Das Werden einer Künstlerin

In ihrem neuen Buch schildert Alexandra Harris das Leben von Virginia Woolf gleichsam im Zeitraffer und gewährt dabei einen Blick in die Werkstatt der Schriftstellerin

Von Paula BöndelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Paula Böndel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

An Büchern, die sich mit Leben und Werk von Virginia Woolf beschäftigen, mangelt es nicht. Schon zu ihren Lebzeiten wurde mit den ersten Arbeiten begonnen. Ihr Neffe Quentin Bell schrieb 30 Jahre nach ihrem Tod ein zweibändiges Werk über seine berühmte Tante, das 1972 bei Hogarth Press erschien. Aus der Fülle an Studien, die in den letzten Jahrzehnten veröffentlicht wurden, ragt die von Hermione Lee hervor: 1996 publizierte die Professorin für Englische Literatur eine umfassende und facettenreiche Biographie von Virginia Woolf, die bis heute als Grundlage für alle weitere Beschäftigung mit Leben und Werk der Schriftstellerin erachtet wird. Lee hat nicht nur ein wissenschaftlich fundiertes und mit stilistischem Glanz verfasstes Werk geschaffen, darüber hinaus trug sie mit ihrer kritischen Haltung dazu bei, dass manche Klischees aufgegeben werden mussten und ein differenzierteres, nuancierteres Bild von Virginia Woolf entstand.

Alexandra Harris, deren Woolf-Biographie 2011 in London und vor kurzem in deutscher Übersetzung erschien, ist sich der Vor- und Nachteile dieser Ausgangssituation durchaus bewusst. So würdigt sie in ihrem Vorwort Lees umfangreiches Werk als eine unverzichtbare Quelle, die ihr Bild von Virginia Woolf sehr früh und nachhaltig geprägt hat. Ihre eigene „kurze Studie“ soll „ein Einstieg für alle sein, die sich noch nicht mit Woolf beschäftigt haben, und eine Anregung, mehr von ihr zu lesen“. Die mit der Materie schon vertrauten Leser hofft Harris zu neuen Betrachtungsweisen anzuregen.

In zehn Kapiteln, denen ein Vorwort vorangestellt ist, schildert Alexandra Harris das Leben von Virginia Woolf, von ihrer Geburt 1882 in London bis zu ihrem Selbstmord 1941 in Sussex. Ein Nachwort informiert über die postume Herausgabe ihrer nachgelassenen Schriften sowie über einige Schwerpunkte, die sich in der literaturwissenschaftlichen Forschung herausgebildet haben, zu denen auch die kontrovers diskutierten feministischen und psychoanalytischen Interpretationen gehören. Weiterhin werden einzelne Werke skizziert, die von ihrem Leben und Schaffen inspiriert wurden.

Virginia Woolf wuchs in einer Art kultureller Treibhausatmosphäre eines viktorianischen Haushalts der oberen Mittelschicht auf, der von einer streng patriarchalischen Struktur geprägt war. Von acht Kindern, zu denen vier Halbgeschwister gehörten, war sie die zweitjüngste. Bezeichnend für die Viktorianische Ära erhielt sie keine formale Schulbildung, entwickelte sich dennoch bereits in jungen Jahren zu einer begeisterten Leserin. In diese Zeit fielen auch ihre ersten Schreibversuche. Ein einschneidendes Erlebnis war der frühe Tod ihrer Mutter; es folgten erste Anzeichen einer psychischen Krankheit, die ihr Leben phasenweise bis zu ihrem Freitod begleitete.

Tod und Krankheit sind bestimmende Elemente im Leben Virginia Woolfs gewesen. Nach dem Tod ihrer Halbschwester Stella, die gleichsam eine Mutterrolle für Virginia und ihre Schwester Vanessa übernommen hatte, kam es im Elternhaus zu sexuellen Übergriffen seitens ihres Halbbruders George. 1906 starb ihr älterer Bruder Thoby. Der Tod ihres Vaters Leslie Stephen – Historiker, Literat und Herausgeber der Dictionary of National Biography – zwei Jahre zuvor löste bei ihr eine schwere psychische Krise aus, befreite sie aber von der patriarchalischen Dominanz, die sie nach eigener Ansicht am Leben und Schreiben gehindert habe. „Es war die Erlösung“, schreibt Harris, „die es ihr möglich machte, ein eigenes Leben zu führen, aber beinahe wäre sie daran gestorben“.

Alexandra Harris nähert sich diesen Themen auf sachliche Weise. Auf die Übergriffe George Duckworths – in weniger diskreten Untersuchungen Anlass zu spekulativen, monokausalen Interpretationen – geht sie kurz ein, zieht aber daraus keine Rückschlüsse auf das Leben oder das Werk der Schriftstellerin. Detaillierter beschreibt sie die Phasen der Krankheit, die Woolf monate-, zum Teil sogar jahrelang aus der schöpferischen Bahn geworfen haben und ihr Leben akut bedrohten. Hierbei gelingt es Harris, dem Leser vor Augen zu führen, wie gefährdet Woolf war, ohne sie dadurch zu einer zerbrechlichen Persönlichkeit herabzuwürdigen oder sie in eine Opferrolle zu drängen: „Wahnsinn war Virginia Stephen nicht fremd, sie hatte große Angst davor und wehrte sich dagegen. Deshalb suchte sie nach einem eigenen Weg zu überleben.“

Trotz Wahnsinnsschüben und Todessehnsüchten besaß Virginia Woolf eine enorme Lebensenergie. Harris begleitet sie durch die verschiedenen Stationen ihres Lebens, schildert die vielen Umzüge, von denen der erste sie nach Bloomsbury führte, und betrachtet die gesellschaftlichen Kreise, in denen sie sich bewegte. 1911 gründete sie mit ihrem Bruder Adrian „eine Art Pension für Freunde und Bekannte“ am Brunswick Square, die sie als einzige Frau mit vier Männern bewohnte. Ein Jahr später heiratete sie Leonard Woolf, der sich in die Pension eingemietet hatte.

Mit Leonard verband sie trotz ihrer leidenschaftlichen Verbindungen zu Frauen, allen voran zu der Schriftstellerin Vita Sackville-West, eine bis zu ihrem Tod anhaltende enge Beziehung. Gemeinsam zogen sie mehrmals um, lebten zum Teil in London, zum Teil in Sussex, und unternahmen viele Reisen. 1917 kauften sie eine Druckerpresse und gründeten Hogarth Press, die sich zu einem renommierten und einflussreichen Verlag entwickelte. Virginia brachte sich als Lektorin ein, sichtete die zahlreichen Manuskripte und lernte das Handsatzverfahren: „Nebenbei setzte sie, Buchstabe um Buchstabe, den Text für die Hogarth-Ausgabe von Das wüste Land.“

Die Gründung des Verlags verschaffte Virginia Woolf eine Unabhängigkeit, die ihr ermöglichte, ganz nach eigenen künstlerischen Gestaltungsprinzipen zu schreiben und zu publizieren. Angesichts des experimentellen Charakters ihrer Werke stellte dies keinen geringen Vorteil für ihre künstlerische Entwicklung dar. Alexandra Harris verfolgt aufmerksam dieser Entwicklung, beschreibt die Lebensumstände, unter denen Woolfs Werke entstanden sind, und zeigt, wie Biographisches Eingang in diese gefunden hat. Sieht man von einzelnen, wenig aussagekräftigen Sätzen ab, zeigt Harris in präzisen Analysen der Werke, wie Woolf immer wieder neue Formen und Darstellungstechniken erprobte, um kompositorisch und sprachlich ihrem Gegenstand gerecht zu werden. Dies führte zu einer großen Vielfalt innerhalb ihres Œuvres – man denke an so unterschiedliche Romane wie Mrs. Dalloway (1925) und Orlando. A Biography (1928) –, barg aber auch „ein immenses Risiko“ für sie, „weil sie mit unerprobten Methoden arbeitete“.

Die Herausbildung einer „derart unabhängige[n] und individuelle[n] Stimme“ verbindet Alexandra Harris nicht zuletzt mit der Tatsache, dass Woolf weder eine formale Schulbildung erhalten noch eine Universität besucht hatte. Ihre Skepsis gegenüber der akademischen Welt erkennt man an der Ablehnung sowohl der Ehrendoktorwürde der Universität Manchester als auch einer Einladung des Trinity College, Cambridge, die renommierten Clark-Vorlesungen zu halten. Auch ihre Kritik an James Joyces Ulysses, dessen Autor sie mit „‘einem ekligen Studenten, der sich die Pickel aufkratzt‘“ verglich, führt Harris auf Woolfs „Wut über die Exklusivität und Herablassung der männlichen Bildungselite“ zurück. Bezeichnend für diese Einstellung von Woolf sind ihre literaturkritischen Essays The Common Reader (Band 1, 1925; Band 2, 1932). Hier nimmt sie die Perspektive des nichtakademischen Lesers ein und begibt sich damit in deutliche Distanz zur akademischen Literaturkritik.

Alexandra Harris gelingt es, die Fäden zwischen Leben und Werk zu verknüpfen, ohne zu simplen Gleichsetzungen zu greifen oder sich in Details zu verlieren. So entsteht auf engem Raum ein spannend zu lesendes Portrait der Romanautorin, Essayistin und Rezensentin Virginia Woolf, die darüber hinaus ein umfangreiches Tagebuch- und Briefwerk hinterließ. Auch wenn die Biographie im Gegensatz zu Alexandra Harris’ erstem Buch, Romantic Moderns (2010), für das sie den „Guardian First Book Award“ und den „Somerset Maugham Award“ erhielt, keine neuen Zusammenhänge zu Tage fördert, ist sie als Einführung dennoch eine sehr zu empfehlende Lektüre. Und sie ist zugleich eine Ermutigung für diejenigen, die eher geneigt sind, Bücher über Virginia Woolf anstelle ihrer Werke zu lesen, letzteres doch in Angriff zu nehmen.

Es ist dem L.S.D. (Lagerfeld, Steidl, Druckerei Verlag) zu verdanken, dass dieses Buch in einer sehr ansprechenden Gestaltung erschienen ist. Gelungen ist auch die Übersetzung von Tanja Handels und Ursula Wulfekamp, die einige sprachliche Unstimmigkeiten ausgeglichen und dennoch den ungezwungenen Sprachstil von Alexandra Harris beibehalten hat.

Titelbild

Alexandra Harris: Virginia Woolf.
Übersetzt aus dem Englischen von Tanja Handels und Ursula Wulfekamp.
Steidl Verlag, Göttingen 2014.
227 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783869308357

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