Verworfen und recycelt

„Entsorgungsprobleme“ widmet sich Müll in der Literatur

Von Christina GehrleinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christina Gehrlein

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„[B]is 2020 sollen Deponien endgültig der Vergangenheit angehören“, schreibt Anselm Wagner in seinem Beitrag „Deponie“ im 2012 im Transcript Verlag erschienen Sammelband „Ortsregister“ mit Blick auf Deutschland. Liest man diese Prognose zusammen mit dem, was Solvejg Nitzke in ihrem Aufsatz „Nach der Katastrophe. Müll zwischen Natur und Kultur bei Kluge, Sebald, Ransmayr und Kracht“ in „Entsorgungsprobleme“ diagnostiziert, dann lässt sich vielleicht das seit etwa zehn Jahren verstärkte – oder auch nur recycelte? – kulturwissenschaftliche, etwas zeitversetzt auch literaturwissenschaftliche Interesse am Verworfenen erklären: die Parallelexistenz und sogar Bedingtheit von Wegwerfgesellschaft und sentimentalem Bewahren. Während Müll durch immer raffinierter werdende Verfahren der Abfallbearbeitung, durch Recycling sowie Müllverbrennung beziehungsweise ‚thermischer Verwertung‘ mit exorbitanten Löschungs- und Wertschöpfungsprozessen konfrontiert wird, bietet die Müllkippe als Un-Ort bisher noch die Gelegenheit, sich dem Verdrängten, dem Vergessenen und Entsorgten zu nähern.

Bereits in den 1970er-Jahren initiierte William Rathje an der University of Arizona das Garbage Project. In der daraus resultierenden Studie „Rubbish! The Archaeology of Garbage“ werden die Ergebnisse dieses Wühlens auf und in Mülldeponien vorgestellt: die Archäologie der Abfälle, die Garbology. Die unterschiedlichen Verschlüsse von Getränkedosen etwa geben Aufschluss über Konsumverhalten, das sich über andere Methoden, etwa Befragungen, nicht rekonstruieren ließe. Während die materielle Wahrheit auf der Müllkippe liegt, sind Abfälle, das sollte nicht vergessen werden, auch das Resultat einer Kette individueller und kollektiver Entscheidungen. So finden sich in „Entsorgungsprobleme“ sowohl das lustvolle Stöbern im (literarischen) Dreck, als auch ein Nachdenken über Entsorgungs- und Bewahrungsentscheidungen in literarischen Texten. Dabei ist sich der Band seiner Paradoxie bewusst, wie der Frankfurter Germanist und Herausgeber David-Christopher Assmann in der Einleitung dieses Sonderherftes der Zeitschrift für Deutsche Philologie feststellt: „Die ‚Formlosigkeit‘ des Mülls verträgt sich […] nicht mit Literatur, als diese zumindest eines ist: Form.“ Auch das Nachdenken über Müll erfordert Ordnung. So werden die vierzehn Aufsätze in vier Abschnitte gruppiert – „Müll schreiben“, „Müll ökologisch“, „Müll umwerten“ und „Müll katastrophal“. Zugleich – und dies zeigt der Band auch – sind alle Ordnungen fragil und mitunter willkürlich.

Um, ganz im Sinne des Betrachtungsgegenstands „Müll“, der Gruppierung und Anordnung zu widerstehen, quasi Un-Ordnung in diese Rezension zu bringen, sei zunächst auf den hinteren Teil des Bandes eingegangen. Der bereits erwähnte Aufsatz von Nitzke, der letzte des Bandes, widmet sich Abfällen, die sich einer Integration verweigern, beispielsweise apokalyptischen Ruinen oder Kontaminationen. Der Titel des Sonderbandes, „Entsorgungsprobleme“, greift bei keinen anderen Hinterlassenschaften so wie im Kontext von verstrahlten Resten. Zugleich nähern sich, wie Nitzke zeigt, Müll und Nicht-Müll einander an: Nach der Katastrophe kann alles zu Müll werden. Auch der Aufsatz mit dem Titel „God’s Trash?“ von Samuel Frederick wendet sich einer Katastrophe zu: Jeremias Gotthelfs Erzählung „Die Wassernot von Emmental“ über ein Hochwasser liest er vor dem Hintergrund der Theodizee-Frage – und erinnert so an die ursprüngliche Wortbedeutung von Abfall als Abkehr von Gott.

Fredericks Essay ist zugleich einer der wenigen Beiträge, der die neuere Forschung aufgreift, etwa die von Bruno Latour beeinflussten Arbeiten Jane Bennetts. Ansonsten sind die theoretischen Referenzpunkte fast aller versammelten Beiträge erstaunlich homogen: Zwei Klassiker der kulturwissenschaftlichen Abfallforschung, Michael Thompsons „Rubbish Theory“ (1979) sowie Mary Douglas’ Studie „Purity and Danger“ (1966) werden vielfach zitiert. Immer wieder – auch das ist in der kultur- und literaturwissenschaftlichen Abfall-Forschung keine Seltenheit – werden Anschlüsse an die Überlegungen Walter Benjamins (so etwa ausführlich in den Beiträgen von Barbara Thums, Magnus Wieland und Sabine Wilke) gesucht. Einen weiteren Referenzpunkt stellt Sonja Windmüllers Monographie „Die Kehrseite der Dinge. Müll, Abfall, Wegwerfen als kulturwissenschaftliches Problem“ dar, ohne dass die AutorInnen jedoch Windmüllers Ansatz folgen, einen Fokus auf die sich ab dem 19. Jahrhundert weitreichend verändernden Werkzeuge und Infrastrukturen der Müllentsorgung zu richten. Dies ist gleichzeitig ein Schwachpunkt vieler Aufsätze in „Entsorgungsprobleme“: Die zitierten, meist aus der kultur- und sozialwissenschaflichen Abfallforschung stammenden und zum Großteil wenig bekannten Monographien und Aufsätze werden häufig, so auch in der Einleitung des Bandes, lediglich genannt, ohne jedoch auf den jeweiligen ‚Nutzwert‘ für die Ausführungen einzugehen.

Spannend ist die Entscheidung, die Verwerfungsbewegungen, die jeden kreativen Prozess und somit auch jedes Schreiben begleiten, an den Beginn zu stellen. Felix Woitkowski fokussiert in seinem Aufsatz „Schreiben als Wegwerfakt“ das Streichen als wesentlichen Bestandteil von Schreibprozessen und widmet sich literarischen Texten, die von Streichhandlungen erzählen. Uwe Wirth fragt, unter welchen Umständen bedrucktes Papier zu Müll wird. Andere Aufsätze reihen sich in die klassische Perspektive ein, Müll als Motiv aufzugreifen, etwa die in Teil II und III versammelten Beiträge von Barbara Thums zu Rolf Dieter Brinkmanns Materialband „Rom, Blicke“ oder Ursula Klingenböcks Blick auf Evelyn Grills Messie-Roman „Der Sammler“. Weitere Autoren der Gegenwartsliteratur, die im Band analysiert werden, sind Christian Kracht, Durs Grünbein und Alexander Kluge. Rückgriffe auf die Zeit der Transformation von der Bewahrungs- zur Entsorgungsgesellschaft wagen Lars Rosenbaums Beitrag zu Stifters „Nachsommer“ sowie Kerstin Rooses Überlegungen zum Plunder in den Texten Gottfried Kellers. Noch weiter zurück greift Mirna Zeman, wenn sie sich materiellen Zyklographien sowie Dingbiographien durch den Topos der erzählenden Dinge am Beispiel von Grimmelshausens „Continuatio des abentheurlichen Simplicissimi“ nähert – ein Fokus, der, wie sie zeigt, in webbasierten Tausch-und-Tracking-Börsen für weggeworfene Bücher fortgeschrieben wird.

William Rathje geht davon aus, dass Abfall als Spur auch unsichtbarer Überzeugungen und Verhaltensweisen fungiert, denn, wie eine Grundüberzeugung der Garbology lautet: „Müll lügt nicht“. So lassen sich die Sonderheft-Beiträge auch als Abfälle, als Reste und Spuren der Forschung ihrer AutorInnen betrachten – vielleicht mitunter sogar als Recycling. Mirna Zeman ist Sprecherin der Forschergruppe „Kulturelle Zyklographie der Dinge“, Solvejg Nitzke Mitherausgeberin des 2012 publizierten Sammelbandes „Katastrophen. Konfrontationen mit dem Realen“. Um solche Verbindungen nicht wie Rathjes Team in mühevoller Recherche rekonstruieren zu müssen, wäre es wünschenswert gewesen, Kurzinformationen zu den jeweiligen AutorInnen zu finden.

Während die Vielfältigkeit der behandelten literarischen Texte beeindruckt, wird der Band sowohl der Heterogenität der heutigen Müllkippe als auch der Abfallforschung nicht gänzlich gerecht. So finden sich zwar Hinweise auf Elektroschrott, die Entsorgungsverweigerungen neuerer Abfälle wie Kunststoffe bleiben jedoch unerwähnt. Rathje fungierte vor seinem Tod im Mai 2012 zusammen mit Carl A. Zimring als Herausgeber der zweibändigen „Encyclopedia of Consumption and Waste“. Hier finden sich neben Einträgen zu Douglas, Thompson oder zur Garbology auch solche zur Geschichte der Abfallwirtschaft, zu Abfällen in einzelnen Ländern sowie Stoffen wie Kupfer, Stahl, Eisen, Gummi und Plastik – Stoffe, die keinen geringen Einfluss auf die jeweiligen Erzählstoffe haben können. Neuere, besonders im angloamerikanischen Raum sich etablierende Forschungsfelder wie die Discard Studies gehen davon aus, dass heutige Abfälle nur im Kontext komplexer Mensch-Ding-Assemblagen sowie weitreichender sozio-ökonomischer Verflechtungen betrachtet werden können. So lassen sich am Beispiel von PET-Flaschen, wie die Arbeiten der Abfallforscherin Gay Hawkins zeigen, rhizomatische Verbindungen zwischen der massenindustriellen Produktion von Plastikflaschen und Recyclingarbeiten in Vietnam herstellen. Diese Verbindungen bleiben im vorliegenden Band weitestgehend unberücksichtigt.

„Entsorgungsprobleme. Müll in der Literatur“ ist angetreten mit dem Vorsatz, Themen und Felder der literaturwissenschaftlichen Abfallforschung abzustecken. Dies ist gelungen. Jetzt muss es im Anschluss darum gehen, tiefer in der Müllkippe zu wühlen, zugleich Infrastrukturen, Entsorgungsverweigerungen und Kontaminationen mitzudenken – sowie den Blick auf die globalen Dimensionen zu weiten. Sorgen muss man sich allemal.

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David-Christopher Assmann / Norbert Otto Eke / Eva Geulen (Hg.): Zeitschrift für Deutsche Philologie. Entsorgungsprobleme: Müll in der Literatur.
Sonderheft zum Band 133.
Erich Schmidt Verlag, Berlin 2015.
308 Seiten, 79,80 EUR.
ISBN-13: 9783503155583

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