Der Strippenzieher

Bernd Schroeders Puppen sieht man gern beim Tanzen zu

Von Andreas HaarmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Haarmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Beziehungskrisen, Familienrivalitäten, Selbstfindungstrips und ein tragischer Unfall. Klingt nach den Zutaten eines ARD-Fernsehfilms? Vielleicht. Doch das muss nicht immer schlecht sein. Wir sind doch alle da von Bernd Schroeder – auch der Titel gemahnt (gewollt?) an öffentlich-rechtliche Schauerschmonzetten – führt die Fäden altbekannter Motive nicht gewaltsam zusammen, sondern lässt sie nebeneinander herlaufen und sich nur beiläufig berühren. Dies erfolgt in 80 kurzen Kapiteln, die oft durch innere Monologe Einblick in die Gedanken- und Gefühlswelt der Figuren gewähren und nur vereinzelt rein narrative Sequenzen enthalten.

Die Handlung ist schnell skizziert: Der 16-jährige Benny liegt infolge eines Unfalls im Koma, was dazu führt, dass sich seine getrennt lebenden Eltern und deren Familien an seinem Krankenbett versammeln. Gibt man sich zunächst noch alle Mühe, sich für den Jungen zusammenzureißen, schwindet mit der Hoffnung auf ein Erwachen allmählich auch der gute Wille. Streitigkeiten werden teils noch im Krankenhaus ausgetragen und „Ausdauer“ im Verharren beim Kranken verkommt zum Gütesiegel moralischer Integrität. So dauert es nicht lange, bis das eigene Leben wieder vollends im Vordergrund steht. Mal ist dies nur allzu verständlich, wenn etwa die Großmutter des Kindes selbst schwer erkrankt, mal beschleicht einen hingegen die Scham, wenn die Wiederannäherung des Vaters an die Mutter sich allzu ungeniert gestaltet.

Es ist eine große Stärke des Romans, dass er sich nicht an der „Urkatastrophe“ aufhängt, sie jedoch auch nicht ganz aus dem Blick verliert. Bennys Unfall gibt den zum Erliegen gekommenen Lebensgeschichten seiner Familienmitglieder, der eigentlichen Protagonisten, einen neuen Anstoß zur Entwicklung. Sobald dies ins Klischeehafte abzudriften droht, weiß Schroeder mit dem rechten Maß an Ironie gegenzusteuern. Überhaupt macht ein subtiler Humor dieses Buch mit seinem ernsten Thema besonders lesenswert. Ob heimliche Hintergedanken oder offene Verfehlungen – Menschliches, allzu Menschliches wird schonungslos vorgeführt, ohne dem Roman dadurch eine dramatische Schwere aufzubürden.

Viele Charaktere werden holzschnittartig dargestellt, doch nicht wenige bergen dennoch – oder gerade deshalb – ein großes Wiedererkennungspotenzial. Sie sind Typen, Archetypen, und das passende Gesicht aus dem eigenen Erfahrungskreis hat man schnell parat. Plump macht das den Text aber nicht, eher unterhaltsamer. Auf einen kleinen Schönheitsfehler sei dann aber doch noch hingewiesen: Das Ende ist wohl auch für unerfahrene Leser keine riesige Überraschung, hat aber im Dialog mit dem Titel durchaus Esprit. Humor hat Schroeder auf jeden Fall.

Titelbild

Bernd Schroeder: Wir sind doch alle da. Roman.
Carl Hanser Verlag, München 2015.
175 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783446232679

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