Von ‚Ambient Art‘ bis ‚Young British Artists‘

Das neue Begriffslexikon zur zeitgenössischen Kunst

Von Gabriele WixRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gabriele Wix

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Früher war die Standardausstattung in jedem Haushalt, der sich bildungsnah gab, der Kleine Brockhaus, daneben vielleicht noch ein Lexikon der medizinischen Fachbegriffe und ein Schauspiel- oder Opernführer. Heute werden Sachinformationen gegoogelt oder aus Online-Nachschlagewerken gewonnen. Und nun das: Ausgerechnet der zeitgenössischen Kunst, einem der flüchtigsten aller Gegenstände, widmet sich das 2014 erneut von Hubertus Butin herausgegebene und jetzt nicht mehr bei DuMont, sondern bei Snoeck verlegte analoge Begriffslexikon, 376 Seiten stark, mit rund neunzig Einträgen von „Ambient Art“ bis „Young British Artists“. Skepsis scheint angebracht, ob ein solches Unternehmen gelingen kann.

Aber da gibt es bereits zwei erfolgreiche, lang vergriffene Vorgängerbände, die 2002 und 2006 erschienen. In der Neubearbeitung wurden einige Beiträge aussortiert und neue aufgenommen wie beispielsweise „Künstlerbuch“, dessen besonderen medial-materialen Status Michael Diers mit einem Zitat von Richard Tuttle auf den Punkt bringt: „Das Buch ist die Schau“. Da gibt es ferner einen Herausgeber mit großer Expertise, der einen bunten Mitarbeiterstab um sich versammelt, der sich beinahe wie das Who’s who der aktuellen Kunstszene liest. Und schließlich das Cover: Bauchspeck, Bierwurst, Fleischkäse, Blutwurst, Gürkchen und allerlei Kleinzeug liegen auf fahlem grauen Grund. In einem ebenso fahlen Rosa erscheint der Aufschnitt selbst. Diesen matten rosa Farbton nimmt das rückwärtige Cover auf und verkehrt ihn in unglaubliche Eleganz. Das sitzt und prägt sich ein: ein Geniestreich der Grafikerin Margarethe Hausstätter. 

Der Leser der Rezension wird es schon erraten haben: Auf dem Cover ist ein Ausschnitt des Fotos „Im Teppichladen“ aus der Wurstserie von Peter Fischli und David Weiss abgebildet. Diese neunteilige Fotofolge stand am Beginn ihrer Zusammenarbeit, das heißt sie stammt bereits von 1979. Das Stichjahr, mit dem die Zeitgenossenschaft in diesem Lexikon ansetzt, geht noch weiter zurück bis 1960. Und auch dabei bleibt es nicht. Im Namensregister folgt auf Maria Reiche Ad Reinhardt, auf Sarai Jean-Paul Sartre; René Descartes folgt auf Carola Dertnig, John Constable auf Tony Conrad oder Gerhard Richter auf Rembrandt. Das Zeitgenössische kommt nicht aus dem Nichts, und es in einen weiten Traditionszusammenhang zu setzen, ist ein großes Verdienst dieses Nachschlagewerks. Die Beiträge verstehen sich denn auch weniger als klassische Lexikoneinträge, sondern eher als kritische Essays, sie sind kenntnisreich und profiliert. Das macht sie lesenswert – über das Tagesgeschäft und die Suche nach Information mit einem raschen Klick hinaus.

Leider bleibt dem Leser die eine oder andere Ungereimtheit nicht erspart, wie eine Probe aufs Exempel zeigt. Hubertus von Amelunxens Beitrag zum Covermotiv mit dem Titel „Inszenierende Fotografie“ ist im Vergleich zur Erstausgabe – bis auf die Streichung einer kritischen Passage über die Machenschaften des Kunsthandels und die Hinzufügung einer neuen und im übrigen sehr guten Literaturangabe – nur geringfügig redaktionell bearbeitet. Dass sich dabei Fehler einschleichen, „ab den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts“ aus der Erstausgabe wird zum Beispiel schematisch und damit falsch korrigiert in „ab den 1980er Jahren des 19. Jahrhunderts“, ist eine Sache. Ein No-Go ist jedoch, dass die verstörend-skurrile Cover-Fotografie von Fischli/Weiss – unnötigerweise – im Artikel selbst noch einmal in Schwarz-Weiß abgebildet ist, und zwar seitenverkehrt. Jeder, der im philologisch-kulturwissenschaftlichen Bereich Bücher publiziert, weiß, unter welch prekären Bedingungen sie gemacht werden. Hier spricht die Danksagung Butins an den Mäzen Bände. Und auch bei finanziell bestens abgefederten Ausgangsbedingungen unterlaufen Fehler, aller Sorgfalt zum Trotz. Aber in der dritten Auflage ist die Wiederholung einer seitenverkehrten Abbildung nicht mehr so ganz nachzuvollziehen.

Möglicherweise wird das den Herausgeber noch mehr ärgern als die Rezensentin oder den Leser – deshalb sollte man nicht kleinlich sein: Das Begriffslexikon zur zeitgenössischen Kunst ist unbestritten ein lesenswerter Band, der jedoch im Schwerpunkt die bildende Kunst von den 1960er-Jahren bis zum Ende des 20. Jahrhunderts abdeckt. Wer die DuMont-Nachschlagewerke zur „modernen Kunst“, so die Terminologie in den 1970er-Jahren, geschätzt hat, wird gerne zum neuen Begriffslexikon aus dem Snoeck-Verlag greifen. Wer sich bislang eher im Web bewegt hat, wird Lust bekommen, im Buch zu blättern. Und hat er es einmal in der Hand, wird er hängen bleiben, nicht zuletzt wegen des ausgesprochen benutzerfreundlichen Layouts. Als Begriffslexikon zur zeitgenössischen Kunst wird es seinem Gegenstand immer hinterherhinken. Als Dokument der Rezeption von zeitgenössischer Kunst – wie auch immer diese zu definieren sein mag –  zu Beginn des 21. Jahrhunderts wird es nicht veralten.

Titelbild

Hubertus Butin (Hg.): Begriffslexikon zur zeitgenössischen Kunst.
Snoeck Verlagsgesellschaft, Köln 2014.
375 Seiten, 24,80 EUR.
ISBN-13: 9783864421006

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