Im Hintergrund des Dichterlebens

Carlo Zanda porträtiert die Menschen, die Hermann Hesses Leben im Tessin ermöglichten

Von Johannes SchmidtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johannes Schmidt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Unter dem Titel „Dank ans Tessin“ kann man Hermann Hesse hören, wie er seine kleine Skizze „Wahlheimat“ (geschrieben 1930, publiziert in der „Neuen Zürcher Zeitung“ vom 20.4.1933) vorträgt. Das Datum der Aufnahme, Oktober 1954, machte Änderungen nötig: Die Zahl der Jahre, die er im Tessin verbracht habe, wurde von elf auf 35 erhöht. So hört man also einen alten Mann, der das Schwäbische seines Ausdrucks nicht ganz verloren hat, vor allem aber mit übertriebenem Pathos diese kleine Liebeserklärung vorträgt, jede Wortendung betonend, mit brunnentiefem „u“ und gedehntem „ei“.

Zwei Dinge fallen in der Fassung von 1930 ins Auge: Der Wunsch nach einem eigenen Haus in der  Nähe von Lugano und die Überzeugung, dass „ein Dichter […] in vielen Beziehungen das anspruchsloseste Wesen der Welt“ sei, „in andern Beziehungen“ aber viel verlange (wer möchte, kann das in Band 12 der 20-bändigen Werkausgabe nachlesen). Der Wunsch fällt im Vortrag weg, wohl weil er sich schon Jahre zuvor erfüllt hat, die Charakterisierung des Dichters aber bleibt.

Hermann Hesse im Tessin, das ist wie Johann Wolfgang von Goethe in Weimar, nur schlimmer. Es ist Tourismus, Reiseführer, Brevier und Anthologie, ist Nacherzählung, Neuerzählung, Umerzählung und Kalenderblatt. Warum das schlimmer ist als bei Goethe? Der hinterließ keine Zeitzeugen, die dem Boom der Tourismus- und Devotionalienbranche nach dem Zweiten Weltkrieg gelegen kamen, keine Fotografien und keine Tonaufnahmen. Goethe ist weit genug weg, um keine eigene Erinnerung zu berühren; Hesse wurde alt, als die heutigen Eltern und Großeltern jung waren. Hesse-Tourismus ist eine Reise in die 1950er- und frühen 60er-Jahre, da verbindet sich das kulturelle Interesse mit der Erinnerung an den ersten Italien-Urlaub mit dem neuen Auto. 

Hesse wäre das kaum recht gewesen. Er hatte sich die südlichste Ecke der Schweiz ausgewählt, um seine Ruhe zu haben und um ungestört schreiben zu können. Hier ließen sich die Anspruchslosigkeit des Dichters und seine hohen Bedürfnisse unter einen Hut bringen: Ruhe ja, Landschaft auch, aber bitte keine aufwendige Haushaltung, keine moderne Technik. Ermöglicht wurde das durch die Menschen, die in Hesses Umgebung lebten und arbeiteten, die den Ort, Montagnola, und den Haushalt des Schriftstellers zusammenhielten.

Diesen Personen widmet sich der italienische Journalist und Autor Carlo Zanda in seinem Buch „Hermann Hesse. Seine Welt im Tessin – Freunde, Zeitgenossen und Weggefährten“. Er verzichtet darauf, den Reiseführer zu spielen, lässt die Landschaft Landschaft sein und folgt dem hübsch-morbiden Einfall, jene Menschen zu porträtieren, die sich mit Hesse und seiner Frau Ninon den Friedhof von St. Abbondio teilen. Das bedeutet, dass man auf viele Namen verzichten muss: Thomas Mann, Max Brod, André Gide, Martin Buber, Romain Rolland, Stefan Zweig, sie alle tauchen nur beiläufig auf, als Besucher oder Korrespondenzpartner. Stattdessen lernt man Natalina Bazzari kennen, Hesses erste Tessiner Köchin und Haushälterin, Lorenzo Cereghetti, den Gärtner der Casa Rossa, jener Villa, die von Freunden ausdrücklich für Hesse gebaut worden war, oder Giulio Petrini und dessen Familie, die den Postdienst in Montagnola übernommen hatten und denen nun die nicht kleine Aufgabe zukam, die Briefmassen, die dem Schriftsteller auf seinem Hügel zugeschickt wurden, in Schubkarren zuzustellen.

Nicht alle Porträtierten standen in Beziehung zu Hesse. Rino de Nobili und seine Frau Elsa Nathan-Berra beispielsweise lebten zwar in der Nähe und verfolgten mit der Ablehnung des Faschismus und der Unterstützung Vertriebener im Zweiten Weltkrieg sogar die gleichen Ziele wie der Schriftsteller. Zu einem persönlicheren Kontakt, als sich nachbarschaftlich zu grüßen, ist es aber nie gekommen. Eventuell stand dem eine Sprachbarriere entgegen – um Hesses Italienisch stand es wie um de Nobilis Deutsch, nämlich schlecht.

Eine solche Ansammlung kurzer Texte – 64 sind es an der Zahl – könnte rasch anekdotisch werden. Und tatsächlich lernt man die eine oder andere skurrile Facette Hesses kennen. So habe der wenig technikaffine, ungeduldige Herr regelmäßig das Kabel seiner Schreibtischlampe abgerissen, wenn er diese umstellen wollte, was zu ebenso regelmäßigen Reparaturaufträgen beim Elektriker Sergio Balmelli führte, den Hesse infolgedessen „einen hilfreichen Engel“ nannte. Überhaupt zeigte er sich seinen Mitmenschen gegenüber sehr dankbar; Petrini, der Postbote, erhielt kleine Geschenke und Entschuldigungsschreiben, wenn er besonders viel zu tun bekommen hatte, etwa nach der Flut von Glückwünschen zur Nobelpreisverleihung 1946. Unfreiwillig verlangte der ,anspruchslose‘ Schriftsteller offenbar viel, bemühte sich im Gegenzug aber auch, damit niemandem allzu sehr zur Last zu fallen.

Solche Anekdoten sind aber nicht Zandas eigentliches Ziel. Man merkt ihm an, dass es ihm um einen lebendigen Eindruck von Hesses Lebenswelt geht, weswegen er auch die Nachfahren von Hesses Zeitgenossen aufgesucht hat, die zu einer wichtigen Quelle für dieses Buch geworden sind. Immer wieder schiebt er kurze Texte ein zu den Werken, die in Montagnola entstanden sind, zu Krieg und Frieden, zu den drei Ehen oder zur Gartenarbeit, dem Ausgleich zum Stubenhocken des Literaten. Am Ende steht ein Bericht über die Verleihung der Ehrenbürgerwürde durch den Gemeindepräsidenten Ferdinando Brocchi, die zu drei Festtagen um Hesses 85. Geburtstag am 2. Juli 1962 herum führte. Wie alle Kapitel ist auch dieses reich mit zum Teil unveröffentlichtem Material bebildert. Man sieht einen dünnen Hesse mit dünnem Haar, der den kräftigen Hals reckt und im Sitzen seine Urkunde empfängt, fast ein wenig stolz wirkend, während er auf der offiziellen Aufnahme die ihm gebührende Bildmitte seiner Frau überlässt und etwas desinteressiert zur Seite blickt. Die Dankrede, die er halten musste, hatte er sich zuvor aufgeschrieben, um mit seinen brüchigen Sprachkenntnissen nichts zu riskieren.

Man kann nur hoffen, dass er sie weniger tragend vorgelesen hat als seinen „Dank ans Tessin“, den man besser versteht, wenn man Zandas Buch liest. Dann nämlich weiß man, an was und an wen er dachte, als er die Zeilen erstmals zu Papier brachte und sie viele Jahre später für das Radio aufnahm. Das hat nicht viel mit bereisenswerter Schriftstelleridylle zu tun, sondern mit den konkreten, ganz profanen Erfordernissen einer ,Dichterexistenz‘, mit dem Leben, das seine Mitmenschen ihm ermöglichten. Schon allein deswegen ist dieses Buch eine willkommene Abwechslung im Genre der Hesse-im-Tessin-Literatur.

Titelbild

Carlo Zanda: Hermann Hesse. Seine Welt im Tessin – Freunde, Zeitgenossen und Weggefährten.
Limmat Verlag, Zürich 2014.
367 Seiten, 39,00 EUR.
ISBN-13: 9783857916816

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch