Der Verlust der Illusion und ihre Wiederkehr

Guy de Maupassants 1883 erstmals erschienener Roman „Ein Leben“ liegt in neuer Übersetzung vor

Von Regina RoßbachRSS-Newsfeed neuer Artikel von Regina Roßbach

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das „Leben“, das Guy de Maupassant in seinem ersten Roman abgebildet hat, ist das von Jeanne Le Perthuis des Vauds, der Tochter eines Barons. Aus der fröhlichen, verschwenderischen Atmosphäre ihres adeligen Elternhauses stürzt sie in die Arme eines grausamen, geizigen Ehemannes. Was ihr zum Verhängnis wird, ist ihre Arglosigkeit in beinahe allen Lebensbereichen: Jeanne erlebt ihre Schicksalsschläge als passives Ausgeliefertsein. Selten wurde in einem Roman des 19. Jahrhunderts einer weiblichen Figur mehr abverlangt als dieser: Ehebruch, Fehlgeburt, Kriminalität des Sohnes, Verschuldung. Und selten war eine Figur solchen Härten des Lebens weniger gewachsen.   

Worum es in diesem Roman gehen soll, beschreibt die Heldin in einem Moment der Erkenntnis selbst, als sie ausruft: „Wie man sich doch jeden Tag in allen täuscht.“

Das eigentliche Thema ist insofern die Perspektive der Figur, also neben ihren Ent-Täuschungen noch vielmehr ihre Selbst-Täuschungen. Und zugleich deren andauernde Wiederholung. Denn immer wieder erschafft Jeanne neue Illusionen, denen sie sich kopf- und maßlos unterwirft. Jeder tiefen Verzweiflung folgt ein neues Traumbild. Mal ist es in die Vergangenheit gerichtet, wenn sie „Mamachen“ und „Papachen“ idealisiert, mal auf die Zukunft, etwa durch seliges Warten auf die Rückkehr ihres verhätschelten Sohnes, mal auf die Religion, mal auf die Liebe. Es lässt sich deshalb kaum von der Geschichte einer Desillusionierung sprechen, eher von einer ihrer Unmöglichkeit.

Maupassant gibt den Schwankungen in Jeannes Seele durch eine impressionistische Schreibweise Ausdruck. Lange, ungestüme Sätze geben Jeannes kindliche Liebesträume wieder, populäre Romane eher parodierend als imitierend:

Und plötzlich war es ihr, als spüre sie, wie er sich an sie drängte; und jäh überlief sie von den Füßen bis zum Kopf ein unerklärlicher, sinnlicher Schauer. In einer unbewussten Regung schlang sie die Arme um die Brust, wie um ihren Traum an sich zu drücken; und über ihre dem Unbekannten dargebotenen Lippen strich etwas, das sie fast die Besinnung verlieren ließ, als habe der Frühlingshauch sie liebend geküsst.

Solchen Passagen sind knappe, präzise Sätze in Momenten der Klarsicht gegenübergestellt: „Da wurde ihr klar, dass sie nichts mehr zu tun hatte, nie mehr etwas zu tun haben würde.“ Die Übersetzerin Cornelia Hasting hat solche Kontraste sensibler übertragen als ihre Vorgänger. In zutreffender Schärfe gibt sie etwa die Worte wieder, mit denen der Kapitän auf der Hochzeitsreise von Jeanne und Julien die Insel Korsika beschreibt: „Können Sie sie riechen, diese Schlampe?“ In einer früheren Übersetzung von Ingeborg Havemann-Harnack hieß es zurückhaltender: „Riechen Sie schon das Weibsbild da drüben?“ Die in der Übersetzung hervorgehobene starke Differenz zwischen harter, roher Sprache und blumiger Schwärmerei wird der Leistung Maupassants gerecht, das Auseinanderdriften von Traum und Wirklichkeit auch sprachlich umgesetzt zu haben.  

Lässt sich Jeannes Weltfremdheit auf ihre soziale Stellung zurückführen? So hat man etwa die für Maupassant ungewöhnliche Situierung des Romans in der Vergangenheit dadurch zu erklären versucht, dass sein Roman in erster Linie Kritik an der Lebensweise des Adels üben sollte, dessen Bedeutungsverlust sich nur im historischen Rückblick erschließen konnte. Julian Barnes, dessen Nachwort zum Roman in dem neuen Band enthalten ist, wertet Jeannes Schicksal deshalb als Maupassants Diagnose der Situation einer Frau in der wohlhabenden Gesellschaft. Mit ihrer Tatenlosigkeit werde zugleich die „Nichtsnutzigkeit einer ganzen sozialen Klasse zusammenfasst“.

Andererseits kann der Roman als literarische Positionsbestimmung Maupassants gelesen werden. Barnes entfaltet in diesem Sinne seine Beziehung zu den beiden Personen, denen der Roman gewidmet ist: Gustave Flaubert, an dessen „Madame Bovary“ „Ein Leben“ unverkennbar erinnert, und Madame Brainne. Es sei das Verhältnis eines aufstrebenden Schriftstellers zu seinen bedeutendsten Paten. Flaubert verstand sich seit ihrer Begegnung mit Maupassant bis zu seinem Tod als väterlicher Freund und Lehrer. Madame Brianne war eine umtriebige Journalistengattin, Beraterin und vielleicht Geliebte. Mehrere, ebenfalls abgedruckte Briefe Flauberts an sie bezeugen die Uneinigkeit der beiden über die Richtung, die Maupassants Schreiben einnehmen solle. Während Flaubert Maupassants ungeschönte Realitätsschilderungen lobt, wünscht Madame Brainne eine stärkere Orientierung am Publikum: etwas mehr Taktgefühl, das er etwa durch die Behandlung höherer Gesellschaftsschichten erreichen könne. Der Konflikt des Autors zwischen diesen beiden Polen sei in „Ein Leben“ erkennbar, so Barnes.

Viel deutlicher noch scheint der Roman aber auf Maupassants Stellung zwischen Realismus und Naturalismus, zwischen Flaubert und Zola hinzuweisen. Er gehört zu der Gruppe junger Schriftsteller, die sich 1877 mit ihren literarischen Vorbildern Flaubert, Edmond de Goncourt und Zola im Restaurant Trapp treffen – ein Austausch, aus dem die Schule des Naturalismus hervorgehen sollte. In gewisser Weise vermittelt Maupassants „Ein Leben“ zwischen Flauberts künstlerischer Askese – durch Reduktion auf wenige, in einem Ausschnitt der Provinz arrangierten Figuren –  und Zolas Betonung der grauenvollen, tierischen Seite des Menschen.

Die bedeutungsvollen letzten Worten des Romans sind eine weitere Hommage an Flaubert, denn sie stammen aus einem seiner Briefe an Maupassant: „Wissen Sie, das Leben ist nie so gut oder so schlecht, wie man glaubt.“ Barnes versteht ihn zugleich als Zeichen der Ablösung von dem großen Vorbild, spreche der Roman doch insgesamt dafür, dass Jeannes Leben mindestens genauso enttäuschend verlaufen sei, wie sie es wahrgenommen habe, wenn nicht schlimmer.

Trotzdem – und auch das steckt im abschließenden Satz des Romans – ist die Problematik Jeannes eine, die das Leben jedes Menschen zu beschreiben scheint, wie auch der allgemein gehaltene Titel „Ein Leben“ eine Generalisierbarkeit andeutet. Denn wo genau zwischen Projektionen und Natur, Traum und Wirklichkeit die Grenzen zu ziehen sind, und wie es sich mittig dazwischen leben lässt, ist im Schicksal der Romanfigur letztlich genauso unbestimmt und unklar wie im Leben schlechthin. Der Leser wird am Ende mit einer Frage konfrontiert, die das Gelesene noch einmal radikal in Frage stellt und ein Übertragen auf das eigene Leben provoziert. Diese Vieldeutigkeit des Romans ist der Grund, warum man mit ihm auch in Zukunft nie ganz fertig werden wird. Nicht zu Unrecht bezeichnete Tolstoi „Ein Leben“ als besten Roman Frankreichs seit Victor Hugos „Die Elenden“.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Guy de Maupassant: Ein Leben. Roman.
Mit einem Nachwort von Julian Barnes.
Übersetzt aus dem Französischen von Cornelia Hasting.
Mare Verlag, Hamburg 2015.
381 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783866481947

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch