtheit und führen die entsprechenden Rankings an, aber sie bedienen eher das konservative „Tatort“-Klientel, das sich nur gelegentlich in unbekanntes Terrain zu wagen bereit ist – aber dazu haben die nun erschienenen wissenschaftlichen Studien ganz anderes beizutragen. Ihnen gelten gerade die Münchener, Kölner und Münsteraner „Tatort“-Sendungen als formale und ästhetische Experimentierfelder, in denen die Vereinbarkeit von Massenkompatibilität, öffentlich-rechtlichem Sendeauftrag, Qualitätsanspruch und Innovationszwang immer wieder aufs Neue ausgelotet werden muss. Mit unterschiedlichem Ergebnis und eben auch Erfolg, wie die extraordinären Berliner Glatzeder-„Tatorte“ zeigen, deren Schmuddelästhetik und bewusst dilettantische Aufmachung die Zuschauer und Programmverantwortlichen seinerzeit offensichtlich überforderten.

Wissenschaftliche Erschließung

In der Wissenschaft hat der „Tatort“ bis vor einiger Zeit allerdings eher ein Schattendasein geführt, was bei den Medien-, Kultur- und Literaturwissenschaften möglicherweise auch damit zu tun hat, dass der Gegenstand aus der Alltags- und Konsumkultur stammt, der im Kernbereich vor allem der Literaturwissenschaft nichts zu suchen hat. Zu wenig Tiefgang, zu wenig Kunst, zu wenig ästhetische Wahrnehmung. Krimi und Sonntags-TV auf einmal – als seriöser Forschungsgegenstand ist das höchstens ein Karrierekiller und kein zwingend zu erschließendes Forschungsfeld. Aber das hat sich geändert.

Am Anfang steht die „Tatort“-Forschung mithin zwar immer noch, wie im 2010 erschienenen, von Julika Griem und Sebastian Scholz herausgegebenen Sammelband über die topografischen Strukturen des „Tatort“-Formats vermerkt wird. Aber selbst die Beiträge dieses Bandes konnten bereits auf eine erkleckliche Zahl von Forschungsbeiträgen zurückgreifen. Die von Christian Hißnauer, Claudia Stockinger und Stefan Scherer verfasste, 2014 publizierte schwergewichtige „Tatort“-Monografie „Zwischen Serie und Werk“, die auf eine strukturierte Auswertung eines Großteils von Folgen zurückgreifen und so historische Entwicklungen angemessener und belastbarer nachvollziehen kann, verweist denn auch darauf, dass die Forschung seit Mitte der 1990er-Jahre verstärkt anzieht.

Der „Tatort“ wird mithin nicht nur seriös – er wird auch zum Objekt seriöser Forschung. Sein widersprüchlicher Charakter lässt sogar eine weit reichende kunsttheoretisch motivierte Diskussion zu, ob man es denn bei einem „Tatort“, einer „Tatort“-Serie oder dem „Tatort“ insgesamt tatsächlich mit einem „Werk“ zu tun hat oder mit dem Exponat einer Reihe. Dieser Frage widmen Hißnauer et al. 2014 in „Föderalismus in Serie“ sogar ein von Claudia Stockinger verfasstes Kapitel, das den „Tatort“ im Spannungsfeld von Hoch- und Populärkultur zu lokalisieren versucht, nicht ohne darauf hinzuweisen, dass die Hochkultur ihren exklusiven und extraordinären Charakter verliere. Die Lösung, die die Autoren vorschlagen, lässt sich ungefähr so zusammenfassen: Der „Tatort“ insgesamt ist eine Reihe (mithin ein Format mit seriellem Charakter). Die einzelnen vor allem durch die Ermittlerteams identifizierbaren und sich konstituierenden Folgen bilden innerhalb der Reihe eigene Serien aus. Jeder „Tatort“ selbst ist wiederum vor allem als Einzelwerk zu betrachten, das nur schwach mit den anderen Folgen der Reihe verbunden ist – eben fast nur durch die Ermittler und mittlerweile ausschließlichen Ermittlerteams. Übergreifende, die einzelnen Folgen verbindende Erzählbögen sind vor allem im Vergleich zu den US-amerikanischen Erfolgsserien (etwa „The Wire“, „Sopranos“, „Breaking Bad“ oder „Game of Thrones“) nur gering ausgeprägt. Der Vergleich zu diesen Serienformaten ist dennoch erhellend, um die formalen Besonderheiten dieses spezifisch deutschen Formats herauszustellen. Allerdings sind auch die Differenzen unübersehbar.

Dennoch haben beide Formate Teil an der spezifischen Attraktion von TV-basierten Narrationen, deren organisatorische Funktion im Alltag der Rezipienten, die Projektion, Reflexion und Diskussion moderner Problemlagen und Anforderungen in jüngerer Zeit verstärkt angesprochen worden ist, was wiederum zu ihrer Entlastungsfunktion führt. Ob, wie Moritz Baßler meint, im Rahmen des „ludischen Dispositivs“ die lebensweltlichen Bezüge weitgehend gekappt werden und die Serien nur noch als reine Simulationen fungieren (Baßler in „Zwischen Serie und Werk“), bleibt zu diskutieren. Allerdings lassen sich daran (wie etwa in „Zwischen Serie und Werk“ geschehen) durchaus Zweifel formulieren, nicht zuletzt deshalb, weil ein fiktionales Werk ohne Realitätsbezug (was immer das auch sein mag) nicht denkbar ist – die Attraktivität der Spielwelten, auf die sich Baßler bezieht, dementiert dies freilich nicht.

Dass der „Tatort“ überhaupt Aufmerksamkeit erregt, gliedert sich zudem in die seit einiger Zeit grassierende Rede von der Aufwertung serieller Formate als Gesellschaftsnarrative der Gegenwart ein: Sie seien es, die die Reflexion des Gesellschaftlichen in der Fiktion betrieben und eben vorantrieben und damit eine Funktion übernähmen, die der realistische Roman im 19. Jahrhundert innegehabt habe: die Diskussion gesellschaftlich relevanter Themen und biografischer Verläufe, die unter bestimmten Prämissen begonnen und durcherzählt werden. Experimentalanordnungen also, ganz im Brecht’schen Sinne.

Dies ist ein hoher Anspruch, und – keine Frage – ein genügend starker Anstoß, sich der seriellen Formate endlich ernsthaft zu widmen. Den Beiträgen der hier zu Rate gezogenen drei Publikationen der jüngeren Zeit ist freilich anzumerken, dass sie das Feld noch sondieren müssen – sicher aufgrund des immensen Materials, das zu sichten ist, aufgrund der historischen Dimension und der Vielzahl der Zugangsmöglichkeiten, die der „Tatort“ anbietet. Mit dem „Tatort“ ist also kein schnelles Ende zu machen, als Forschungsobjekt ist er noch äußerst frisch, wenngleich nicht unberührt.

Der wahre deutsche Gesellschaftsroman

Es bedurfte auch einer Reihe von inhaltlichen Anregungen, um den „Tatort“ als Forschungsgegenstand satisfaktionsfähig zu machen und vielleicht auch eines Generationswechsels in den Kultur-, Medien- und Literaturwissenschaften, mit dem eben auch andere Themen angegangen werden können. Eine dieser Anregungen geht auf Jochen Vogt zurück, der dem „Tatort“ in einem 2005 erschienenen Aufsatz eine dezidiert kulturtopografische Aufgabe zuwies, nämlich die Erschließung der Bundesrepublik und dann des wiedervereinigten Deutschlands durch die Topografie seiner „Tatort“-Standorte und die Erschließung historischer Verläufe durch die langjährige Geschichte des Formats. Der „Tatort“ sei, so Vogt bereits im Titel seines damaligen Beitrags, „der wahre deutsche Gesellschaftsroman“, schildere, reflektiere und archiviere er doch in seiner Gesamtheit die Geschichte der Bundesrepublik seit den 1970er-Jahren, und das in einem Maße, wie es keinem anderen Format möglich sei.

Die gelinge dem „Tatort“, eben weil die Reihe seit ihrem Beginn 1970 zu einer medialen Institution aufgestiegen ist, zu deren Eigenheit neben den Erstsendungen ein dichtes Netz von Wiederholungen gehört, die gleichfalls äußerst attraktiv sind. Der Einfluss des „Tatort“ auf die bundesdeutsche Mentalität und Alltagsreflexion ist als enorm hoch einzuschätzen. Der „Tatort“ nimmt so gesehen nicht nur gesellschaftliche Themen auf, er implementiert zugleich ein Portfolio von Haltungen, zu begrüßenden Handlungen und wünschenswerten Entscheidungen zurück in die Gesellschaft. Unter der Vorgabe einer offenen und toleranten Kultur ist dies sogar wünschenswert. Gefährlich wäre dies, wie zu bemerken ist, allerdings in geschlossenen und intoleranten Gesellschaften, deren mediale Politik andere Ziele verfolgen würde.

Gerade weil der „Tatort“, wie Hißnauer, Scherer und Stockinger (in „Föderalismus in Serie“), assistiert durch die Beiträge eines parallel erschienenen und von ihnen gleichfalls verantworteten Sammelbandes („Zwischen Serie und Werk“), immer wieder betonen, dem Qualitäts-, Bildungs- und Informationsanspruch der öffentlich-rechtlichen Medien verpflichtet ist, nehme er sich der gesellschaftlich relevanten Themen an und verarbeite sie im Krimi-Format, was allerdings selbst schon wieder zu Fragen Anlass gibt – die merkwürdigerweise in allen drei hier zu Rate gezogenen Bänden weder gestellt noch beantwortet werden.

Aber das hängt nicht zuletzt daran, dass sich zwar alle drei Bände intensiv mit formalen Aspekten auseinandersetzen, deren Relevanz diskutieren oder den historischen Verlauf der „Tatort“-Inszenierungen auswerten, aber sich vor allem mit Jochen Vogts Diktum des „wahren Gesellschaftsromans“ auseinandersetzen.

Dafür ist der Rekurs auf die föderale Struktur des „Tatort“ zentral, gerät damit doch das Netz der verschiedenen „Tatort“-Serien, die sich über das Gebiet der gesamten Bundesrepublik verteilen, in den Blick. Das ermöglicht und fordert zugleich eine Orientierung auf die jeweils lokalen Gegebenheiten, die die jeweiligen Serien voneinander unterscheidbar machen. Allerdings weisen alle Beiträger darauf hin, dass sich die Lokalisierung der Serien auf wenige, meist signifikante Klischees beschränkt (Dom zu Köln, die lokalen Sprachgewohnheiten oder konfessionelle Differenzen).

Ein urbanes Format

Der „Tatort“ ist ein beinahe durchgängig urbanes Phänomen, so der Konsens in den vorliegenden Bänden, wie zahlreiche Beiträge der Bände von Julika Griem und Sebastian Scholz und Hißnauer et al. („Zwischen Serie und Werk“) betonen. Wenige „Tatort“-Serien wie die Münsteraner und Konstanzer „Tatorte“, die in einer kleineren Stadt, oder der Hannoveraner „Tatort“, dessen Ermittlungen fast durchgängig in der ländlichen Umgebung Hannovers stattfinden, weichen davon ab. Auch den Wiener Kommissar treibt es immer wieder aufs Land. Und dennoch: Hamburg, Berlin, Leipzig, Köln, München, Dortmund, Frankfurt, Stuttgart, Wien – der „Tatort“ ist in der Tat ein urbanes Phänomen.

Die regionale Struktur des „Tatort“ – der in den Beiträgen teils als Serie, teils als Reihe firmiert – präge seine Raumstruktur entscheidend, wie die Beiträger unisono betonen, wobei dies durchaus unterschiedlich konnotiert wird. Zum einen ist auf den Umstand zu verweisen, dass die Schauplätze der „Tatort“-Folgen eng an die Standorte der Sendeanstalten gebunden sind. Davon gibt es zwar deutliche Abweichungen, wie die Essener, Münsteraner, Dortmunder oder Duisburger „Tatorte“ zeigen. Auch der SWR hat mit Stuttgart, Konstanz und Ludwigshafen Abweichungen zugelassen. Allerdings sind Drehorte und Schauplätze nicht notwendig identisch, worauf etwa der Beitrag des Szenenbildners Klaus-Peter Platten verweist (in „Tatort Stadt“), wenn er berichtet, dass die Kommissariate aller drei SWR-„Tatort“-Serien im selben Gebäude – in Baden Baden – eingerichtet wurden. Vergleichbares berichten auch andere Beiträger, etwa vom Kölner oder Münsteraner „Tatort“.

Regionale Struktur des „Tatort“ heißt also als Generallinie zwar einigermaßen banal, dass Standort der Sendeanstalt und Schauplatz der Folgen in Deckung gebracht werden – Köln, Hamburg, Berlin, Bremen, Frankfurt/M., Dresden/Leipzig, München und Stuttgart sind die offensichtlichen Prüfsteine dafür. Programmatische Gründe zwingen die Produzenten der Reihe allerdings dazu, die jeweiligen regionalen Standorte wiedererkennbar zu machen, mithin den immer wieder betonten „Realismus“ der Reihe und die „Authentizität“ der Folgen überhaupt erst herzustellen. Ein „schwieriges und paradoxes Verhältnis zwischen dem Bemühen um Authentizität einerseits und der Inszenierung von Lokalität andererseits“, nennt das Björn Bollhöfer in seinem Beitrag (in „Tatort Stadt“), zumal in vielen Fällen nicht dort gedreht wird, wo die Handlung spielt.

Dass beides, Realismus und Authentizität, in jedem Fall das Produkt aufwendiger Konstruktionen sind, bleibt dabei allerdings in den vorliegenden Studien insgesamt auffallend beiläufig. Stattdessen wird das Problem, dass über die Inszenierung die Nähe oder Ähnlichkeit zu den Schauplätzen überhaupt erst herzustellen ist, weil Drehort und Schauplatz räumlich auseinanderfallen, sehr viel stärker thematisiert.

Das Ergebnis ist allerdings, wie unter anderem Hißnauer et al. in „Föderalismus in Serie“ betonen, eher unauffällig: Ein großer Teil der Folgen kommt ohne eindeutige Zuweisungen aus, die weiterreichenden Lokalisierungen sind zumeist klischeehaft, während das Gros der Handlungskontexte weitgehend austauschbar bleibt. Die Zuschauer, denen das grundsätzlich bekannt ist oder denen Zuordnungsfehler auffallen, scheinen damit aber recht souverän umzugehen. Die „Wurstbraterei“ in Köln, die eigentlich ein Büdchen sein müsste, und dann noch auf der Deutzer Seite des Rheins? Nee. Das Altersheim in Erkelenz, das in einem der Schimanskis aufgesucht wurde, mag irgendwo gestanden haben, aber nicht in Erkelenz. Und so weiter. Sogar dass der Drehort der Pathologie des Münsteraner und Kölner „Tatorts“ dieselbe ist, worauf Hißnauer et al. in „Föderalismus in Serie“ hinweisen, stört niemanden. Warum auch, bliebe zu fragen.

Dennoch arbeiten die „Tatort“-Folgen intensiv am Bild der jeweiligen Lokalitäten mit, die sich die Rezipienten machen. Das ubiquitäre München-Bild ist nicht zuletzt das des „Tatort“-Münchens, dasjenige Kölns, Münsters, Duisburgs et cetera ebenso. Gerade die entsetzten Reaktionen, die die ersten Schimanski-Folgen bei der lokalen Politik hervorriefen, die einen massiven Imageverlust Duisburgs befürchteten (siehe Hißnauer in „Föderalismus in Serie“ und „Tatort Stadt“), zeugen davon, dass allen Beteiligten die Wirkung des „Tatort“ als prominentes TV-Format durchaus bewusst war und ist. Dass es sich bei diesen Reaktionen um Fehleinschätzungen handelt, die mittlerweile korrigiert wurden, spielt dabei keine Rolle. Mittlerweile hat sich Duisburg gar eine Horst-Schimanski-Gasse gegönnt und wird wohl das Ende Schimanskis, der schließlich den „Tatort“ der 1980er-Jahre dominierte, immer noch bedauern.

Cliffhanger als Retter realistischer Erzählformen

Ebenso bemerkenswert ist die Realismus-Forderung, die bereits der „Tatort“-Erfinder Gunther Witte der Reihe ins Konzept schrieb und die in der Rezeption eine immer wiederkehrende Rolle spielt. Sie stammt, wie Hißnauer (in „Zwischen Serie und Werk“) zeigt, zu einem guten Teil aus der dokumentarischen Tradition, die den deutschen TV-Krimi der Vor-„Tatort“-Zeit prägte (die „Stahlnetz“-Reihe ist hier vor allem zu nennen) und gehorcht den Darstellungskonventionen im bundesdeutschen Mainstream-Fernsehen.

Die nähere Anamnese, die Hißnauer et al. in „Föderalismus in Serie“ unternehmen, weist allerdings ein ganzes Spektrum ästhetischer Formen und Experimente nach, die in der „Tatort“-Geschichte umgesetzt worden sind. War das Format zu Beginn stark vom Dokumentarfilm der 1960er-Jahre und seiner subjektiven Kamera geprägt, verlagerte sich der Fokus in den 1980er-Jahren zum subjektiven Protagonisten. Hißnauer et al. („Föderalismus in Serie“) betonen zudem die formalen Experimente der 1990er-Jahre vor allem im bayrischen „Tatort“. Sie schließen sich zudem der Wertschätzung der als selbstreflexiv charakterisierten Münster-„Tatorte“ an, die etwa Andreas Blödorn und Thomas Klein (beide in „Zwischen Serie und Werk“) besonders hervorheben.

Moritz Baßler (in „Zwischen Serie und Werk“) gibt freilich zu bedenken, dass die realistischen Formen selbst wieder weiterentwickelt wurden und heute Elemente des avantgardistischen Erzählens berücksichtigen. Allerdings tun sie dies in Anlehnung an filmische Short Cuts oder Cliffhanger-Praktiken. Mehrere formal realistische Erzählstränge werden zerschlagen und neu kombiniert, so dass die Rezeption die Erzählstränge, die – wie in Serien wie „Game of Thrones“ – zum Teil auch größere Handlungslücken enthalten können, selbst rekonstruieren müssen (was freilich als eigenes Vergnügen gelten kann). Die Komplexitätszunahme wird dabei allein über die Zahl der Erzählstränge, deren Vernetzung und die Handlungslücken erzielt, was sich deutlich von den Techniken avantgardistischer Formen unterscheidet. Baßler sieht zudem eine Schwächung der Narration zugunsten der „bewohnbaren Diegese“ – die Rezipienten richten sich mithin überall dort ein, wo es ihnen einigermaßen interessant erscheint.

Stefan Scherer und Claudia Stockinger haben den Realismus des „Tatort“ hingegen in ihrem Beitrag im Sammelband „Tatort Stadt“  in verschiedene Formen aufgegliedert, die als Raumangebote zu verstehen seien und auf verschiedenen Ebenen den Effekt des Realistischen erzeugten, eben als Realismus des Lokalen, des Globalen, der Vernetzung, des Ländlichen und des Romantischen. Sie skizzieren damit ein Spektrum von Verfahren, mit denen sich der immer wieder kolportierte realistische Effekt herstellen lässt.

Heinze (in „Zwischen Serie und Werk“) betont freilich die generelle Anschlussfähigkeit, die der „Tatort“ für seine Zuschauer aufweist. Er habe es in all seinen Phasen ermöglicht, wenn nicht Aussagen über Welt zu treffen, so doch wenigstens mediale und reale Erfahrung miteinander zu verknüpfen. Dabei sei allerdings nicht „Wahrheit“, sondern „Kongruenz“ relevant, um die Anschlussfähigkeit zu ermöglichen.

Das ist insofern relevant, als im Band „Zwischen Serie und Werk“ – aber auch bei anderen Beiträgen – der öffentlich-rechtliche Bildungsauftrag betont wird, der auch das Konzept und die Umsetzung des „Tatort“ bestimmt habe. Hendrik Buhl (in „Zwischen Serie und Werk“) sieht den „Tatort“ denn auch als Teil des in den Medien favorisierten „Politainment“, das Welt- und Verständigungsangebote für seine Rezipienten formuliere, die mehrheitsfähig sind.

Dass dies fragwürdig ist, darauf verweist Dennis Gräf (in „Zwischen Serie und Werk“), der die konservative, autochthone Ausrichtung der bayrischen „Tatort“-Folgen moniert. Dass er zugleich die mangelnde spezifische Medienkompetenz der Zuschauer kritisiert, die in ihren Reaktionen diese Wahrnehmung nicht stützen, stellt freilich auch den Ansatz Gräfs seinerseits infrage, ignoriert er doch das spezifische Profil der Rezeption, die nicht belehrt, sondern verstanden werden muss.

Die thematische Vielfalt des „Tatort“, der in seiner Geschichte durchgängig Fragestellungen und Themen, die im historischen Umfeld virulent waren, aufgenommen und erzählerisch verarbeitet hat, ist allen Beiträgern bewusst, wenngleich Hißnauer et al. in „Föderalismus in Serie“ darauf verweisen, dass im engeren Sinn politische Themen und soziale Problemlagen, aber auch das Thema Religion, dem ein eigenes Kapitel gewidmet ist, eher selten angesprochen, das heißt zum Gegenstand der Folgen gemacht werden. Das allerdings mag daran liegen, dass der Politikbegriff, den die Autoren hier anwenden, eher eng gefasst zu sein scheint.

Nicht gestellte Fragen

Auffallend sind allerdings die Fragen, die in den Bänden nicht gestellt werden. Dass mit dem „Tatort“ ein Krimi-Format in eine derart prominente Position gerät, scheint den Beiträgern keine gesonderte oder eingehende Untersuchung wert. Zwar verweisen etwa Hißnauer et al. in „Föderalismus in Serie“ darauf, dass „Tatort“-Folgen in der Regel einem Verlaufsmodell folgt, das sich in die Schritte Tat – Untersuchung – Aufdeckung – Bestrafung aufgliedern lässt und das sich anscheinend gegen eine offene Inszenierung durchgesetzt hat. So müssen die Täter im „Tatort“ vorwiegend entlarvt werden – und sei es durch einen Schlussmonolog, in dem sie alles zu gestehen haben (wozu kein Strafverteidiger raten wird). Auch können sie  nachweisen, dass die Quote der Opfer pro Folge sich im Laufe der „Tatort“-Geschichte erhöht hat.

Stephan Völlmicke (in „Zwischen Serie und Werk“) verweist zudem darauf, dass die Häufigkeit, in der Leichen in den Folgen zu sehen sind, im Lauf der „Tatort“-Geschichte zunehme. Auch werde die Darstellung drastischer und extremer. Er begründet dies jedoch nicht mit Entwicklungen im Krimigenre, sondern mit Verdrängungseffekten in den Industriegesellschaften.

Nun mag das – frei nach Aries – als common sense ja funktionieren, und Völlmickes Argumentation ist in sich sogar schlüssig. Dennoch wirkt der Verzicht auf jegliche Bezugnahme zu den im Genre zu beobachtenden Langzeittrends einigermaßen irritierend. Das aber trifft auf die vorliegenden Studien insgesamt zu.

Zwar beschäftigt sich Hißnauer (in „Zwischen Serie und Werk“) intensiv mit der Vorgeschichte des „Tatort“, dessen Konzept er in den Vorabendserien der öffentlich-rechtlichen Sender vorgeformt sieht. In der gemeinsamen Monografie fügt er dem sogar noch einen Beitrag hinzu, in dem er die Einbettung des „Tatort“ in die Fernsehlandschaft der Bundesrepublik skizziert. Die Bezüge zur Krimientwicklung im Ganzen werden jedoch nicht aufgearbeitet, wenngleich auf Krimi-Formate und hier insbesondere auf die CSI-Serien verwiesen wird.

Die Integration wissenschaftlicher oder technischer Untersuchungsverfahren – zu denen es in der realen Welt jüngst noch einen heftigen Skandal gegeben hat, da sich in US-amerikanischen Verfahren Urteile auf zweifelhafte und nicht belastbare, jedoch als wissenschaftlich apostrophierte Verfahren gestützt haben – hat ihren Reflex im „Tatort“, wenngleich sie nicht jene Bedeutung haben, die ihnen in den US-amerikanischen Crime Scene Investigation-Serien zugeschrieben wird. Die Pathologen rücken in den Vordergrund und der eine oder andere Kriminaltechniker hat gleichfalls einen Auftritt, wie Völlmicke und Hißnauer betonen.

Die Frage, worauf die Erfolge dieser Nerd-Serien zurückgehen und in welchem Verhältnis dies zu den Verfahren der „Tatort“-Ermittler steht, bleibt offen. Das wäre aber insofern aufschlussreich, als sich der „Tatort“ (trotz Börne) den kriminaltechnischen Verfahren weitgehend verweigert und vorwiegend auf eine konventionelle Ermittlung setzt. Knapp gesagt konstituieren diese CSI-Serien ein – im Krimi-Genre schon lange, nämlich seit Sherlock Holmes selig präsentes – heuristisches Verfahren, das immerhin so etwas wie Erkenntnissicherheit signalisiert. „Es ist alles hier“, meint der Protagonist von CSI Miami, Horatio Caruso, in der ersten Folge, und schränkt damit die Ermittlung auf den „Tatort“ und dessen Ausstattung ein. Weiche Faktoren wie soziales oder individuelles Handeln werden damit aus dem Ermittlungsverfahren ausgeschlossen, was etwa bei Michael Andreas (in „Tatort Stadt“), der auf CSI-Serien Bezug nimmt, völlig vernachlässigt wird. Das auch im „Tatort“ ansonsten weitgehend favorisierte hermeneutische Verfahren, das Informationen sammelt und nach Motiven und Gelegenheiten sucht, sieht im Vergleich dazu naheliegend schwach aus. Es kann sich eben nicht auf Fakten stützen.

Zudem ist die Popularität des Krimi-Genres in Deutschland, das auch den „Tatort“ mitträgt, selbst wieder zu befragen, übersteigt die Zahl der jährlichen Krimi-Morde doch bei weitem die der realen Fälle in der Bundesrepublik, die zudem seit Jahren sinken. Eine friedliche Zivilgesellschaft, die sich Entlastung im symbolischen und imaginierten Mord sucht? Wir wälzen uns im Blut unserer Opfer, aber sie sind alle fiktiv?

Hinzu kommen schließlich Fragen, die aus der Differenzierung von Rechtssystem und Gerechtigkeit stammen. Die vorliegenden Studien nehmen diese Differenz freilich nicht einmal wahr, und führen die Täter – soweit möglich – lediglich der gerechten Strafe zu, wie es gelegentlich heißt. Dass dabei allerdings keine Rücksichten mehr auf ein legales Verfahren genommen wird, spielt dabei keine Rolle. Ohne eine systematische Anamnese des Feldes leisten zu können, scheint es doch immerhin so zu sein, dass sich auch im „Tatort“ das Vergeltungs- oder Racheprinzip mehr und mehr durchsetzt, Täter also nicht einem gerichtlichen Verfahren ausgesetzt werden, sondern direkt gerichtet werden, von Angehörigen der Opfer ebenso wie von den Ermittlern selbst. Tote Täter als gute Täter? Immerhin wäre das ein signifikanter Kurzschluss. Nicht einmal in dem von Claudia Stockinger verantworteten Kapitel zur Behandlung der Religion im „Tatort“ (in „Föderalismus in Serie“), der immerhin gelegentlich auf die Dichotomie moralischer Urteile anspielt, findet sich eine Problematisierung dieses Themas.

Allerdings scheinen diese Leerstellen im Forschungsinteresse der Beteiligten begründet zu sein, die nicht am „Tatort“ als Krimi-Genre, sondern als mediales und gesellschaftliches Phänomen interessiert waren, mithin an der Frage also, ob der „Tatort“ tatsächlich der „wahre deutsche Gesellschaftsroman“ ist (siehe oben). Was zugleich nichts anderes heißt, als dass der „Tatort“-Forschung gleich weitere Themen nahegelegt werden können, die der Behandlung harren, wenn das Phänomen adäquat verstanden werden soll.

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Julika Griem / Sebastian Scholz (Hg.): Tatort Stadt. Mediale Topographien eines Fernsehklassikers.
Campus Verlag, Frankfurt a. M., New York 2010.
329 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-13: 9783593391632

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Christian Hißnauer / Stefan Scherer / Claudia Stockinger: Föderalismus in Serie. Die Einheit der ARD-Reihe Tatort im historischen Verlauf.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2014.
594 Seiten, 59,00 EUR.
ISBN-13: 9783770556618

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Stefan Scherer / Claudia Stockinger / Christian Hißnauer (Hg.): Zwischen Serie und Werk. Fernseh- und Gesellschaftsgeschichte im „Tatort“.
Transcript Verlag, Bielefeld 2014.
411 Seiten, 33,99 EUR.
ISBN-13: 9783837624595

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