Harry Potter und der mirakulöse fünfzigste Geburtstag der Magic-Majesty Joanne K. Rowling

Eine Hommage für die Autorin und ihre zauberhaft bezaubernde Bestseller-Serie

Von Marie-Luise WünscheRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marie-Luise Wünsche

Eine Art Prolegomenon: Orchideus!

Im vierten Band der von vornherein auf sieben Bände angelegten britischen Serie um ein gigantisches, schnell globalisiertes ‚breaking good‘ mit Zauberern und Zauberer-Schulen ist es möglich, Orchideen zwar nicht aus dem Hut, wohl aber aus dem Wort heraus zu zaubern.[1] Wie bei so vielen weiteren Zaubersprüchen, die diese poetische Septalogie ausmachen, ist es dazu notwendig, ein in der Regel aus dem Lateinischen stammendes Verb oder eben verbalisiertes Nomen in den Imperativ zu setzen und es gerne noch zusätzlich mit einem Ausrufezeichen zu versehen. Im Handumdrehen (oder sollte ich besser schreiben: eulenwendend?) erscheinen, durch die unermüdliche und exakte Anwendung von diesen und verwandten rhetorischen Mitteln, etwa den sprechenden Namen (speaking names), mit den Wörtern die Sachen, mit den Sätzen der wunderbare Sinn und mit den Absätzen die Zauberakte oder gelegentlich auch nur der Muggle-Salat. ‚Muggle‘ nennt man innerhalb dieser erzählten Welten jene, die nicht mit zauberhaften Talenten ausgestattet sind, also Sie, die Leser etwa, und mich, die Essayistin.

Muggles sind wir natürlich nur, wenn gilt, dass wir Zauber in diesem Kontext wortwörtlich nehmen und nicht als Metapher für Dichtkunst, philologische Deutungskunst oder Kreativität in einem allgemeineren Sinne verstehen wollen. Allerdings spricht Einiges dafür, dass die naheliegende Möglichkeit dieser allegorischen Lesart den Siegeszug der Serie mit bedingt hat.

Neben dem Herbei-Zitieren von Orchideen ist es so etwa auch möglich, jemanden im wörtlichen Sinne zu einem Geheimnisträger zu machen, indem man ihm das zu Verbergende implantiert: „Fidelius!“ In gleicher Weise kann durch das Nennen der Gefühlsregung die Gefühlsregung initiiert werden, etwa das Lachen respektive das Auslachen: „Riddikulus!“ Endlich können Schreibfedern und andere Gegenstände, eventuell auch Launen und Geschicke, dem nahezu unerträglich leichten Schwebezustand durch lautes und unbedingt gut artikuliertes „Wingardium Leviosa!“ anempfohlen werden.

Welcher auf das Lateinische zurückführbare Zauberspruch aber könnte sich besser dazu eignen, in einen Essay einzuleiten, der aus Anlass eines Doppelgeburtstages vor allem erzähltheoretische und ein wenig auch literaturhistorische Überlegungen als Blumen regnen lassen will, als eben: „Orchideus!“? – Also bitte: Happy Birthday! Und: Orchideus!

Joanne Kathleen Rowling wurde am 31. Juli 1965 in England, im Krankenhaus von Chipping Sodbury geboren. Harry Potter, der Protagonist ihres Romandebüts, trat ans Licht der fiktiv gesetzten Welt am 31. Juli 1980, wie Fans errechneten. Die ersten zehn Jahre einer unsagbar tristen Kindheit verbringt er bei den Dursleys in dem fiktiven Ort Little Whinging. In der Originalausgabe wohnen Tante und Onkel im Privat Drive und in der deutschen Übersetzung im Ligusterweg 4.[2] Die Erfolgsautorin, deren erster Serienteil zunächst in einer sehr kleinen Auflage und nur mittels Druckkostenzuschuss bei dem Londoner Verlag Bloomsbury erschien, wird also an diesem Freitag, den 31.7.2015 fünfzig Jahre alt. Ihr weltbekannter Protagonist, mit den stets etwas chaotisch durcheinander wachsenden, dunklen Haaren, die, sobald man sie schneidet, nur umso heftiger nachwachsen, als wollten sie die Narbe auf seiner Stirn verdecken, würde am selben Tag immerhin schon 35 Jahre alt, könnten Romanfiguren wirklich älter werden.

Dies zusammen ist Anlass genug, in zwei Abschitten zunächst produktionsästhetische und dann eher thematisch-strukturelle Aspekte zu beleuchten. Dies soll in der Manier von zwei Geburtstagskerzen erfolgen, einer für die Autorin und einer für ihren Protagonisten, die (hoffentlich) etwas erhellendes Licht auf einige Besonderheiten der mittels Sprachartistik und Mythenvariation generierbaren weißen Magie werfen. Diese weiße Magie also , so hoffe ich zu zeigen, macht die Serie für mehrere differente Kanons zugleich wertvoll: für den Kanon der hohen Literatur mit Mehrfachadressaten etwa, aber auch für den Kanon der empfehlenswerten Kinder- und Jugendliteratur sowie, last but not least, für den Kanon anspruchsvoller, weil extrem spannender und stilistisch wohlgeratener Thriller- respektive Unterhaltungsliteratur.

Die weiße Magie der Harry Potter Serie verdankt sich vor allem einer ungeheuer engmaschigen, also verdichtenden literarischen Kompositionstechnik und soll selbstverständlich nicht nur Freundschaften schützen und binden helfen, Krankheiten besiegen oder eine zeitgemäße Ästhetik des Schönen, das zugleich gut und richtig ist, als literarisches Spiel inszenieren helfen, sondern vor allem über die schwarze Magie siegen. Dazu bedarf es eines langen und kompetenten Erzählatems. Über dessen Beschaffenheit gibt die Autorin in Interviews, Dokumentationen und auf ihrer Homepage bereitwillig Auskunft.

Der unbedingte Wille zum Detail, so lautet eine von Rowlings poetologischen Selbstreflexionen, spielt in ihrer Erzählkunst eine so tragende Rolle, dass ich diese Detailversessenheit hier als Erzählprinzip namhaft machen möchte. Während die Autorin selbst diese Lust auf detailgetreues Erzählen vor allem kunstpädagogisch motiviert, nämlich mit dem Hinweis darauf, dass sie noch von ihrer eigenen kindlichen Leseerfahrung her weiß, wie wichtig es gerade kleinen Kindern ist, die Figuren und ihre Handlungsräume so exakt wie möglich beschrieben zu bekommen, möchte ich diesen Aspekt hier, auch in Vergleichen mit den Erzählweisen Franz Kafkas und Hermann Burgers, als Indiz für den sprachartistischen Rang des Serien-Romans und den künstlerischen Rang der Autorin stark machen.

Harry Potter und das Geheimnis der Produktionsästhetik

Der Initialisierungsreigen eines berühmten Magiers über mehrere tausend Seiten hinweg, die ihn vor allem von seinem elften bis zu seinem siebzehnten Lebensjahr zeigen, beginnt mit einem Verlust. Harry Potter wird Waise, weil Voldemort, der Inbegriff des Bösen, den viele aus Angst nur „Du weißt schon wer“ oder „Dunkler Lord“ nennen, Harrys Eltern tötet. Das Kind aber kann er nicht ermorden, obwohl er das Baby mit dem eigentlich hundertprozentig tödlichen, dem ‚unverzeihlichen‘, dem schwarzmagischsten Zauberspruch „Avada Kevadra“ trifft. Es scheint, und die Indizien dafür werden von Buch zu Buch eindeutiger, dass es durch die Liebe der Mutter und wohl ein wenig auch durch die des Vaters geschützt ist, lange über deren Tod hinaus. Folgerichtig trägt das erste Kapitel des ersten Romans „Harry Potter and the Philosopher’s Stone“ im Original den Titel „The Boy Who Lived“. In der Übersetzung heißt es entsprechend: „Ein Junge überlebt“. Damit ist der Junge stigmatisiert und keine ganz typische Märchenfigur mehr. Dafür spricht auch, dass die Narbe im Laufe der Handlung äußerlich die Verbindung anzeigt, die der böse Charakter Voldemort mit dem guten Charakter Harry Potter eingeht.[3]

Eine besondere Pointe dieser Serie besteht darin, dass der Held zwar einerseits sozusagen fast von Geburt an zum Heldensein prädestiniert ist, dass es aber andererseits seiner bewussten und immer wieder hart erkämpften Entscheidung zum Guten und zum Gemeinschaftssinn hin bedarf, um am Ende das Böse zu besiegen. Dieses abgrundtief Böse, und das macht seine Entscheidung hin zum Guten nicht gerade einfacher, ist bereits in einer Zeit, die vor dem Erzählbeginn liegt, ein Teil von Harry Potter selbst und sichtbar an der Narbe, die an den eigentlich hundertprozentig tödlichen Zauberspruch erinnert.

Zwischen der Feststellung von Professor McGonagall im ersten Kapitel des ersten Bandes „He’ll be famous – a legend – I wouldn’t be surprised if today was known as Harry Potter day in future“ und den zwei letzten Sätzen des fiktiven Postscriptums im siebten Band „The scar had not pained Harry for nineteen years. All was well“ entzündet sich ein narratives Spannungsfeuerwerk, das seines Gleichen sucht.[4]

Der Harry Potter-Kosmos weist unzählige Innen- und Außenräume auf, in denen mal physikalische, mal magische Regeln gelten und in denen ebenso viele Figuren agieren. Zudem ist an diesen Figuren keinesfalls zu jeder Zeit völlig klar, wessen Kind sie sind und wessen Song sie singen, den der Guten oder den der Bösen. Oder mal den einen und dann den anderen oder gar beide zugleich? Severus Snape etwa, der Lehrer für Zaubertrankkunde in Hogwarts, jener Zauberer-Schule, in die Harry Potter eingeschult wird, ist ein derart ambivalenter Charakter. Sogar die Rolle, die dem Protagonisten zufällt, ist nicht immer ganz klar. Es wäre der Autorin Joanne K. Rowling durchaus möglich gewesen, mit dem vierten Band plötzlich hinter dem vermeintlichen Helden Harry Potter den wirklichen Helden und die nur scheinbare Nebenfigur Neville Longbottom hervorzuzaubern. Jedenfalls gibt es eine Weissagung von Sybill Trelawney, deren Vornamen wohl absichtlich an die berühmten Weissagerinnen der Antike, an die „Sybillen von Delphi“ erinnern soll, in der jene Merkmale, an denen der Held erkennbar werden soll, der die Zauberwelt von dem schwarzen Magier befreien helfen kann, sowohl zu Harry Potter als auch zu dem etwas schüchternen und tolpatschigen Neville Longbottom passen. Das ist symptomatisch für einen wichtigen, Rowlings Prozess des Schreibens konstituierenden Gestus. Mit ungeheurer Akribie hat die Autorin ihre Figuren und deren Handlungsräume sowie die Spannungsbögen der Handlung entworfen, und zwar sehr detailliert, doch niemals als in sich hermetisch geschlossenes System, sondern immer offen für neue Experimente des Erzählens.

Die Entscheidung für den Grad der Bedeutung, die den hunderten und aberhunderten Figuren in Bezug auf das Geschick des Protagonisten und seiner engsten Freunde Ron Weasley und Hermione Granger sowie auf die gesamte Romanhandlung am Ende des siebten Bandes zukommen wird, hat die Autorin so lange wie möglich hinausgezögert. Die Fülle der Figuren und der ambivalenten Charaktere verdankt sich zudem unterschiedlichen Schreibphasen und Planspielen, die teilweise mit von der Autorin selbst stammenden Porträtzeichnungen einzelner Figuren kombiniert wurden. Auch das Entwerfen von Stammbäumen zählt zu einer bewährten Schreibtechnik, die später den Filmregisseuren beim Entwerfen der Kulissen gute Dienste leistete. Waren etwa die verwandtschaftlichen Verhältnisse von Sirius Black, dem Paten Harry Potters, über die sich Rowling mittels Papier und Stift Klarheit verschaffte, für den Roman selbst nahezu irrelevant, so erhielten sie dann für die Kulisse der Verfilmung des fünften Bandes eine immense Bedeutung.

In Bezug auf die produktionsästhetischen Besonderheiten und überleitend zu Aspekten thematisch-struktureller Natur lässt sich zunächst Folgendes festhalten: Ähnlich architektonisch wie Friedrich Dürrenmatt, vor allem aber auch wie Hermann Burger, der seine Romane durch mehrere Versionen hindurch zur letzten Fassung trieb und zuallererst Studien zur Kapitelsymmetrie betrieb, ist Joanne K. Rowling bei der unermüdlichen Verdichtung des Zaubers als Form und Motiv verfahren. Und wie Hermann Burger berichtete, dass der Stoff zu seinem Roman „Die Künstliche Mutter“ ihm während einer Zugfahrt mehr oder weniger vollständig konturiert eingefallen sei, so hat auch Joanne K. Rowling mehrfach versichert, dass ihr der Zauberschüler Harry Potter unvermittelt, aber komplett während einer Zugfahrt erschienen sei. Der allmähliche Prozess der Verfertigung der Idee beim Schreiben allerdings hat wohl zwischen fünfzehn und zwanzig Jahre lang gedauert.[5] Und das Verdienst dieser weltweit milliardenfach verkauften Serie um Harry Potter, seine Freunde und deren Antagonisten ist, so denke ich, kein Geringeres als die serielle Institutionalisierung des Zauberhaften als Erzählkunst unserer Zeit. Dabei weist die Romanfolge der Gegenwartsliteratur den Weg zu einer zeitgenössischen Ästhetik des Schönen und (moralisch) Guten, indem sie sich der Kunst verschreibt, spannende, gute und integre Charaktere zu entwerfen, statt dem modernen Mainstream des ästhetisch Hässlichen, Bösen, Ekligen, Geizigen, Neidischen, kurzum des ‚breaking bad‘ noch eine weitere Variante hinzuzufügen. Dies tut sie zudem historisch wie politisch wachsam und empathisch zugleich. Dazu bedarf es nicht nur starker Figuren, sondern ebenfalls starker imaginärer Topographien, die sinnliche Lesereisen in (früh-)romantischer Manier Kindern jeden Alters eröffnen.

Harry Potter und die Institutionalisierung des Zaubers als Zauber der Institutionen

„Harry Potter“, die siebenbändige Romanserie um einen schüchternen und von seinen Verwandten gequälten, ansonsten ganz normalen Jungen, der allerdings in einer Parallelwelt ein berühmter Zauberer ist, wovon er selbst erst an seinem elften Geburtstag erfahren wird, kann zunächst als eine ganz normale angelsächsische Erzählung über die Adoleszenz von Hexen und Zauberer gelesen werden. Denn die Geschichte der britischen, irischen und schottischen Literatur für Kinder und Jugendliche ist spätestens mit dem Erscheinen der Narnia-Chroniken (1950-1956) des mit Tolkien befreundeten Clive Staples Lewis, der 1898 in Belfast geboren wurde und 1963 in Oxford starb, vor allem auch eine Geschichte phantastischer Orte und Gestalten.

Joanne K. Rowling wies gelegentlich selbst darauf hin, dass sie die Narnia-Chroniken kennt und als Jugendliche gerne gelesen hat. Lewis hatte diese als poetische Schöpfungsgeschichte christlicher Provenienz für Kinder und Jugendliche intendiert. Einflüsse der deutschsprachigen Frühromantik und Romantik, die bereits Tolkien und Lewis, aber auch gegenwärtige Autoren und Autorinnen der Phantastik sowohl im angelsächsischen als auch im deutschsprachigen Kulturraum inspirierten und prägten, sind der Forschung ebenfalls durchaus geläufig. So erinnern etwa die bewegten Photographien und Ölporträts in der Harry Potter-Serie an entsprechende Motive der Romantiker, zum Beispiel an zentrale Motive aus „Das Marmorbild“ von Joseph Eichendorff.

Rowlings Harry Potter-Kosmos ist strukturell einem Zwei-Welten-Modell verpflichtet. Dieses hatte die Strukturalistin und Kinder- und Jugendbuchforscherin Maria Nikolajeva 1988 in ihrer Dissertation bereits als das die Handlungsräume konstituierende Schema magischer Kinderliteratur namhaft gemacht und später dann auch auf die Harry Potter-Romane angewendet.[6] Danach wechseln die Hauptfiguren in jedem Band die Welten nach bestimmten Regeln. Sie reisen also etwa mit dem Hogwarts Express vom Gleis 9 ¾ von der fiktiv-realistischen in die fiktiv-phantastische Topographie (das Gleis 9 ¾ ist zudem lesbar als intertextueller Verweis auf König Alfons, den Viertelvorzwölften, der in Michael Endes mehrbändigem Jim Knopf-Zyklus Lummerland regiert). Nach den in der Zauberwelt rund um Hogwarts geltenden Regeln ist es dann etwa möglich, dass etwas megaklein ist und zugleich ein Volumen eines LKW’s aufweist (die Handtasche von Hermione im siebten Band etwa). Einige dieser Regeln aus der magischen Welt verbieten allerdings Minderjährigen das Zaubern, welches zudem in langjähriger Praxis und mittels ordentlichem Schulunterricht mit allerlei Fächern gelernt sein muss.

Diese Makrostruktur wird dann mit Hilfe entsprechender stilistischer Zaubertricks, etwa der ‚speaking names‘ oder der poetischen Dinge, die verkörpern, was sie sind, zum Beispiel das „Monsterbuch der Monster“, dynamisiert und in eine handlungs- wie spannungsreiche Erzählung verwandelt. Auch diese Kompositionstechniken gemahnen an das energetische Sprachverständnis, welches die (früh-) romantische Dichtkunst auszeichnete.[7] Derart eröffnete Räume des Erzählens, die durch Zeitumkehrer und andere Accessoires historisiert und mit typisch britisch anmutenden Zeremonien, Kulturtechniken und Bildungstraditionen versehen werden, rücken diesen Zauberlehrling also in die Nähe typischer phantastischer Figuren in der magischen Welt angelsächsischer Kinderliteratur.[8] Und als ein solcher weist er natürlich nahe Verwandtschaft auf zu der Serie, die Jill Murphey in den achtziger und neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts verfasste. In dieser spielen eine Zauberschule ebenso wie bestimmte Flugsport-Rituale auf Besen eine handlungskonstituierende Rolle. Die Protagonistin ist eine junge Zauberin, die eine Hexenakademie in einer Burg besucht und in der Übersetzung ins Deutsche als „lausige Hexe“ betitelt wird.[9]

Allerdings ist bereits dem ungewöhnlichen Volumen der Harry Potter Serie abzulesen, dass in ihr tradierte Muster und Stoffe des Erzählens nicht nur bedient, sondern auch überboten werden. Dem entspricht es, dass J.K. Rowling ihre Serie von Beginn an komplettiert hat mit weiteren Büchern, die den Anschein erwecken sollten, diese komplexe Parallelwelt gebe es wirklich und in ihr habe sich eine naturphilosophisch ausgerichtete Wissenschaft etablieren können, die ihrerseits an das Wissen der Renaissance anschließt.

Diese Parallelwelt ist höchst komplex und nicht so einfach, wie man sie aus anderer phantastischer Literatur inklusive der Fantasy kennt: eine nur Pi mal Daumen mittelalterlich oder früh neuzeitlich anmutende Kultur. Ein dicht gewebtes Netz aus intertextuellen Verweisen und von der Autorin neu erfundenen Texten, lässt eine abenteuerliche, humorvoll und charmant inszenierte Geschichte sich wie von selbst entwickeln. Diese Geschichte setzt nicht nur die Fiktion, sondern auch die Metafiktion in Spannung um. Auf diese Weise eröffnet sie unendlich viele Spielräume der Lust am Lesen, die die Lust an Analyse und Reflexion des Gelesenen mit umfasst.[10] Die ohnehin schon komplexe Geschichte nimmt zudem im Verlauf ständig an Komplexität zu. Im vierten Band erfahren wir etwa, dass es nicht nur eine Weltmeisterschaft im Quidditch, dem Sport der Zauberwelt gibt, sondern auch weltweit Zauberinternate, in denen Wissen zelebriert wird. Dieses Vertrauen in eine aufgeklärte und damit zum Guten und sozial Empathischen bereite Zaubergesellschaft, das von den „Totessern“ als Gegenspielern unterlaufen wird, hat eine schulische und universitäre Infrastruktur entstehen lassen, die entfernte Ähnlichkeiten mit jener von Oxford, Harvard oder Yale aufweist. Es ist wohl auch kein Zufall, dass wichtige Dreharbeiten zu den Verfilmungen des Harry Potter-Stoffes in dem Speisesaal der Universität von Oxford entstanden. Zur Genese dieser zauberhaften Atmosphäre werden Strukturen und Stilmittel phantastischer Literatur noch einmal in ihrer Wirkmächtigkeit potenziert. Zudem variiert und pointiert Rowling das narrative Verfahren der „sprechenden Namen“. Diese wachsen und verändern sich nämlich häufig in Analogie zu der an Tempo und Komplexität zulegenden Story. „Harry Potter“ etwa ist nur auf den ersten Blick der Allerweltname einer Märchenfigur. Denn „to potter“ bedeutet auch „herummachen“ oder „herumirren“ und „Harry“ meint zugleich den Teufel und ist außerdem eine Bezeichnung für eine Reihe von Kreidefelsen. So wie Rowling das probate Mittel der speaking names in der Anwendung verändert und sozusagen transzendiert, so erweitert sie auch das Zwei-Welten-Modell der Phantastik. Denn die beiden Welten, jene, in der die Dursleys leben und in der die physikalischen und chemischen Gesetze unbedingte und ausschließliche Gültigkeit beanspruchen können, und jene, in denen die Zauberer in der Lage sind, eben diese physikalischen und chemischen Gesetze qua erlernbarem Zauber auszuhebeln, erweisen sich immer mehr als zwei Ansichten eines Kosmos.[11]

Somit bedient diese Serie nicht nur Erwartungen der Leser von Phantastik, sondern überbietet diese. Liest man „Harry Potter“ vor dem Hintergrund der phantastischen Werkwelten Franz Kafkas, in denen vor allem auch die durch Technisierung und Bürokratie entzauberte Moderne thematisiert wird, dann erscheint uns der Protagonist als jemand, der die Bürokratie und Verfahrensgesellschaft wieder ein Stück weit verzauberte. Davon zeugt unter anderem das Merchandising, wie es wohl erstmals anlässlich von Goethes Romans „Die Leiden des jungen Werthers“ den Leseprozess der Fans begleitet hat. Damals gab es Jacken und Hosen in der Manier des Protagonisten zu kaufen, aber auch eine Untertasse, auf der ein Antlitz von Lotte zu sehen war, nebst Tasse mit dem Porträt von Werther. Heute können wir T-Shirts mit dem Namen der Schule „Hogwarts“ erwerben und tausende und abertausende von Schleiereulen namens Hedwig bevölkern die Regale unserer Spielwarengeschäfte, um „eulenwendend“ die Kinder in ihre Welt zu entführen. Diese Verzauberung geschieht heutzutage aber gerade durch die konsequente Ausnutzung der ästhetischen Qualitäten des Seriellen.

Der Zauber wird institutionalisiert. Durch das Zaubereiministerium etwa und durch dort tätige Beamte, wie den Vater von Ron Weasly, erhalten behördliche Räume etwas Enigmatisches. Arthur Weasley nämlich zelebriert den Zauber des Alltäglichen auch schon einmal mittels „Missbrauch von Muggel-Artefakten“, also leicht frisierten Autos. Damit eröffnet er den Blick auf das Wunderbare im heutzutage ganz Normalen. Zu diesem Wunderbaren zählt ganz entschieden auch der Mut und das Know How, Figuren zu entwerfen, die spannender breaking good demonstrieren als die vielfach bekannten anderer Phantastik, welche nur im breaking bad der Figuren mitzureißen verstehen.

Das aber ist es wohl, was J.K. Rowlings Roman zu einem Kandidaten der Höhenkammliteratur avancieren lässt. Weiteres, liebe Leserinnen und Leser, soll dazu hier nicht mehr ausgeführt werden. Sie sollten es sich bitte einfach selbst erlesen. Dabei könnten Sie mit mir zusammen auf den fünfzigsten Geburtstag der Autorin und den fünfunddreißigsten ihres Protagonisten anstoßen: Prost! Denn: „All was well.“

[1] Mittlerweile kann man die Bedeutungen der Zaubersprüche innerhalb etlicher Fan-Blogs zu Harry Potter nachlesen. Einer der frühesten Bewunderer Rowlings, Friedhelm Schneidewind, der sich zudem exzellent in der Geschichte der Naturphilosophie auskennt, hat bereits 2000 ein Lexikon herausgegeben. Obwohl es nur die ersten vier Bände berücksichtigt und weder unverändert noch überarbeitet zur Zeit im Buchhandel zu haben ist, beziehe ich mich im Folgenden darauf. Friedhelm Schneidewind: Das ABC rund um Harry Potter. Lexikon Imprint Verlag. Berlin 2000. Ich kürze es dann ab als Schneidewind und setze dahinter die jeweils relevanten Seitenzahlen.

[2] Vgl. dazu etwa auch Schneidewind, S. 209, S. 268-270 sowie S. 304-308.

[3] Harry Potter wird in der Forschungsliteratur unter gattungstheoretischen Kriterien unterschiedlich besprochen. Stefan Neuhaus etwa, der die tradierte Differenzierung in Volksmärchen und Kunstmärchen ebenso kritisch hinterfragt wie die Rede von Phantastik und stattdessen von komplexen und weniger komplexen Märchen spricht, behandelt Harry Potter nach Maßgabe dieser neuen theoretischen Sicht dann in seiner im UTB Verlag 2005 unter dem Titel „Märchen“ erschienenen gattungshistorischen Analyse als komplexes Märchen. Monika Schmitz-Emans, die sich an verschiedenen Stellen mit Harry Potter beschäftigt hat, betont eher den phantastischen Charakter, auch in der Nachfolge der Romantik. Ich selbst verstehe in meinen entsprechenden Veröffentlichungen Harry Potter mit den Theorien von Nikolajeva und Lachmann ebenfalls eher als Phantastik.

[4] J.K. Rowling: Harry Potter and the Philosopher’s Stone. Bloomsbury, London 2010, first 1997, S.15, und J.K. Rowling: Harry Potter and the Deathly Hallows. Bloomsbury, London 2010, first 2007, S.607.

[5] Hier spiele ich mit meiner Formulierung bewusst einerseits auf einen Text von Kleist an, der den Titel trägt: “Über die allmähliche Verfertigung der Idee beim Reden“, und andererseits auf den Titel der Frankfurter Poetik-Vorlesung von Hermann Burger, der, ebenfalls mit Anspielung auf Kleist, lautet: „Über die allmähliche Verfertigung der Idee beim Schreiben“.

[6] Maria Nikolajeva: Magic Code – The use of magical patterns in fantasy for Children. Göteburg 1988.

[7] Zu der Bedeutung der Buchmotivik und den (früh-)romantischen energetischen Sprachmodellen für diese Serie vgl. etwa: Marie-Luise Wünsche: Magische Buchwelten und phantastische Sprachspiele. Zur Ästhetik und Didaktik gegenwärtiger Kinder- und Jugendliteratur. In: Thomas Anz und Heinrich Kaulen (Hg.): Literatur als Spiel. Evolutionsbiologische, ästhetische und pädagogische Konzepte. Walter de Gruyter Verlag, Berlin und New York 2009, S.697-714.

[8] Der typisch britischen Atmosphäre einer nichtsdestotrotz globalisierten Zauberwelt widmet folgende Monographie ihre Aufmerksamkeit: Ina Karg und Iris Mende: Kulturphänomen Harry Potter. Multiadressiertheit und Internationalität eines nationalen Literatur- und Medienevents. V&R unipress, Göttingen 2010. Zu den narrativen Verfahren und ihrer literaturwissenschaftlichen Bedeutung finden sich gute Beiträge in folgendem Sammelband: Christine Garbe und Maik Philipp (Hg.): Harry Potter – Ein Literatur- und Medienereignis im Blickpunkt interdisziplinärer Forschung. LIT Verlag, Hamburg 2006. Emer O‘ Sullivan betrachtet etwa, so weist es schon der Untertitel ihres Beitrages aus, „Harry Potter im Kontext der britischen Literaturtradition“. Hans-Heino Ewers expliziert das zentrale Anliegen seines Essays dagegen bereits mit dem Haupttitel: „Die Heldensagen der Gegenwart“.

[9] Vgl. etwa den ins Deutsche von Ursula Kösters-Roth übersetzten Band: Jill Murphy: Eine lausige Hexe fliegt ans Meer. Diogenes Verlag, Zürich 2003.

[10] Vgl. zu der Sinnlichkeit von Literatur und Literaturtheorie Thomas Anz: Literatur und Lust. Glück und Unglück beim Lesen. München 2002. Darin vor allem das Kapitel zur Spannung.

[11] Vgl. dazu auch Marie-Luise Wünsche: Harry Potter und die Kunst der Unterhaltung. Kleine Ästhetik und Didaktik eines Weltbestsellers. In: Helga Arend (Hg.): „Und wer bist du, der mich betrachtet?“ Populäre Literatur und Kultur als ästhetische Phänomene. Festschrift für Helmut Schmiedt. Aisthesis Verlag, Bielefeld 2010, S. 339-350.