„alte mæren“ und Zeitgeschichte

Dieter und Jürgen Breuer über Historisches im Nibelungenlied

Von Sabine GruberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sabine Gruber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es ist bekannt, dass das Mittelalter bis in die Gegenwart hinein immer wieder als Folie für Rückprojektionen aller Art herhalten musste und dass es dabei einerseits als glänzendes Gegenbild einer glanzlosen Gegenwart, andererseits aber auch als finsterer und glücklicherweise schon lange überwundener Zeitraum präsentiert wurde. Insbesondere die hochmittelalterliche Stauferzeit als vermeintlicher Vorläufer einer erst später erreichten nationalen Einheit diente seit dem 19. Jahrhundert als Projektionsfläche nationaler Sehnsüchte, wofür die typologische Beziehung zwischen Kaiser Friedrich I. Barbarossa und Kaiser Wilhelm I. „Barbablanca“ nur eines von vielen Beispielen ist. Weniger bekannt ist, dass bereits manche mittelalterlichen Texte zeitgeschichtliche Ereignisse unter der Maske des Vergangenen und des Mythischen verhandeln, dass also die Inanspruchnahme vergangener Zeiten für die Gegenwart keine neuzeitliche Spezialität ist (wenn auch das Bewusstsein für Geschichte in der Neuzeit ein anderes geworden ist).

Eines der, nach Dieter und Jürgen Breuer, prominentesten Beispiele für eine mittelalterliche Nutzung der Vergangenheit als Folie damals aktueller Ereignisse stammt aus der für spätere Rückprojektionen so beliebten Stauferzeit: das zwischen 1190 und 1205 verfasste Nibelungenlied. Dieses handle zwar von alten, historisch kaum fassbaren Mythen und damit verbundenen lange zurückliegenden Ereignissen der Völkerwanderungszeit, aber es tue dies immer aus dem Blickwinkel eines Zeitgenossen der Staufer. Nachdem Dieter und Jürgen Breuer bereits ihre vor zwei Jahrzehnten erschienene Publikation „Mit spaeher rede. Politische Geschichte im Nibelungenlied“ (München 1995, 2. Aufl. 1996) den historischen Hintergründen des Liedes gewidmet hatten, ist im vergangenen Jahr ihr neues Werk erschienen, das sich mit einem besonders interessanten Aspekt ihrer ersten Publikation befasst: dem Zusammenhang zwischen dem Nibelungenlied und den Kreuzzügen. In vielem knüpft die Studie an ihren Vorläufer an (reichsgeschichtliche Bezüge, Neuzuweisung der Autorschaft), konzentriert sich aber auf die Kreuzzugsthematik, beleuchtet dadurch einige Aspekte intensiver und bietet nebenbei ein faszinierendes historisches Panorama der krisenhaften Zeit um den dritten und vierten Kreuzzug.

Auf zwei Kapitel, die sich detailliert mit den Dynastien und Herrschaftsräumen des Nibelungenliedes und ihren historischen Bezügen befassen – wobei meistens Personennamen als Leitnamen für einen Familienverband stehen –, folgt im dritten Kapitel eine Aufschlüsselung der Bezüge auf die Kreuzzugsthematik. Kapitel vier behandelt die Nibelungenklage und das letzte Kapitel die bereits 1995 geäußerte und bisher von der Forschung mit Skepsis aufgenommene These, dass Bligger von Steinach das Nibelungenlied verfasst habe.

Dieter und Jürgen Breuer sehen das Nibelungenlied vor allem als zeitgeschichtliches Werk, das sich der „alten mæren“ bedient, um Kritik an der staufischen Expansionspolitik und dem Missbrauch der Kreuzzüge für politische Zwecke zu üben. Die damaligen politischen Verhältnisse sollen dabei ähnlich wie dies bei der konstruierten Verbindung zwischen „Barbablanca“ und dem Staufer Barbarossa der Fall war, in einer typologischen Beziehung zu den Konstellationen im Burgunderreich stehen. Ein Entschlüsseln der Figurenkonstellationen und Herrschaftsverhältnisse verspricht somit nicht primär Aufschlüsse über die Zeit der Völkerwanderung, sondern führt nach dieser Sicht in erster Linie zu näherer Kenntnis des Stauferreichs. Durch diese Betonung des Zeitgeschichtlichen im Nibelungenlied wird der Blick frei für vorher so nicht an dem Epos Erkanntes. Es ist deshalb denkbar, dass die Studie dort weitere Forschungsfragen anstößt, wo alles geklärt schien. So weit, so anregend.

Auch die These, dass der für sein verschollenes Werk „umbehanc“ von Gottfried von Straßburg hoch gelobte Epiker Bligger von Steinach Autor des Nibelungenliedes und das Nibelungenlied somit mit dem „umbehanc“ identisch sei, ist durchaus zu diskutieren. Es spricht zwar einiges dafür, dass der unbekannte Autor des Liedes aus dem Umfeld des Passauer Bischofs Wolfger von Erla stammte, aber es lassen sich auch gegenläufige Argumente finden. Der „umbehanc“, ein größeres episches Werk, das in seiner Machart erzählende Bildteppiche wie den Teppich von Bayeux nachahmt, würde somit nicht mit seinem Werknamen, sondern mit der Konstruktionstechnik bezeichnet, derer sich Bligger bediente und auf die er in Strophen des Nibelungenliedes, in denen ausführlich geschildert wird, wie kostbare Gewänder angefertigt werden, selbst hingewiesen hätte.

Bei Überlegungen wie diesen, auch bei der Entschlüsselung einzelner Analogien von Stauferzeit und Völkerwanderungszeit, ist es dann allerdings problematisch, wenn diese nicht als Thesen gekennzeichnet werden, die noch zu beweisen sind, sondern so dargestellt werden, als sei nichts mehr an ihnen zu diskutieren. Mit dieser Darstellungsweise laden die Autoren gerade nicht zu neuer Forschung ein, sondern beschränken den Blickwinkel unnötig auf ihre Interpretation des Werkes. Nachdem die Grundthesen des Buches schon bei ihrer ersten Vorstellung vor 20 Jahren in der Forschung auf Widerspruch gestoßen sind, wäre auch eine eingehendere Auseinandersetzung mit den geäußerten Gegenargumenten wünschenswert gewesen.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Dieter Breuer / Jürgen Breuer: „Mit warheit oder nach sage“. „Nibelungenlied“ und Kreuzzüge.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2014.
200 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783770556915

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