Am Schreiben sterben

Michael Lentz’ hochgenaue Beckett-Lektüre im Kölner Institut „Morphomata“

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Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kulturelles Wissen ist nicht nur ein begriffliches Frachtgut, sondern auch eine ideelle Ordnung, die sich in der Ästhetik und Poetik niederschlägt. Ein Beispiel ist die soeben erschienene vorzügliche Studie von Christian Benne zur Erfindung der literarischen Handschrift. Benne rekonstruiert die kulturellen Erscheinungsformen des Manuskripts, das seit der Mitte des 18. Jahrhunderts nicht mehr trotz, sondern gerade wegen seiner Handschriftlichkeit wahrgenommen, tradiert und literarisch geadelt wird. Wobei – das ist die hypothetische Pointe im 21. Jahrhundert – sich die Stärke des Netzes dem Buch und der „Motorik der Hand“ verdankt. Solche Gestaltbildungen und Gestaltwandlungen haben den Kölner Literaturwissenschaftler Günter Blamberger dazu inspiriert, das internationale Kolleg Morphomata ins Leben zu rufen. Es residiert seit 2009 an der Universität zu Köln und hat, neben Vorträgen, Lesungen und Diskussionsveranstaltungen mit renommierten Forschungsgästen (darunter auch Christian Benne) und Autoren, eine ansehnliche Publikationsreihe hervorgebracht. Darin erscheinen auch die Vorträge der Schriftsteller, die als „Dozent für Weltliteratur“ in das Kölner Kolleg eingeladen werden. 2013 war es der in Düren bei Köln geborene Michael Lentz.

Michael Lentz gebührt das Verdienst, so Günter Blamberger in der Laudatio auf den „Literator“, die Experimentalliteratur im deutschen Kulturbetrieb hoffähig gemacht zu haben, mit Engagement, Kennerschaft und Theoriestärke. Lentz hat eine 1200-seitige Dissertation über Verfahren internationaler Lautpoesie und Lautmusik geschrieben, er hat in dem Band „Textleben“ (2011) die europäische Avantgarde und in seinen Frankfurter Poetik-Vorlesungen (2013) die alte Dame Rhetorik ebenso wissenschaftlich wie findelustig analysiert.

In seiner Vorlesung widmet sich Michael Lentz ausführlich dem „Schreiben als Sterben bei Samuel Beckett“. Das ist ein für Lentz, dessen Roman „Muttersterben“ (2001) radikal mit den narrativen Todesarten brach, um vom Sterben als sprach- und religionsskeptischem Prozess zu erzählen, zentrales Thema. „Schreiben als Sterben“ – das ist hier der Prozess, den Beckett seine Figur Malone in dem 1951 zuerst auf Französisch publizierten Roman „Malone stirbt“ beschreiben lässt. Malone befindet sich in einer kafkaesken Situation, er liegt im Bett, sein Zimmer ist sein Lebens- und Schreibraum, er protokolliert buchstäblich alles, auch seine Absencen und Amnesien. So werde Malone, „Sterben schreibend“, zu seiner eigenen Figur, zur Textspur. Lentz zeichnet diese schmale Linie zwischen den res factae und den res fictae feinsinnig an seiner Beckett-Lektüre entlang und kommt dabei zu spannenden Einsichten in den Zusammenhang von Text und Tod. Malone schreibe im Wissen, dass sein Schreiben als Ziel den Tod hat, er sterbe im und am Schreiben. Damit werde das Schreiben als Sterben finalisiert. „Der Tod ist die regulative, die vorherrschende Ordnungsinstanz, Papier und Bleistift sind seine Helferlein.“

Wer will, kann das auf andere Figuren ausweiten, auf Achill etwa, dessen Groll und Zerstörungswille am Ursprung des Erzählens stehen, wie Jürgen Manthey gezeigt hat. Es bleibt zu erwarten, dass Forscher angespornt werden, diesen Figurationen des kulturellen Wissens nachzugehen.

Titelbild

Ines Barner / Günter Blamberger (Hg.): Literator 2013: Michael Lentz. Dozentur für Weltliteratur.
Reihe: Morphomata Lectures Cologne 12.
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2014.
62 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-13: 9783770558223

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