Gegen Paradigmatitis und die unternehmerische Hochschule

Jürgen Kaubes Aufsätze zu Bildungsreformkrisen bieten Diagnosen und Therapien für die Schul- und Hochschulpolitik

Von Bernd BlaschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Blaschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kein Mangel bestand in den letzten Dekaden an Bildungs- und Hochschulreformen. Die Lernstoffe und Lehrmethoden, die pädagogischen wie thematischen Moden lösten einander in flottem Wechsel ab. Nicht zuletzt in den Geisteswissenschaften, aber auch in den Erziehungswissenschaften grassierten die Fieberschübe der Paradigmatitis. Vielfach schien der Wille, es neu und anders zu machen, stärker als die nüchterne Abwägung von Zielen und Risiken der jeweiligen Reformmaßnahmen.

Der stärkste Reformquirl in der Hochschullehre war die Umstrukturierung der Universitäten zu Bachelor- und Masterschmieden, angestoßen durch die Bologna-Vereinbarung, aber lokal vielfach mit je spezifischem Unsinn nachgewürzt. In der Forschung wirkte der allgemeine Trend zur Ausweitung der Drittmittelforschung auf Kosten der nicht projektförmigen Grundausstattung der Universitäten ähnlich grundstürzend. Die Exzellenzinitiative verkörperte diese schon länger bestehenden Tendenz in exemplarischer und forcierter Manier.

Kaum jemand hat die Trends und Strukturveränderungen in den Sozial- und Geisteswissenschaften so stetig, so gut informiert und doch distanziert beobachtet und kommentiert wie Jürgen Kaube. Der studierte Germanist, Philosoph und Kunsthistoriker, der schließlich als Wirtschaftswissenschaftler diplomierte, dann in der Bielefelder Soziologie assistierte, um schließlich Kultur- und Wissenschaftsjournalist zu werden, hatte sich in seiner vielseitigen Ausbildung schon eine gute Überblicksposition erworben. Als Nachfolger von Henning Ritter leitete er die Geisteswissenschafts-Seiten der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Seit 2015 amtiert er, Frank Schirrmachers nachfolgend, als der für das Feuilleton verantwortliche Herausgeber der F.A.Z. Genaue Beobachtungen von Kommunikationsprozessen, klare Argumentation, Lust am Sachstreit und ein prägnant nüchterner Stil kennzeichnen seine Texte. Sie erinnern im Duktus und Ton gelegentlich an Niklas Luhmanns trockenen Witz.

Nachdem Kaube vor zwei Jahren bei Rowohlt eine große Max Weber Biografie publizierte, erscheint nun im kleinen Verlag zu Klampen aus Springe eine Sammlung von zuvor verstreut (jenseits der F.A.Z.) publizierten Essays zu Krisen im Bildungssystem. Sie sind fast ebenso anregend und provokativ wie seine im gleichen Verlag 2007 publizierten Glossen und Essays über Otto Normalabweicher. Der Aufstieg der Minderheiten, die sich den immer weiter ausdifferenzierten Stil- und Lebensentwürfen der postmodernen (oder spätkapitalistischen) Gegenwart widmeten.

Das neue kleine Buch versammelt nun drei Texte zu Bildungszielen, drei wissenssoziologische Texte über Hochschulen als Orte des wissenschaftlichen Streits, der Prestigeverteilung oder als Institutionen, die man (besser nicht) nach dem Modell des wirtschaftlichen Unternehmens steuern sollte, und schließlich vier Texte unter der Überschrift „Zur Lage der Geisteswissenschaften“, die sich um Folgeprobleme des massiven Wachstums und der Innovationsrhetorik der Geistes- und Kulturwissenschaften sorgen. Die neu überarbeiteten Essays wurden zwischen 2006 und 2014 für die Zeitschriften Merkur oder Gegenworte sowie für Sammelbände oder Fachzeitschriften geschrieben. Den Lesern der F.A.Z. sind manche Argumente und die Grundhaltung des Autor vertraut, doch hat man diese allemal bedenkenswerten Texte noch nicht im Stammblatt des versierten Wissenschaftsjournalisten gelesen.

Das stetige Gerede von einer Krise des Bildungssystems muss man mit Kaube vor dem Hintergrund seiner exponentiellen Vergrößerung einordnen und verstehen. Denn das kräftige Wachstums der Zahl höherer Bildungsabschlüsse schafft eine neue Lage und neue Probleme: Was einst exklusiv war, das wurde in den letzten Jahrzehnten ziemlich inklusiv, wie die hohen Abitur- und Studienquoten eines Jahrgangs belegen. Dabei werde das Bildungssystem oft mit eigentlich sachfremden, wirtschafts- oder sozialpolitischen Ansprüchen in mancher Hinsicht überfordert, zugleich aber in anderen, genuin lern- und bildungsbezogenen Hinsichten, die viele Reformen kaum kümmern, auch unterfordert. Ein Essay des Bandes fragt also grundsätzlich danach, was Schule leisten kann und soll – und was nicht. Statt politischer Wunsch- oder Kompensationsprogramme wären realistische Schul- und Bildungsziele hilfreich.

Erklärt wird, wie erhöhte Abiturquoten die Selektionswirkung von Abschlüssen konterkarieren. Dies könne man in Japan schon lange beobachten, denn 97% erreichen dort den höchsten Schulabschluss; doch hat der – eben gerade deswegen – keine Aussagekraft mehr. Die besseren japanischen Hochschulen oder Arbeitgeber suchen sich also zusätzliche Kriterien und schaffen neue Prüfungshürden. Worauf wiederum ein breiter privater Zusatzbildungsmarkt reagiert. Ähnliches dürfe man in Deutschland erwarten, wenn sich Abiturquoten von 50% und mehr sowie die Noteninflation an Schulen wie Hochschulen weiter fortsetzen.

Scharfe Kritik übt der Wissenschaftsjournalist an Bildungssoziologen, deren Studiendesign und deren publizierten Ergebnisse sich kaum für Wirklichkeiten und reale Kausalitäten in Lebensentscheidungen und Lebenswegen interessieren, sondern bloß für ihre eigenen statistischen Datensätze und die darin nachweisbaren, doch unerklärten Korrelationen zwischen Gruppendaten.

Ein Essay über Ziele und Funktionen von Bildungsanstalten (geht es in der Schule hauptsächlich um Erziehung? Sozialisation? Wissensvermittlung?) fragt auch danach, was daraus folgt, wenn die von Wissensansprüchen verdeckte Agenda des Bildungssystems aufgedeckt wird. Dieser gewissermaßen ‚heimliche Lehrplan‘ besagt, dass man dort nämlich weniger Wissensinhalte als vielmehr soziale Fähigkeiten der Selbstbeherrschung, der Interaktion und Organisation erlerne. Doch ist ungewiss, was passiert, wenn Schüler, Eltern, Lehrer und Bildungspolitiker dieses Wissen vom Vorrang der persönlichen und interaktiven Dimensionen vor dem Sach- und Fachwissen in eigene Handlungsstrategien umsetzen.

Das etwa an den wachsenden Wissenschaftsseiten der Zeitungen ablesbare gesteigerte Interesse der Öffentlichkeit an den Wissenschaften – aber auch das der Hochschulen an der Öffentlichkeit – provoziert Reflexionen über die Folgen dieser zunehmenden Außenorientierung des Wissenschaftssystems. Effekte solcher Außenorientierung zeigen sich in Sach- wie Sprachmoden. Letztere bringt Kaube auf den anschaulichen Begriff der „diskursiven Klingeltöne“: Schlagworte, die die Zugehörigkeit zu einem neuen, trendigen Paradigma verbürgen sollen, die den nüchternen Konferenz-Beobachter oder Sammelband-Leser aber eher zum buzz-word-bingo (oder gar zum bullshit-bingo) einladen – also dem spöttischen Ratespiel, bei dem man gewinnt, wenn man die häufigste oder die nächste Verwendung solcher modischen Leitbegriffe richtig voraussagt.

Das intrikate Verhältnis von prestigeträchtigen Öffentlichkeitsmaßnahmen zu den eigentlichen funktionalen Kernaufgaben von Institutionen wurde schon Ende der 1950er Jahre vom Organisationssoziologen Charles Perrow am Fall einer kleinen Klinik untersucht. Seine Beobachtungen und Schlüsse lassen sich gut auf den zunehmend kompetitiven und öffentlichkeitsorientierten Wissenschaftsbetrieb übertragen. Kaube referiert, wie dabei der Prestigegewinn anfangs zu einer Steigerung der Leistungsfähigkeit der Organisation führt – weil sie mehr Klienten und bessere Mitarbeiter gewinnt. Mittel- und langfristig jedoch führe die Verlagerung von Mitteln von ihren Kernaufgaben (also Krankenversorgung bei der Klinik respektive Forschung und Lehre in den Unis) auf periphere Funktionen der Öffentlichkeitsarbeit zur Schwächung der zentralen Abläufe der Krankenversorgung bzw. von Wissensgewinn und Wissensvermittlung in den Hochschulen.

Die deutsche Exzellenzinitiative als staatliche Maßnahme der Forschungsförderung begreift Kaube als ein spätes, krasses Beispiel jener schon länger währenden Mittelumschichtungen von den Kern- und Innenbereichen der Wissenschaft hin zu außengesteuerten Prestigemaßnahmen. Die Politur des Außenbildes von Institutionen bewirkt institutionsintern oftmals nicht nur hohe Kosten der Publicity-Maßnahmen, sondern sie verzerrt auch die interne Kommunikation. Sie ist mithin nicht selten dysfunktional im Hinblick auf die eigentlichen Aufgaben von Hochschulen (oder Krankenhäusern). Pointiert und umsichtig appliziert Kaube hier ältere soziologische Forschungsergebnisse auf aktuelle Problemlagen des Wissenschaftsbetriebs.

Skepsis prägt auch seinen Blick auf die verordnete Interdisziplinarität bestimmter Forschungsprogramme. Aufgrund externer Anreize wie der Exzellenzinitiative werden Wissenschaftlergruppen zusammengefügt zu „Beutegemeinschaften“ (so die explizite, giftige Titulierung Kaubes). Deren fassadenhafte Interdisziplinarität resultiere mehr aus antragsstrategischen Gründen, denn aus tatsächlicher Zusammenarbeit. Wobei sie selbstverständlich viel Zeit fresse, die man für Forschung oder Weiterbildung hätte nutzen können. Als bitteres Fazit seiner Effizienzanalyse der Prestige-, Anreiz- und Umstrukturierungsinitiativen im Bildungssystem konstatiert der Wissenschaftsjournalist schlicht „mangelnde Intelligenz in Organisationen, die eigentlich ihrer Kultivierung dienen.“

In einem seiner Essays fragt der glänzende Polemiker Kaube nach Strukturen, die den fruchtbaren Streit in den Wissenschaften befeuern oder bremsen können. Als förderlich für die Streitkultur listet er stabile regionale Strukturen sowie klare Grenzen von Zentrum und Peripherie oder zwischen einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen. Denn dies bewirke, dass die Kontrahenten sich nicht ständig begegnen oder aufeinander angewiesen sind, etwa bei der Begutachtung des nächsten eigenen Antrags auf Forschungsfinanzierung. Die gegenwärtig flaue Debattenlage im Zeichen epidemischer Paradigmatitis resultiere auch aus veränderten Spielregeln und Erfolgsstrategien im Wissenschaftsbetrieb. Früher bemühten sich wissenschaftliche Schulen um Dominanz innerhalb eines Faches; sie suchten die Herrschaft über die zentralisierten Publikationsorgane. Heutige Paradigmen arbeiten hingegen eher nebeneinander nach der Logik der Konfliktvermeidung: „Schulen wollen Recht haben, Paradigmen wollen ihre Ruhe haben. Konflikt lohnt sich für sie nicht“. Die Ausdifferenzierung von Turns und Paradigmen kassiere Totalitäts- und Hegemonieansprüche von Theorien. Statt eines echten Wissenschaftsstreits erkennt der Frankfurter Journalist in den jüngeren Feuilleton-Debatten nur noch dessen Wiederkehr als Farce:

Wenn Theorien nicht mehr als Theorien, sondern als Paradigmen verarbeitet werden, wird nicht mitrezipiert, was sie ausschließen, sondern nur noch, was sie ermöglichen [….]. In zerstörerischer Absicht zu forschen, wie es Gaston Bachelard einst als Erkenntnismerkmal von Wissenschaft bezeichnet hat, „gegen“ vorhandene Theorien zu lesen, weil sie Irrtümer repräsentieren, ist nicht en vogue. Es werden gewissermaßen das Dagegensein – denn natürlich hält man nicht viel voneinander – und das Zusammensein kombiniert. Wenn noch gestritten wird, dann vor großem Publikum und ohne Erkenntnisabsichten, wofür Konfliktparodien wie der Historikerstreit oder, fast unüberbietbar, die Rauferei „Honneth und alle anderen Frankfurter gegen Peter Sloterdijk“ hinreichend illustrativ sind.

Systematisch geht der im Grunde gewiss nicht wirtschaftsfeindliche Beobachter Kaube (der als Student immerhin die Geisteswissenschaften für die Ökonomie drangab) die Analogien und Differenzen zwischen Unternehmen und Hochschulen durch – und verwirft das seit einigen Jahren als Modell ausgerufene Konzept der unternehmerischen Universität. Das zeichnet ihn als Luhmannianer aus und zeigt seine Distanz zum neoliberalen Credo, das alle Gesellschaftsbereiche marktförmig organisieren möchte. Denn zu unterschiedlich seien die Ziele, Gegenstände und Steuerungsprozesse in gewinnorientierten Unternehmen und in wissens- und bildungsorientierten Hochschulen. Das vermeintlich vor Bürokratisierung und Abschottung gegen ihre sozialen Umwelten schützende Reformmodell der unternehmerischen Hochschule erweist sich in dieser nüchternen Analyse als eine weitere, letztlich dysfunktionale Reformmode, die dem eigentlichen Geschäft und Anliegen schaden. Die erstrebten Ziele, die man sich von der Umorientierung hin zur unternehmerischen Hochschule erhofft, nämlich „die Kombination von Durchsetzungsfähigkeit und kognitiver Offenheit“, welche man gemeinhin der Wirtschaft zuschreibt und auch für die Hochschulorganisation gerne sähe, solle man besser nicht als Wertfrage betrachten. Statt der schlagwortartigen Schlachtaufstellung ‚Kapitalismus oder Humboldt‘ sollten besser die Organisations- und Funktionsfragen zur notwendigen „Kombinierbarkeit von Autonomie, Fremdkontrolle und Leistungsfähigkeit der Hochschulen“ gestellt und sachgemäß beantwortet werden.

Die deutsche Neigung zum geisteswissenschaftlichen Studium und das damit einhergehende Wachstum der Branche betrachtet Kaube als Besonderheit im internationalen Vergleich und ergründet dann einige Folgeprobleme. Entgegen dem ubiquitären Krisen- und Untergangsgeraune im Bildungsdiskurs versteht Kaube viele Problemdiskussionen gerade als Folgen von Wachstum, Erfolg und Expansion. Er moniert die Vernachlässigung der Lehranreize, weil Karrieren in der Wissenschaft quasi ausschließlich über Forschungserfolge (oder neuerdings: über die Einwerbung von Forschungsmitteln, also: Forschungsversprechen) befördert werden. Dies führt zu immer ausdifferenzierteren Spezialisierungen der Forschungsgebiete, was erneut für die Studierenden und ihre Bildungs- oder Ausbildungsbedürfnisse wenig hilfreich ist. Forscher haben kaum mehr Zeit, etwas anderes als Antragsentwürfe, Call for Papers, Reisekostenregelungen und Evaluationsrichtlinien zu lesen – wovon die Lehre keineswegs profitiert. Kurzum: „Die Forschung ist der Parasit der Lehre.“

Trotz vielfältiger Kritik an institutionellen Missständen und Verzerrungen sieht Kaube die deutsche geisteswissenschaftliche Forschung freilich auch als eine Erfolgsgeschichte. Und er lobt gar einige seines Erachtens besonders leistungsfähige Disziplinen wie Musik- und Kunstgeschichte, Geschichte des öffentlichen Rechts und des 19. Jahrhunderts, Altphilologie oder Ideengeschichte der Frühen Neuzeit. Nach welchen Kriterien, mit welcher Expertise und mit welchen Instrumenten sich der Wissenschaftsjournalist so zum Meta-Evaluator aufschwingt, der ganze Disziplinen und Erträge von Jahrzenten wägt und bewertet, dies bleibt hier – beim sonst so belegstarken Jürgen Kaube – für einmal sein Geheimnis. Unterhaltsam, abschreckend und bedenkenswert ist hingegen seine Liste von modischen Schlagwörtern, Formulierungen und Leerformeln bestimmter kulturwissenschaftlicher Forschungs- oder Selbstdarstellungs-Trends, mit denen der Wissenschaftsbeobachter auf Konferenzen oder bei der Antragslektüre buzzword-Bingo spielen könne.

Als kleiner Baukasten kluger wissenssoziologischer Reflexionen im frühen 21. Jahrhundert sei dieser Band jedem im Bildungssystem Tätigen und an dessen Entwicklungen Interessierten empfohlen. Die Suche nach vernünftigen Zielsetzungen, nach wirklichen Kausalitäten bei Bildungsproblemen und die Antizipation erwartbarer Konsequenzen von Reformmaßnahmen sind Leitlinien von Kaubes argumentationsstarker Publizistik. Dieses dünne Bändchen bohrt dicke Bretter. Es bietet Orientierung für Bildungspolitiker und für die wachsende Berufsgruppe der Wissenschaftsmanager.

Titelbild

Jürgen Kaube: Im Reformhaus. Zur Krise des Bildungssystems.
zu Klampen Verlag, Springe 2015.
174 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783866744073

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