Zwischen Anpassung und Widerstand

André Herzbergs Roman „Alle Nähe fern“ zeichnet das Schicksal einer jüdischen Familie im Deutschland des 20. Jahrhunderts nach

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

André Herzberg machte in der DDR Karriere als Musiker. Der Frontmann der Band „Pankow“, mit der er berühmt wurde, entstammt einer jüdischen Familie, deren Schicksal im Osten Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg er schon einmal – 2004 im Tagebuchroman „Mosaik“ – literarisch thematisiert hat. In seinem neuen Buch „Alle Nähe fern“ holt er nun noch weiter aus, präsentiert, poetisch gereift, in 90 kurzen Kapiteln Szenen aus der wechselvollen deutschen Geschichte des letzten Jahrhunderts, lebendig gemacht an Menschen, die, jeder auf seine Weise, die ganze Spannbreite zwischen Spielball und Gestalter ihres jeweiligen Lebens auszumessen hatten.

Jakob Zimmermann, der Protagonist des Buchs, ist der jüngste Spross einer jüdischen Familie mit langer Tradition. Bis ins 19. Jahrhundert reichen seine Erinnerungen, aus denen sich die einzelnen Erzählsplitter des Romans speisen, zurück, um die Aufstiegsgeschichte einer Sippe zu erzählen, die mit der Machtergreifung der Faschisten im Jahr 1933 jäh endet. Was folgt, sind Exil, Auswanderung nach Palästina und – für Jakobs Eltern – die Rückkehr in den östlichen Teil Deutschlands, wo sie ihre ganze Energie in den Aufbau eines Staates investieren, der anders sein und die Dinge des gesellschaftlichen Zusammenlebens auf völlig neue Art und Weise regeln will, als das bisher auf deutschem Boden üblich war.

Ähnlich wie in anderen Büchern, die sich in letzter Zeit des gleichen Themas annnahmen – man denke etwa an den mit dem Deutschen Buchpreis 2011 ausgezeichneten Roman „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ von Eugen Ruge oder Regina Scheers Familiengeschichte „Machandel“ (2014) –, konzentriert sich Andrė Herzberg in den letzten beiden Dritteln des Buches auf jene Zeit, die er selbst als 1955 Geborener mehr oder minder bewusst miterlebte.

Der Leser nimmt dabei Anteil an der Genese eines jungen Musikers in einem Land, dessen Herrschende der Kunst einerseits eine überaus wichtige Rolle zuschrieben, sie andererseits aber auch ständig zu bevormunden suchten und den Künstlern die Freiheit beschnitten, wenn diese allzu kritisch mit ihrer Realität ins Gericht gingen. Jakob Zimmermann erlebt diesen Zwiespalt sowohl in seinem zunehmend sich den tatsächlichen Verhältnissen im Land entfremdenden Elternhaus wie auch in seiner immer konfliktreicher sich gestaltenden Rolle als Sänger in verschiedenen Rockbands.

Während sich die erste Hälfte des Romans wie eine Ansammlung historischer Miniaturen von hoher literarischer Qualität liest, verengt sich der Blick des Ich-Erzählers gegen Ende des Buchs ganz auf die eigene Person. Hier wird aus Fiktion fast Autobiographie, nimmt der Musiker Herzberg die eigene unmittelbare Vergangenheit ins Visier. Zur Sprache kommt eine tiefe Depression, in die der Künstler nach dem Fall der Mauer stürzte. Herausgeholfen aus dieser existenziellen Krise hat ihm letztlich die Rückbesinnung auf die eigene Herkunft. Indem er sein Ego so weit wie möglich zurücknahm und sich als Teil eines tief in der Geschichte verankerten Volkes und einer Familie sah, deren Auf und Ab im Verlauf des 20. Jahrhunderts vom wechselhaften Schicksal dieses Volkes nicht zu trennen war, gelang es ihm, die Zeit der seelischen Verdunkelung hinter sich zu lassen.

Dass es sich beim vorliegenden Roman um ein wichtiges Ergebnis seines Kampfes um eine Rückkehr ins Leben handelt, macht André Herzberg an verschiedenen Stellen deutlich. Über den selbsttherapeutischen Effekt hinaus ist sein Buch aber auch die äußerst lesenswerte Geschichte einer Sippe, die vom Jahrhundert der „Ismen“ immer wieder gezwungen wurde, sich neu zu orientieren, Anpassung gegen Widerstand und Widerstand gegen Anpassung auszutauschen. Dass dies nicht immer ohne Selbsttäuschungen möglich war, machen sowohl die Episoden deutlich, in denen Herzberg beschreibt, wie alle Verdienste der Urgroßvätergeneration in den 1930er-Jahren plötzlich zunichte wurden, als auch jene Kapitel gegen Schluss des Romans, in denen der erzählende Sohn zeigt, wie das heroische Bild seiner Eltern von einem besseren Deutschland vor der grauen Realität der späten DDR allmählich zu verblassen begann.

Wenn der Roman deshalb mit dem Satz „ICH, JAKOB ZIMMERMANN, bin die Mitte.“ beginnt und daraufhin eine Versammlung der Familie des Helden fingiert wird, an der auch die längst verstorbenen Ahnen teilnehmen dürfen, um sich mit ihrem Erfahrungsschatz der Jahrhunderte über den jüngsten Spross zu beugen, dann signalisiert das nicht nur das für den Erzähler wohltuende neue Gefühl der Geborgenheit inmitten der Seinen, sondern mit dem Wort „Mitte“ auch den Glauben daran, dass es weitergeht: mit dem Helden selbst, seiner Familie, seinem Volk und seiner Welt.

Titelbild

André Herzberg: Alle Nähe fern.
Ullstein Verlag, Berlin 2015.
272 Seiten, 21,00 EUR.
ISBN-13: 9783550080562

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