Die Kartierung der Glückseligkeit

Alessandro Scafi beschreibt in „Die Vermessung des Paradieses“ die Suche nach dem Unauffindbaren

Von Anett KollmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anett Kollmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Imagine“ – Stell’ dir vor! Mit John Lennons Song vom irdischen Paradies beginnt Alessandro Scafi seine Studie „Die Vermessung des Paradieses“ zur Enthüllung eines jahrhundertealten geografischen Rätsels. Ein Ort, friedlich und zeitlos, wie ihn sich der britische Popstar 1971 ausmalte, ist die moderne Version dessen, was sich Erdenbürger seit Ewigkeiten als seliges Ende der Menschheitsgeschichte und freudvolles Anderswo erträumen. Die meisten Religionen und Kulturen kennen einen solchen Ort außerhalb von Raum und Zeit, aber es ist vor allem das Christentum, das von Beginn an versuchte, das Paradies nicht nur spirituell zu begreifen, sondern auch geografisch zu fixieren. Alessandro Scafi, Dozent für Kulturgeschichte des Mittelalters und der Renaissance am Warburg Institute der Londoner Universität, legt in seiner gründlichen, reich bebilderten Studie, seinem Forschungsschwerpunkt folgend besonderes Augenmerk auf die mappae mundi nach der ersten Jahrtausendwende der christlichen Zeitzählung. Die Ursprünge und Nachwirkungen dieser Versuche, dem Garten Eden einen Platz in der irdischen Welt zuzuordnen, erhalten jedoch gleichermaßen die gebührende Aufmerksamkeit. 

Und wo befindet sich nun das Paradies? Irgendwo ganz weit im Osten, an der entferntesten Grenze Asiens, in der Nähe von Indien, am äußersten Rand der Karte, so die Kartografen des frühen Mittelalters. Und wie kommt man dahin? Gar nicht. Der Ort ewiger Glückseligkeit ist von der bewohnten Welt aus unerreichbar und die Kartenmaler schildern in fantasiereichen Vignetten auch, warum das so ist. Selbst wenn man den unpassierbaren Ozean überquert, das unüberwindliche Gebirge überwunden und den unbezwingbaren Berggipfel erklommen hätte, stünde man vor einer Mauer, deren Pforte von einem Cherub mit Flammenschwert bewacht wird. Kein Mensch wird mehr in den Garten Eden gelangen. Aber er existiert noch, da sind sich die mittelalterlichen Kartografen sicher. Als immer mehr vom asiatischen Kontinent erkundet wird und immer öfter mathematische und astronomische Methoden zur Kartierung Anwendung finden, regen sich daran erste Zweifel. Die Suche geht in eine neue Richtung: Große Denker ihrer Zeit wie Albertus Magnus, Thomas von Aquin und Roger Bacon nehmen sich der Sache an. Vielleicht liegt das irdische Paradies auf der anderen Hälfte der Erdkugel, in der Nähe von Äthiopien, im südlicheren Afrika, das durch das Flammenschwert der äquatorialen Wüste von der bewohnten Welt der nördlichen Hemisphäre getrennt ist? Denn warum sonst sollte Gott die südliche Halbkugel erschaffen haben? Theologisch und heilsgeschichtlich ergäbe dies keinen Sinn.

Mittelalterliche Kartenwerke sind biblisch fundierte Weltkunden, Chroniken der Menschheitsgeschichte. Sie taugen nicht als Wegbeschreibungen, Reiseführer oder zur topografischen Fixierung, aber sie dienen dennoch der Orientierung des (abendländischen) Betrachters in seiner Welt. Das irdische Paradies, der Beginn der Menschheitsgeschichte, liegt räumlich und zeitlich fern, am Rand der Karte, in der Vergangenheit. Das himmlische Paradies hingegen, Jerusalem und damit der Ort der finalen Erlösung der Menschheit, sind dem Betrachter zeitlich und geografisch nah, meist im mittleren Teil des Planes dargestellt.

Wie Orte, Städte und Landschaften in der „Erlösungsgeografie“ (Scafi) der Kartenwerke verzeichnet wurden, richtete sich nach ihrer Rolle in der Menschheitsgeschichte, weniger nach ihrer tatsächlichen räumlichen Lage oder ihrer gegenwärtigen Bedeutung. Historie statt Geografie. Das änderte sich zum Ende des Mittelalters. Das Kartografiemetier wanderte aus den klösterlichen Scriptorien in die durch Handel und Wissenschaft aufblühenden Städte. Versuche, die neuen nautischen, astronomischen, mathematischen und geografischen Erkenntnisse in die bibelweltlichen Karten zu integrieren, scheiterten, und der Renaissancemensch lokalisierte das Paradies endgültig als von der Sintflut verwüsteten, verlorenen Ort in der Vergangenheit. Seine Karten zeigten die Welt als vermessenen, entdeckten Raum, in dessen Koordinatensystem aus Längen- und Breitengraden es für den Garten Eden keinen Platz gab. Von Bedeutung waren nun exakte Küstenlinien, Handelswege und Wissenschaftszentren. Geografie statt Historie.

Dennoch verschwindet der Ort ewiger Glückseligkeit nicht von der Landkarte. Althistorische und biblische Atlanten markieren die vermeintliche Lage immer noch – und auch die Suche nach dem Paradies geht weiter. In der Neuzeit sind es vor allem säkulare Archäologen, Sprachhistoriker und Hobbyforscher, die nach Resten des legendären Gartens fahnden. Sie vermuten ihn, mit gleicher Logik und Ernsthaftigkeit wie die mittelalterlichen Kartografen, in Mesopotamien, Armenien und dem Heiligen Land, oder – unter dem Einfluss des teutonischen Wahns – in Mecklenburg-Vorpommern.

„Wie jedes andere Kunstwerk ist eine Karte eine ‚Lüge‘, die uns dazu bringt, die Wahrheit zu begreifen“, schreibt Scafi am Ende seiner Ausführungen, eine „Binsenweisheit der Kartografiegeschichte“. Seine Durchsicht der mittelalterlichen Kartenwerke ist deshalb auch mehr als die Bestandsaufnahme geografischer Mutmaßungen. Vielmehr ist sie eine Ideengeschichte, die etwas über die menschliche Wahrnehmung von Raum und Zeit erzählt, und die belegt, wie der Ort irdischer Glückseligkeit durch die Erforschung der realen Welt in immer weitere Ferne rückt, der Glaube an seine Existenz jedoch in den Vorstellungen und Sehnsüchten der Menschen verbleibt. Obwohl Reiseveranstalter Gegenteiliges versprechen, ist das Paradies auf Erden unerreichbar wie eh und je. Es sei denn, man findet sein Glück in der Lektüre von sorgfältig und einfallsreich gestalteten Büchern wie dem von Scafi. Die Abbildungen, wenn auch nicht immer von bester Qualität, erfreuen das Auge, die „Optischen Zwischenspiele“, kleine Exkurse zu besonderen Karten, lockern die Ausführungen auf, und die „Bibliografische Notiz“ am Ende jeden Kapitels sorgt als kommentiertes Quellenverzeichnis für die wissenschaftliche Qualität.  

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Alessandro Scafi: Die Vermessung des Paradieses. Eine Kartographie des Himmels auf Erden.
Verlag Philipp von Zabern, Mainz 2015.
176 Seiten, 39,95 EUR.
ISBN-13: 9783805349178

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