Über die verlorene Unschuld der Italien-Reise

Anlässlich der Wiederentdeckung eines vergessenen Romans von Wilhelm Speyer

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wilhelm Speyer ist heute ein vergessener Name, auch wenn Speyer bis 1933 und nach seinem Tod noch weit in die Nachkriegszeit hinein ein bekannter Autor war, unter anderem als Mitbegründer des modernen Jugendbuchs. „Der Kampf der Tertia“ (1927) und „Die goldene Horde“ (1930) haben die Jugendlichen der 1920er und frühen 1930er Jahre begleitet. Im Erfolgsroman „Charlott etwas verrückt“, 1927 – natürlich – bei Ullstein erschienen, porträtierte er eine Gesellschaft, die sich aufmachte, ihren Weg in die Moderne zu suchen – was aber in der Literaturwissenschaft niemanden groß interessiert, so sehr ist sie heute wieder im Bermudadreieck von Musil, Kafka und Thomas Mann verloren gegangen.

Merkwürdigerweise hat sich nun ein Wissenschaftsverlag, Aisthesis in Bielefeld, daran gemacht, Wilhelm Speyers Werk in neuen Ausgaben vorzustellen, und hat dabei in jüngster Zeit, neben den Texten aus dem Exil, auch einen kleinen Roman wiederaufgelegt, der 1932, kurz vor der Machtübernahme der Nazis, noch bei Rowohlt erscheinen konnte: „Sommer in Italien“.

Rowohlt startete den kleinformativen Band, der im Nachdruck nur knapp 100 Seiten umfasst, in einer Auflage von 10.000 Exemplaren, was darauf hinweist, was sich der Verlag von Speyer versprach: einen großen Erfolg. Aber dann kamen die Nazis. Speyer verließ Deutschland und emigrierte schließlich in die USA. Nur wenige Jahre nach seiner Rückkehr aus dem Exil starb Speyer.

„Sommer in Italien“ freilich ist ein bemerkenswertes Büchlein, nicht weil es nicht doch ein Liebesroman ist, der in jener abgehobenen Schickeria spielt, die es sich in den 1920er und frühen 1930er Jahren erlauben konnte, den Sommer und manchmal ein bisschen mehr in Italien zu verleben, ihn in der gleißenden Sonne jener Jahre zu vertrödeln, mit der Yacht von Hafen zu Hafen zu schippern oder eben doch mit dem Wagen die Große Tour ins Arkadische zu wagen. „Mondäne Romane“ hat Erhard Schütz solche Geschichten genannt, die in den 1920ern und 1930ern Konjunktur hatten. Die Traumfabrik wirft ihre Schatten.

Ja, es sind jene umtriebigen Hasardeure, denen vielleicht die Aktienkurse ins Kreuz fallen, aber nicht Arbeitslosigkeit und blanke Not das Leben sauer machen. Es sind Dichter, Kunsthändler, Maler – unter denen es zwar realistisch gesehen einen Haufen armer Schlucker geben mag. Aber das fällt hier bei Speyer eben nicht auf.

Er entwirft jenes Traumland von Wohlstand und wohligem Nichtstun, das bis fast in unsere Gegenwart das Muster stellt, das das Bild dieses Lands jenseits der Alpen bestimmt. Deutschland und Italien als Gegensätze zu betrachten ist vielleicht ein überstrapaziertes Bild, aber jeder Deutsche, der nach Italien reist, führt wenigstens ein verstecktes Stückchen des Wunsches mit sich, ins Andere der teutonischen Kultur vorzustoßen.

Italien ist das Land, in dem die Zitronen blühen und die antiken Ruinen gepflegt werden, damit sie im besten Sinne pittoresk bleiben. Italien ist ein Land, in dem man einen Turm, der umzustürzen droht, in jedem Fall schief zu erhalten versucht. Ein Land, das mit warmen Sommerabenden an übermäßig gedeckten Tischen beim Wein assoziiert wird, und mit seinen Innenstädten, die den Besucher mit den Rückständen von Antike bis Renaissance zu betören versucht (und dabei Faschismus und Nachkriegszeit verdrängt). Und das erfolgreich.

Italien ist heute – nach Spanien – das zweitbeliebteste Urlaubsland der Deutschen, so das Ergebnis einer Umfrage aus dem Jahr 2014. Im Jahr 2013 besuchten nach einer Studie der UN-Welttourismusorganisation ca. 48 Millionen Touristen Italien, womit das Land Platz 5 der touristischen Ziele weltweit und Platz 3 in Europa einnahm. Damit kamen auf fünf Italiener vier Touristen – jedes Jahr. Das Land wird seit Jahren überschwemmt von Reisenden, die das Klima, die Landschaft, die Kultur, die Küche, den Wein und die Mentalität bewundern.

Ganze Landstriche – vornweg die Toskana – leben vom Tourismus und von der Bewirtung der Fremden, Städte wie Rom, Florenz, Siena – oder auch San Gimignano sind übers ganze Jahr völlig überlaufen. Womit wir bei jenem kleinen toskanischen Städtchen wären, das Wilhelm Speyer in „Sommer in Italien“ zum Schauplatz gemacht hat.

San Gimignano ist bis heute ein kleiner Ort, nur eine gute Autostunde von Florenz entfernt. Die Einwohnerzahl wird mit nicht einmal 8.000 angegeben. Berühmt geworden ist die Stadt dadurch, dass hier – anders als in Siena oder anderen Orten Italiens – ein Teil der sogenannten Geschlechtertürme erhalten geblieben ist. Von den ehemals 72 Türmen stehen zwar nur noch 13, wie die Stadt auf ihrer Website erklärt, aber dennoch hat San Gimignano aus der Ferne betrachtet eine bis heute atemberaubende Skyline, die zu dem wenig einfallsreichen Beinamen „Manhattan des Mittelalters“ geführt hat.

Der historische Stadtkern San Gimignanos wurde einer lange Zeit umstrittenen Sanierung unterzogen, deren Ergebnis eine, wie man böswillig sagen kann, Retortenstadt war, die auf Mittelalter macht. Zu clean und zu durchgestylt schien die Stadt nach der Sanierung, zu sehr erfüllte sie das Ideal-Bild einer mittelalterlich geprägten italienisch-toskanischen Stadt. Das Anarchische, das zumindest jeder deutsche Italienbesucher erwartet, fehlte und fehlt hier völlig. Als „mittelalterliches Disneyland“ bezeichnete die Neue Zürcher Zeitung die Stadt im Jahr 2003, und die Berliner Zeitung folgte dem noch 2007. Die Kulisse San Gimignanos ist zu perfekt, so historisch korrekt sie auch sein mag. Immerhin aber so korrekt, dass die Stadt 1990 zum UNESCO Weltkulturerbe erklärt wurde.

Von den Touristen, denen Ideologiekritik eher fremd ist, wird der Ort deshalb intensiv frequentiert. „Dynamisch“ nannte die Neue Zürcher Zeitung die touristische Entwicklung der Region. Überwältigend ließe sich der Andrang ebenso nennen. 2,5 Millionen Besucher strömen jedes Jahr durch die Stadt – und das ist die Zahl aus dem Jahr 2003. Die meisten von ihnen wollen auf Tagesfahrten einen Blick auf eine authentische italienische Altstadt werfen, zumindest auf das, was sie sich darunter vorstellen. Zuviel Geschichte würde dabei nur stören.

Früher habe es in San Gimignano einen Elitetourismus gegeben, der kulturell oder auch kulinarisch interessiert war, schrieb die Berliner Zeitung noch 2007. Immerhin stammt einer der Qualitätsweine Italiens, der Vernaccia, aus der Umgebung. Von jenem Qualitätstourismus sei aber wenig geblieben. Zwei Drittel der Touristen arbeite San Gimignano in nur wenigen Stunden ab, was der Rest – immerhin gut 800.000 Menschen – macht, bleibt ungesagt.

Und an dieser Stelle kommt eben Wilhelm Speyers kleiner Roman einer italienischen Liebesgeschichte ins Spiel. Erzählt wird die Geschichte eines Sommers in Italien, den ein unbenannter Erzähler nach zwei Anläufen endlich verleben kann. Er fährt mit einer Freundin im Winter von Berlin aus los, hat aber einen hinreichend schweren Unfall zwischen Potsdam und Michendorf, bei dem sein Wagen zu Bruch geht, so dass eine längere Reparatur und ein zweiter Anlauf nötig werden.

Schließlich doch in Italien angelangt, lernt der Erzähler, der sich schnell dem dolce far niente ergibt, eine Freundin seiner Begleiterin kennen, eine Zeichnerin namens Aglai, mit der er einige Wochen in San Gimignano verlebt. Solange die beiden miteinander umgehen, geschieht eigentlich nichts, zumindest nichts, was man in einer modernen Liebesgeschichte erwartet. Erst nachdem sie sich getrennt haben, steigt die geheimnisvolle Aglai zur Traumfigur des Protagonisten auf. Es kommt schließlich noch einmal zu einer Begegnung auf einer staubigen Landstraße in der Po-Ebene, auf der die beiden mit ihren Automobilen aufeinander zurasen, sich im Vorüberfahren erkennen, stoppen und einander in die Arme fallen. Aber nach einem Schäferstündchen im Wäldchen nebenan trennen sie sich wieder. Die Sehnsuchtsgestalt winkt Ade und darf wieder in die Träume des Helden abtreten, was wahrscheinlich wieder eine Menge über erotische Männerphantasien sagt. Allerdings begnügt sich der Held nicht mit dem Foto, das ihm Aglai gegeben hat, sondern folgt ihr mit dem Wagen ins Ungewisse.

Aber nicht von der etwas versponnenen Liebesgeschichte, die den Regeln der neuen Geschlechterordnung des frühen 20. Jahrhunderts folgt, sei hier die Rede, sondern von der Szenerie, in der sie spielt.

Italien also, nur welches Italien? Speyers Roman entwirft zweifelsohne eine Idylle (hier italienischer Façon). Allerdings haben es solche Idyllen generell oft in sich, wie ein Blick auf Kurt Tucholskys Sommergeschichte „Schloß Gripsholm“ zeigt, die ein Jahr vor Speyers Werk erschienen ist. Der eine wie der andere Roman sind Idyllen und Romanzen, und zweifelsfrei politisch zugleich.

Bevor Speyers Erzähler und seine Begleiterin namens Dorothea aus Berlin losfahren können, müssen sie sich damit befassen, dass die junge Frau, die in Mailand einen Kunsthandel betreibt, als politische Agentin, vulgo Spionin denunziert worden ist. Der Erzähler will das Problem bereinigen und lässt sich beim italienischen Gesandten melden. Aber wie erstaunt ist er, als dieser sich äußerst gut über die italienischen Aktivitäten von Dorothea informiert zeigt. Aber auch die Italien-Besuche des männlichen Erzählers sind vom Polizeiapparat des faschistischen Regimes säuberlich verzeichnet worden, was ihn zu süffigen Bemerkungen über den Doppelcharakter von italienischen Diplomaten bewegt.

In Italien ist dann freilich alles so, wie es sein soll. Nach der ersten Begegnung in Forte reist der Protagonist entschlossen der unbekannten Fremden nach und trifft sie – in San Gimignano an: „Gegen Abend stand ich mit meinem Wagen vor einer winzig kleinen hochgetürmten wolkenkratzerartigen Stadt, auf einer Bergkuppe gelegen, in mitten von unübersehbaren, fruchtbaren Weinebenen.“ Der Held Speyers fährt mit dem Wagen in die engen Straßen der Stadt bis vor das Hotel, in dem die unbekannte Schöne Unterkunft gefunden hat. Womit das Märchen begonnen hat.

Er begrüßt Aglai mit den Worten, er sei gekommen, um sie zu besuchen, und sie reicht ihm die Hand, um ihn anschließend aus einer privilegierten Position heraus in die Stadt einzuladen: „Wenn Sie gleich mitkommen, so zeige ich Ihnen San Gimignano von einem seiner Türme im Sonnenuntergang.“

Zweifelsohne ist es ab da nur eine Frage der Zeit und der Widerstandsfähigkeit des Helden, bis er seiner Führerin erliegt. Daneben aber signalisieren diese Worte ja jenen Elitetourismus, den die heutigen Stadtoberen wieder zurückgewinnen wollen. Freilich bleibt offen, wie das gehen soll angesichts der Menschenmassen, die in die Stadt strömen. Sie allesamt bei Sonnenuntergang auch nur halbwegs auf die Türme zu bringen, wird wohl für immer unmöglich bleiben. Aber darauf legt es der Roman eben gar nicht an, nicht einmal auf dem deutlich geringeren touristischen Niveau um 1930.

Denn der Tourismus jener Jahre ist durchaus entwickelt, wie auch Speyer nebenher bemerkt: „Die Stadt wurde von Reisegesellschaften, die aus Florenz und Siena kamen, nachmittags zwischen der vierten und sechsten Stunde besucht.“ Die Tagesbesucher machen mithin bereits um 1930 das Gros der Touristen aus, die in die kleine Stadt kommen.

Ansonsten aber ist die Stadt leer, was wohl den größten Unterschied zur Gegenwart ausmacht. Die Frau, die der Held besucht, Aglai, ist wohl die „einzige Fremde in der Stadt“: „Der Morgen, der Vormittag und der Abend waren still. Dann hörte man nichts als die Rufe der Ochsentreiber, das Knarren der zweirädigen etruskischen Wagen, die Gespräche in den Gassen, das verhallende Lärmen der Kinder, die Glocken zu ihrer Zeit und das überschwengliche Zwitschern der Schwalben.“

In diesen wenigen Sätzen scheint ein Italien auf, das heute längst verloren ist, und an dessen Existenz man auch für die 1930er Jahre nicht recht glauben möchte. Hier sind die Fremden noch Einzelne, die sich mehr oder weniger ins Stadtbild einfügen. Das Hotel, das Albergo, in dem der Protagonist und Aglai übernachten, La Cisterna, existiert noch heute. Aber es ist kaum vorstellbar, dass der Wirt es heute seinem einzigen Gast überlassen würde, den Neuankömmling zu begrüßen und ihm ein Zimmer zuzuweisen. Der Protagonist hat jedenfalls die freie Wahl und wählt das gegenüberliegende Zimmer, das beiden je einen Blick über die Ebenen erlaubt, wenn auch in entgegengesetzten Richtungen.

Das sommerliche Leben, dessen Beschreibung die folgenden Seiten einnimmt, liest sich wie aus einem Märchenbuch für Italienbesucher aus der Frühzeit der Toskanafraktion. Früh am Morgen betrachtet der Besucher die aufgehende Sonne, schläft anschließend noch einige Stunden, bevor er dann auf der Terrasse (wo sonst?) frühstückt, in einer „Welt des vollkommenen Lichts“. Mit einem Buch in der Hand sitzt oder liegt er am Vormittag „in der Haltung eines Bettlers“, am liebsten bis gegen die elfte Stunde, wenn es noch nicht zu heiß ist, auf einer der Treppen der Stadt und betrachtet ihre Fassaden. Niemand schaut ihn an, dennoch ist er sich sicher, dass die Einheimischen ihn genau beobachten. Nach 11 geht er dann in eine der Trattorien oder Bottiglerien und trinkt einen Cinzano, Campari oder Americano als Aperitif. Anschließend eine halbe Stunde zu Mittag mit Aglai, der er von seinen kleinen Exkursionen berichtet. So vergehen die Vormittage, die sich von den Nachmittagen kaum unterscheiden. Des Abends treffen sich die beiden Fremden und plaudern. So vertreibt der Held dieser Geschichte seine italienische Zeit mit „Faulenzen, mit Träumen, Trinken und Lesen und mit dem Betrachten von Dingen“. Oder mit „Spazierengehen. Schlafen. Rauchen. Viel Trinken auf dem Markt, und träumen. Vielleicht Gedichte lesen.“ Er will nichts tun, während seine neue Begleiterin versucht zu arbeiten, sie zeichnet, hat sich also genau jener Tätigkeit verschrieben, die dem elitären Toskanafahrer angemessen ist.

Die Kombination aus der künstlerischen Aktivität der Frau (deren kontemplativer Charakter trotzdem unübersehbar ist) und der ästhetischen wie hedonistischen Haltung des Mannes endet mit dem Beginn des Hochsommers, der derart heiß ist, dass jede Aktivität erlahmen muss. Auch das Nichtstun braucht einen Moment der Erfrischung. Und das ist der Moment, in dem die Idylle zerbricht. Die beiden Fremden reisen ab, jeder für sich, bis zu jener erwähnten letztmaligen Begegnung in Norditalien.

Freilich, unwirklich ist Speyers Szenerie, seine „Fata Morgana“, nicht nur an den warmen Sommerabenden, in denen die beiden den Blick zur Stadt erheben, sondern auch während des gesamten Verlaufs der Geschichte. Im späteren Teil der Geschichte tauchen die Nachmittagstouristen nicht mehr auf. Die Szenerie wird entleert. Die beiden verbleibenden Akteure werden auf sich gestellt gezeigt, immer wieder getrennt und zusammengeführt. Der Ort wird zur idyllischen Kulisse, zum arkadischen Idealort, auf dessen Folie sich die Geschichte zwischen Aglai und dem Erzähler entwickeln darf und muss.

Dass dies nicht präzise den historischen Zustand wiedergibt, dafür gibt es auch in diesem Roman genügend Hinweise. Nun ist der Massentourismus ein Phänomen der Konsumgesellschaft und vor allem der Nachkriegsjahrzehnte. In den 1920er und 1930er Jahren werden jedoch dafür die Grundlagen gelegt, so dass auch San Gimignano als touristisches Ziel einen recht hohen Bekanntheitsgrad hat. Aus der Grand Tour wird der Jahresurlaub, und den nehmen in jenen touristischen Übergangsjahren die Berufsreisenden wie Speyer, die über ihre Reisen schreiben, für den Rest der Leute wahr.

Gerade mit diesem doppelten Moment aber spielt Speyer. Die Stadt ist bekannt und liegt zentral genug, um als Orientierungspunkt herhalten zu können. Zugleich ist sie abgelegen genug, damit sie plausibel als beinahe fremdenfrei gezeichnet werden kann. Das aber ist notwendig, eben nicht nur, um die beiden Hauptfiguren in ein sie auszeichnendes Umfeld zu betten und so prominent präsentieren zu können. Sondern auch, um das Idealbild der italienischen Kultur und Lebensart zu entwerfen, respektive genauer, es auf den Ort projizieren zu können.

Der Roman selbst hat mithin zum einen die Aufgabe, eine angemessene Kulisse zu entwerfen, in der die kleine sommerliche Liebesgeschichte funktionieren kann. Zum anderen entwickelt er das, was Moritz Baßler bei einer anderen Gelegenheit „bewohnbare Diegese“ genannt hat, die für ihre Leser von größter Attraktivität ist. Diese Konstruktion gliedert sich ein in ein Narrativ, das in den Reiseerzählungen und -berichten der 1920er und 1930er Jahre ubiquitär ist und das in den modernen Reiseformaten immer noch Konjunktur hat: die ästhetisierende Rezeption des Reiseorts als Sehnsuchtsort, der freilich uneinholbar bleibt. Dass dem kleinen Text dies gelingt, zeigt sich nicht zuletzt an der Bemerkung des Herausgebers der Neuausgabe dieses Büchleins, nämlich dass es Speyer gelungen sei, die spezifische Atmosphäre dieser kleinen Stadt einzufangen, wie sie auch heute noch spürbar sei.

Uneinholbar bleibt der Reiseort allerdings immer noch, vor allem aufgrund des Status des Lesers, der eben nicht reist, sondern stattdessen liest. Aber selbst wenn doch, wird er nie den extraordinären Zugang haben, den sein Romanvorbild ihm vorexerziert. Stattdessen wird er – wenn überhaupt – als Tagestourist heran- und weggekarrt werden. Oder er wird aufgrund der mangelnden Mittel und Möglichkeiten, die die Reise selbst unterbinden, auf die Lektüre beschränkt bleiben. Die muss dann bieten, was das reale Leben nie einzuholen in der Lage sein wird.

Titelbild

Wilhelm Speyer: Sommer in Italien. Eine Liebesgeschichte.
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Detlev Kopp.
Aisthesis Verlag, Bielefeld 2014.
116 Seiten, 14,50 EUR.
ISBN-13: 9783849810245

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