Interpretation und die Geheimnisse der Schrift

Christian Walt untersucht in „Improvisation und Interpretation“ Robert Walsers berühmte Mikrogramme

Von Kay WolfingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kay Wolfinger

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Immer wieder erscheinen neue Forschungsarbeiten zum Werk des schweizerischen Schriftstellers Robert Walser, die glücklicherweise dem Verständnis seines Werkes weitere Facetten hinzufügen und dadurch auch belegen, dass der Weg Walsers aus der Peripherie hinein ins Zentrum des literarischen und literaturwissenschaftlichen Interesses noch nicht abgeschlossen ist. Auch Christian Walts bei Wolfram Groddeck und Karl Wagner abgelegte Dissertation, die nun im Stroemfeld Verlag als sehr schön gesetztes, fadengebundenes Buch erschienen ist, ist solch ein Glücksfall. Gewiss ist es kaum verwunderlich, dass es Christian Walt, als langjähriger Mitarbeiter bei der Kritischen Robert Walser-Ausgabe in Basel und profunder Kenner der Verzweigungen des Walser’schen Werkes, vermag, aus dem Vollen zu schöpfen und den Leser so immer wieder mit tiefgehenden Erkenntnissen zu überraschen. Es geht ihm um Walsers über viele Jahre hinweg praktiziertes Schreibverfahren, schriftstellerische Entwürfe zuerst in millimetergroßer Bleistiftschrift zu verfassen, die er anschließend mit der Stahlfeder ins Reine übertrug. Im Grunde genommen entwirft Walt eine große Einführung in die komplexe Welt von Walsers Bleistiftschreibsystem und führt durch eine Auswahl an Mikrogrammpapieren, an denen die Effekte vom Lese- oder Entzifferungsversuch von Schrift besonders augenfällig werden. Walts Buch ist eine Anleitung dafür, wie Walsers Mikrogramme gelesen werden wollen.

Walts Arbeit bietet gerade daher dem Kenner eine Vielzahl an Lesefrüchten. Am Beispiel des Mikrogrammblatts 482 etwa gelingt es ihm sehr überzeugend, die Spur einer kontextuellen Verzahnung von Walsers Schreiben zu folgen und den hohen Grad seiner Konzeptionalität aufzuzeigen. Walsers Literatur speist sich auch aus der Aneignung von Material, das der Autor sich angelesen hat. Ein auf diesem Mikrogrammblatt entworfenes Sonett, das auf Walsers Monolog „Der Wilddieb“ anspielt, demonstriert laut Walt implizit die unrechtmäßige Aneignung des Fremden bei Walser, das Plagiierende, „den schmalen Grat zwischen Plagiat und künstlerischer Freiheit im Bezug auf verwendetes fremdes Material“. Aber wie konzeptionell war Walsers Schreiben? Ist er nicht auch ein Autor des Schreibimpulses, des Drauflosschreibens, der ganz geöffnet ist für die Textgenese, bei der sich das Konzeptionelle erst im Zug des Aufschreibens entfaltet und selten vorher? Eine andere Lesefrucht findet sich in Walts Analyse von Walsers seltsamem Prosastück „Ottilie Wildermuth“, das nach der einst bekannten Autorin benannt ist und wie eine undurchschaubare Ansammlung von miteinander nicht zusammenhängenden Sätzen wirkt. Doch Walt vermag tatsächlich Abschnitt für Abschnitt an den zeithistorischen Kontext zurückzubinden. Dies kommt für den Leser einem Aha-Erlebnis gleich. Walt entrollt die Kontextualität von Walsers Zeitungslektüre, indem er zeigt, wie sich beispielsweise tagesaktuelle Meldungen im Wortmaterial des Prosastücks wiederfinden, und kann bei seinen Funden und bisher nicht publizierten Manuskripten auf einen reichen Materialfundus zurückgreifen. Auch die Untersuchung von Walsers „Tagebuchfragment“, einem Text, der nur wenig gelesen und doch sehr vielschichtig ist, erscheint – indem sie sich an verschiedenen Quellen und Grundlagentexten bedient – als einsichtsvoll und innovativ. Dabei geht Walt sowohl auf das ewige Rätsel des „Theodor-Romans“ ein, kann aber auch dem Prosastück „Der Goldfabrikant und sein Gehilfe“ neue Prätexte hinzufügen und Walsers Verhältnis zum Autor Jakob Wassermann schlüssig klären, von dem sich der Autor wohl deutlich abgrenzen wollte.

Insgesamt vollzieht „Improvisation und Interpretation“ einen systematischen Durchgang durch Walsers mikrographisches Schreiben; diesem Kosmos widmet sich Christian Walt in den Kapiteln zur „Schriftgröße“, zum „Zweistufige[n] Schreibverfahren“, zum „Beginn der Mikrographie“, zum „Verhältnis von Mikrogramm und Abschrift“, zu „Kalligraphie“, „Schreibgeschwindigkeit“, „Bild und Schrift“ et cetera. Mustergültig entwirft er so eine Grundcharakteristik der 526 von Walser mit seiner millimetergroßen Bleistiftschrift beschrifteten Manuskriptzettel. Walt bindet seine Arbeit an das seinerseits in einer langen Forschungstradition begründete und von ihm gründlich vorgestellte Konzept der Improvisation zurück. Dieses Großkapitel „Improvisation und Interpretation“ gab der Dissertation auch ihren Namen, obwohl die Auswahl der besprochenen Walser-Arbeiten sich nicht immer vollständig unter dieses Konzept fügen will, denn zugleich ist die Studie auch ein Aus-dem-Nähkästchen-Plaudern des Mikrogramm-Kenners, bei der auch andere Beispiele möglich gewesen wären.

Zur infrage stehenden Lesbarkeit der Mikrogramme stellt Walt fest: „Nacherzählbare Handlungen finden sich in ihnen selten, was den Gegenstand der Texte bildet, bleibt oft dunkel.“ Dabei ist umgekehrt nicht zu übersehen, wie sehr der Verfasser bestrebt ist, Wildwuchs der Forschung einzudämmen und manche bestehenden Sichtweisen in Bezug auf Walser zu korrigieren. So entbehren seiner Ansicht nach pauschal postulierte qualitative Unterscheidungen zwischen ‚abgeschriebenen‘, also von Walser als fertig betrachteten, und ‚nicht abgeschriebenen’ Mikrogrammtexten, die in der Germanistik mit allerlei Bedeutung aufgeladen wurden, meist einer sicheren faktischen Grundlage und seien dementsprechend mit Vorsicht zu gebrauchen. Teils sehr vehement versucht Walt, manche Behauptung aus der bisherigen Walser-Forschung zurechtzurücken. Zwar mag die Aussage, Walser habe seine Mikrogramme auch auf Servietten geschrieben, faktisch falsch sein, aber liegt in der Möglichkeit des Bildes, in der Heuristik dieser behaupteten Tatsache nicht doch etwas Wahres?

Walt schreibt weiter: „Ebenso entsteht der Eindruck, die Mikrogramme seien tatsächlich so etwas wie ein rein privates Experimentierfeld gewesen, aus dem nichts in die Öffentlichkeit der Publikation herausdrang.“ Tatsächlich geht es Walt darum, dieses Bild zu korrigieren und die Walser’sche Schreibökonomie in seinen Mikrogrammen herauszustellen. Aber verdeckt nicht zum Teil das Bemühen, Walsers Schreibpraxis adäquat wahrzunehmen, seine gewisse Skurrilität, sozusagen das Geheimnis seines Lebens und Schreibens, dem wissenschaftlich nicht beizukommen ist? Vielleicht ist dieses rational unergründliche Mysterium das, was W. G. Sebald mit der Feststellung meinte, Walsers Werk eigne sich wie selten eines zum Dissertieren und schlage einem schon beim Ansetzen die Werkzeuge aus der Hand.

Dessen ungeachtet lässt sich – auch dies ist eine Erkenntnis aus Walts Forschungen – eine innere Logik im Schreibsystem Robert Walsers ausmachen: „Der Reiz des Kleinen, Speziellen und Einmaligen scheint die Tatsache zu verdecken, dass es sich bei Walsers Kleinstkurrentschrift um eine professionalisierte, über Jahrzehnte praktizierte und prinzipiell lesbare Handschrift handelt.“ Walt ist um einen realistischen Blick bemüht. Mit dieser Art von Demystifikation, wie Werner Morlang es einmal genannt hat, geht jedoch, so muss man hinzufügen, auch eine Remystifikation in der Walser-Forschung einher, die das scheinbar entzauberte Geheimnis in eine neue Aura zu kleiden vermag. Dies gilt insbesondere auch in Bezug auf die Textebene des mikrographischen Schreibens: Irgendwie hat es seine kausale Nachvollziehbarkeit und bleibt dennoch magisch, ist durch verstehendes Interpretieren nicht einzuholen. Am Ende bleibt die reine Lust an Walsers Welt, etwas, das Susan Sontag schon in „Against Interpretation“ gefordert hatte. Dies ist schließlich auch eine der Erkenntnisse, die sich aus den vielen beeindruckenden Ergebnissen von Walts Dissertationsschrift ergeben: Es gibt viele interpretative Zugangsweisen zu Walsers Werk und ebenso viele Kontexte, wie es Interpreten gibt.

Titelbild

Christian Walt: Improvisation und Interpretation. Robert Walsers Mikrogramme lesen.
Stroemfeld Verlag, Frankfurt a. M. 2014.
278 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783866001909

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