Die Welt im Miniaturformat

Ingo F. Walther und Norbert Wolf haben die schönsten Handschriften des Mittelalters zusammengestellt

Von Patrick MenselRSS-Newsfeed neuer Artikel von Patrick Mensel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer kennt nicht die berühmten Handschriften des Mittelalters, wie das Book of Kells, die Très Riches Heures du Duc de Berry oder das Stundenbuch des Herzogs von Bedford? Mit den klangvollen Namen ihrer Auftraggeber verbinden Interessierte den Zenit der abendländischen Buchkunst. In der erneuten Auflage des zuerst im Jahr 2001 publizierten „Codices Illustres“ des Taschen Verlages wird der Versuch unternommen, 167 der kunstvollsten und bekanntesten Handschriften des Mittelalters zu präsentieren. Einst waren sie im Besitz der mächtigsten Herrscherdynastien. Heute werden sie gut abgeschirmt in Nationalarchiven oder Privatsammlungen aufbewahrt. Wer also einen fundierten Überblick über mittelalterliche Handschriften sucht, sollte sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen. Jedes Werk wird mit einigen repräsentativen Illustrationen und einer kurzen Beschreibung vorgestellt, die zudem mit Anekdoten und Hintergrundgeschichten zu überzeugen weiß.

Aus den vorgestellten Handschriften sind vor allem die Très Riches Heures du Duc de Berry und das Stundenbuch des Herzogs von Bedford hervorzuheben, gelten sie doch beide als Exempla für die Perfektion gotischer Buchmalerei.

Unter Kennern ist der Herzog Jean de Berry ein Synonym für Buch- und Kunstliebhaberei. Er häufte einen wahrhaftigen Bücherschatz an, indem er entweder als Auftraggeber für außergewöhnliche Bilderhandschriften oder als unermüdlicher Käufer tätig wurde. Seine Bilanz sind 300 Handschriften. Dabei ist es weniger die Anzahl als die Qualität, die seine Bibliothek ausgezeichnet hat. Sein wohl bekanntestes Stück lässt die Herzen von Bibliophilen noch heute höher schlagen: Les Très Riches Heures du Duc de Berry (Das Stundenbuch des Herzogs von Berry). Es gilt als berühmteste illustrierte Handschrift des französischen Mittelalters. Der zwischen 1410 und 1485 entstandene Codex wurde von wahren Meistern ihres Faches angefertigt: den Brüdern Limburg und Jean Colombe. Allerdings stand die Erstellung des Werkes unter keinem guten Stern. Ein Schatten fiel erstmals auf das Projekt, als 1416 der Herzog Jean de Berry verstarb. Im selben Jahr erlagen die drei Brüder Paul, Johan und Herman Limburg einer Seuche. Die Arbeit wurde eingestellt. Unvollständig und ungebunden trat das Stundenbuch seine Odyssee über mehrere Besitzer an, um schließlich als Erbstück in das Eigentum von Herzog Karl I. zu fallen. Unter ihm gelang die Vollendung des Werkes durch Jean Colombe. Die nächsten Aufbewahrungsorte des Buchs sind unbekannt. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts finden sich neue Hinweise auf seinen Verbleib. Von Italien aus gelangte es wieder nach Frankreich, wo es bis zum heutigen Tag als Geschenk des Herzogs von Aumale an das Institut de France im Schloss Chantilly aufbewahrt wird.

In „Codices Illustres“ werden einige Kalenderblätter vorgestellt, nebst einem kurzen Abriss der Geschichte des Stundenbuchs. Interessierte werden einen kleinen Überblick gewinnen können, bei dem auch schwer zu erhaltende Informationen, wie beispielsweise der Kaufpreis, nicht ausgespart werden.

Im Anschluss wird das nicht minder bekannte Stundenbuch des Herzogs von Bedford vorgestellt. Die Betitelung „Stundenbuch des Herzogs von Bedford“ ist auf John of Lancaster, dem Herzog von Bedford, zurückzuführen, der früher für den Auftraggeber des Codex gehalten wurde. Außergewöhnlich an diesem Werk ist bereits der Umfang: 578 Seiten sind für eine Bilderhandschrift immens. Aber auch die Verwendung von Gold auf jeder Seite macht das Stundenbuch einzigartig. Jede Seite – gleich ob Text oder Bild – wird in einen goldenen, aus kunstvollen Blättern, Blüten und Tieren bestehenden Rahmen eingelassen. Die 38 großformatigen Miniaturbilder sind sehr bekannt und einige von ihnen gehören zu den am meisten abgedruckten Motiven aus dem 15. Jahrhundert. So ist der Turmbau zu Babel wohl eines der illustren Beweise für die Genialität der gotischen Buchkunst. Leider ist über die Identität des Malers nichts überliefert. Der Bedford-Meister – wie er genannt wird – war ein französischer Buchmaler in Paris, dessen Schaffensperiode in die erste Hälfte des 15. Jahrhunderts datiert wird. Die Mehrheit der Miniaturen stammt aus seinem eigenen Pinsel. Für ein Vierteljahrhundert gilt der Bedford-Meister als wirkmächtigster Buchmaler Europas.

Offensichtlich sind die großen Parallelen zu den Brüdern Limburg in der Ausführung der Illuminationen. Die Nähe zu ihrer Kunst ist omnipräsent, doch schafft es der Bedford-Meister auch eigene Stilelemente gekonnt einzubauen. Das perspektivische Zeichnen ist ihm ein wichtiger Aspekt gewesen. Die zentralperspektivische Konstruktion zieht sich wie ein Leitfaden durch das Werk. Größenverringerung und Verkürzung nebst Schattierung verleihen den Bildern einen Anschein von Plastizität. Landschaften und Gebäude erhalten tiefenräumliche Wirkung. Die gekonnte Arbeit mit Fluchtlinien gibt den Miniaturen einen besonderen Reiz. Aber auch die Personendarstellung, die in ihrem Detailreichtum fast keine Grenzen zu kennen scheint, erreicht neue Höhenflüge.

Die wertvollsten und schönsten Handschriften des Mittelalters wurden selten so kunstvoll zusammengetragen wie in „Codices Illustres“. Wer an einer umfassenden Übersicht der bekanntesten Werke der Buchmalerei interessiert ist, einen Einstieg in die Materie finden oder einfach nur einen ersten Eindruck gewinnen möchte, wird mit diesem Band alles richtig machen.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Ingo F. Walther / Norbert Wolf (Hg.): Codices illustres. Die schönsten illuminierten Handschriften der Welt 400 bis 1600.
Taschen Verlag, Köln 2014.
504 Seiten, 29,99 EUR.
ISBN-13: 9783836553766

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