Ein Balanceakt zwischen großem Liebesdrama und Groschenroman

J.F. Dams „Die Nacht der verschwundenen Dinge“ spielt mit Klischees der Trivialliteratur

Von Yvette RodeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Yvette Rode

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Tausendmal berührt, tausendmal ist nichts passiert. Tausend und eine Nacht und es hat Zoom gemacht.“ Mit dem Refrain aus Klaus Lages Schlager-Hit der achtziger Jahre wäre der Plot des Romans Die Nacht der verschwundenen Dinge von J.F. Dam im Groben umrissen: Dessen Protagonist, der Architekt Thomas, verliebt sich bei einem Konzertbesuch von einem Augenblick auf den anderen in die Neurologin Helen, Mutter zweier Kinder und noch dazu die Frau seines besten Freundes Michael. Bis zu diesem Abend hat Thomas sie „nie wirklich wahrgenommen“. Obendrein ist er mit der ehrgeizigen Modedesignerin Christina verheiratet, die sich allerdings mehr um ihre Kollektionen als um ihren Mann kümmert. Zunächst versucht Thomas, seine aufkommenden Gefühle für Helen zu unterdrücken und beginnt eine Affäre mit seiner Arbeitskollegin Monika, reist nach Japan, konsumiert Alkohol und LSD. Trotz der zweifelhaften „Antihelenstrategie“ kann er sie nicht vergessen und gesteht ihr seine Liebe. Kurz darauf beginnen sie eine Liaison, die sie nicht lange vor ihren Partnern geheim halten können. Das Geständnis hat für beide drastische Konsequenzen. Am Ende des Romans muss Thomas nicht nur um seine Ehe und seine Freundschaft mit Michael sondern auch um Helens Leben bangen.

Das alles erinnert auf den ersten Blick an einen Groschenroman, gestrickt nach dem erwartbaren Muster einer folgenschweren Affäre. Doch bereits auf den ersten Seiten wird deutlich, dass Die Nacht der verschwundenen Dinge nichts mit den Geschichten von Inga Lindström und Rosamunde Pilcher gemein hat. Statt der Liebesbeziehung steht Thomas’ Verfall im Zentrum, der vom selbstbewussten Architekten zum Nervenbündel mutiert, das seinen Gefühlen gegenüber Helen machtlos ausgeliefert zu sein scheint, zunehmend den Bezug zur Realität verliert und sich seinen Mitmenschen gegenüber immer noch als perfekter Ehemann präsentiert.

Dam bedient sich zudem zahlreicher Klischees, die den Roman in die Nähe zur Trivialliteratur zu rücken scheinen – aber ihn um eine zusätzliche, kritische Dimension anreichern. Der Autor ist klüger als die Stereotype, derer er sich bedient: Besonders die Nebencharaktere werden von ihm teilweise so übertrieben gezeichnet, dass sie wie Karikaturen wirken. So trägt Thomas’ Chef Phillip Waldner beispielsweise eine „Hipsterbrille, Vollbart und was sonst noch dazugehörte“ und heiratet seine Assistentin Monika, die zuvor eine Affäre mit Thomas hatte. Die Bauingenieurin ist die einzige Frau im Unternehmen und wird von Dam als Mischung aus Computergenie und attraktiver femme fatale mit schwarzen Haaren und roten Lippen entworfen. Natürlich – den Klischees sei Dank – machen die Männer seit ihrem Dienstantritt Überstunden. Waldners Geschäftspartner Edgar Kunig ist „ein aus höchsten Biohausweihen gefallener Architekt mit schulterlangen Haaren“; Christinas bester Freund Ferry hingegen ist erfolgreicher Inhaber einer Werbeagentur mit Glatze und dunkelblondem Ziegenbart, hat nicht nur ein Faible für extravagante Kleidung, sondern neigt obendrein zur Selbstdarstellung. Von Monogamie dagegen hält er nicht viel. Christina ist eine ehrgeizige Karrierefrau aus reichem Elternhaus, die nur ihre neuesten Modekollektionen im Kopf hat und gegenüber Thomas als hysterische Diva auftritt.

Mit seinen Nebenfiguren führt Dam die Oberflächlichkeit der Menschen aus der gehobenen Gesellschaft vor und gibt sie der Lächerlichkeit preis. Ungeachtet ihres beruflichen Erfolgs sind sie gescheiterte Existenzen: Christina kümmert sich beispielsweise nur um ihre Karriere und merkt dabei nicht, dass sich ihr Mann immer mehr von ihr entfremdet und sich in Helen verliebt. Ferry ist trotz seines Erfolges mit seinem Leben unzufrieden und flüchtet sich in Affären und Drogen. Protagonist Thomas vermag hinter die Fassade zu blicken und den Jahrmarkt der Eitelkeiten zu durchschauen: „Ich hatte einen Abend unter Menschen hinter mir, die ich meist als Freunde bezeichnete, doch wer waren diese Leute? Sie gaben vor, das Außergewöhnliche zu wollen, aber ich war sicher, sie hatten Angst. Angst vor Einsamkeit und vor dem Unerklärlichen“.

„Ohne Pathos und deshalb umso eindringlicher erzählt J.F. Dam davon, wie sich das Leben in einem einzigen Augenblick von Grund auf ändern kann“. So heißt es im Klappentext über den Roman. Doch bereits bei der Lektüre der ersten Sätze des Romans merkt man: pathetischer geht es kaum. Eine der leidenschaftlichsten Passagen in Die Nacht der verschwundenen Dinge ist zweifellos der Partnertausch während eines gemeinsamen ‚Paarurlaubs’ in Portugal, bei dem der betrunkene Michael im Beisein von Thomas dessen Frau Christina Avancen macht. Dem Protagonisten gefällt es, dass Michael Christina beim Tango tanzen „an die Brüste fasste, mit der Hand ein Stück in ihr Kleid rutschte, und dass er bei einer Spreizbewegung des Tangoschritts […] eine lustvolle, gespielte Bewegung von Christinas Brüsten hinab in ihren Schoß vollführen ließ. […] Es kam [ihm] vor wie ein sexueller Akt. Die Körper bogen sich der eine dem anderen entgegen, als wären sie gespannte Bögen, die sogleich ganz ineinanderschnellen und infolgedessen ununterscheidbar würden“.

Dams sprachliche Finesse vermag die Imagination seiner Leser*innen anzuregen und sie zugleich zu manipulieren: Statt zu einer Affäre kommt es nämlich nur zu einem scheuen Kuss zwischen den beiden.

Erzähltechnisch bedient sich Dam in Die Nacht der verschwundenen Dinge der Perspektive des Ich-Erzählers. Die Leser*innen bekommen so einen Einblick in die Psyche des Protagonisten und erfahren, wie sehr Thomas leidet und an seinem Liebeskummer zu zerbrechen droht. „Meine Angst wächst. Sie wächst in Schichten. Sie wuchert über meinen Kopf hinaus und wird mich, wenn ich keine Gegenmaßnahmen ergreife, ersticken. Nur noch anderthalb Stunden bleiben mir, die Angst in Schranken zu weisen. […] Und genau das macht die zweite Angststufe aus. Diese zweite Stufe der Angst ist wie ein Gebäude, wie ein Labyrinth“.

Etwa ab der Mitte des Textes werden Thomas’ Gedanken in der Form von Tagebucheinträgen wiedergegeben, bevor der Roman im letzten Drittel wieder zur Ich-Erzählung zurückkehrt. Auffällig sind in den bewusstseinsunmittelbar gehaltenen Einträgen die teilweise stakkatoartig gereihten oder abgehackten Sätze etwa: „Und als wir bei meinem Wagen ankommen, verliere ich gerade, ich verblute in der Abenddämmerung zwischen rauchenden Himmeln und Verheißungen auf das höchste Paradies, das fünfzehn Minuten lang neben mir im Wagen sitzt und dann, als wir vor ihrem Haus halten, die Wagentür öffnet, liebevoll mit ihrer Linken meine rechte Hand drückt zwischen Ballen und Fingerspitzen – und rasch aussteigt“. Mag diese bewusste Missachtung syntaktischer Regeln auch einige Leser*innen irritieren – als charakteristischer Stilzug des Inneren Monologs eignet sie sich hervorragend zur suggestiven Nachbildung von Thomas’ verzweifelter Gedankenwelt. Unklar ist allerdings, wieso in diesen Passagen Dialoge zwischen den einzelnen Charakteren vorkommen, da diese eher untypisch für Tagebucheinträge sind.

Sieht man jedoch von derlei erzähltechnischen Ungereimtheiten ab, beeindruckt Dam in Die Nacht der verschwundenen Dinge – und dies vor allem mit seiner Sprachgewalt und dem geschickten Spiel  mit Klischees der Trivialliteratur.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

J.F. Dam: Die Nacht der verschwundenen Dinge. Roman.
Deuticke Verlag, Wien 2015.
206 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-13: 9783552062788

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