Tropische Geometrie

Lily Kings »Euphoria« erzählt anregend von Liebe und Forschung im ethnologischen Feld

Von Björn BertramsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Björn Bertrams

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

»Nell«, das war doch Jodie Foster als amerikanische ›Wilde‹, die von Liam Neeson im Wald entdeckt wird. In Lily Kings Roman »Euphoria« ist Nell Stone eine amerikanische Ethnologin auf Feldforschung am Fluss Sepik in Papua-Neuguinea zu Beginn der 1930er Jahre. Zusammen mit ihrem Mann Schuyler Fenwick, genannt Fen, will sie zwei neuguineische Stämme erforschen. Sie fassen das Siedlungsgebiet am Sepik ins Auge, wo sie ›voll ausgestattete‹ Kulturen erwarten mit differenziertem Kunsthandwerk, Religion und regem Handel. Nur kommt ihnen ein Dritter in die Quere, Andrew Bankson, englischer Biologe und Anthropologe, der schon länger am Sepik forscht. Das ethnologische Arbeitsethos der Zeit verlangt, um »sein Feld« einen Bogen zu machen. Also finden Nell und Fen einen Stamm am Yuat, einem südlichen Nebenfluss des Sepik, dem sie sich zuerst zuwenden.

Am Anfang des Romans steht der Abschied von den dort ansässigen Mumbanyo. Nell erlebt dieses Volk als aggressiv und herzlos. Als die beiden Forscher ablegen, wird ihnen ein toter Säugling hinterhergeworfen. Der Kindstod ist ein wiederkehrendes Motiv in Lily Kings Roman. Es verschränkt die Brutalität eines Stammes, der Neugeborene nicht willkommen heißt, sondern tötet, und das Individualschicksal einer Forscherin, die Fehlgeburten erleidet.

Auf ihrer Heimreise beschließt das Ethnologenpaar spontan, Andrew Bankson doch noch einen Besuch abzustatten. Aus dem Besuch wird ein weiterer Forschungsaufenthalt, zwar nicht in Banksons Dorf, aber einige Meilen entfernt bei den Tam, wo er sie hinbringt. Während der Reise zu dritt ist Bankson immer mehr fasziniert von der zierlichen und kränklichen, aber eminent klugen und arbeitsamen Nell. Sie spornt ihn in seiner eigenen Forschung an, wo er sich zuletzt in einer unüberwindbar scheinenden Krise befand. Er sucht ihre Nähe und bleibt für längere Zeit bei ihr und Fen, zum Teil unfreiwillig, weil er aufgrund eines starken Malariaschubes darniederliegt. Nell, Andrew und Fen bilden ein Beziehungsdreieck.

Lily King beschreibt dieses als ein dynamisches Dreiecksverhältnis, das durch verschiedene Kräfte aufrechterhalten wird: Da ist auf der einen Seite die Anziehung zwischen Nell und Andrew, auf der anderen ein männerfreundschaftlicher, teils komplizenartiger Hang Fens zu Andrew und auf der dritten Seite die aufkommende Konkurrenz innerhalb des Ehepaars. Diese drei Spannungen stützen das Gefüge bis Fen die seriöse Forschung aufgibt, seinem Größenwahn nachgibt und sich auf eine Schatzsuche mit dramatischem Ende begibt. Dadurch fällt das Dreieck schließlich in sich zusammen und der Roman findet sein bitteres Ende.

Bis zum Auseinanderbrechen des Dreiergespanns bleibt Lily Kings Roman recht nahe an einem biografisch verbürgten Geschehen. Nell Stone ist die fiktive Version der Ethnologin Margaret Mead, Schuyler Fenwick ihr Mann Reo Fortune und Andrew Bankson ihr Geliebter Gregory Bateson. Ebenso tragen die erforschten Stämme im Roman fiktive Namen, wenngleich sie beinahe eins zu eins identifiziert werden können, legt man Meads Autobiografie oder ethnologische Schriften daneben. Lily King hat ihrem Schlüsselroman ein happy end verwehrt, womöglich aus rein ästhetischen Gründen, bringt doch die tragische Wendung, die »Euphoria« abschließend nimmt, die melancholische Geschichte dreier einsamer Forscher in den Tropen zu einem stimmigen Ende. Die fiktiven Doppelgänger von Mead und Bateson werden kein Paar, heiraten nicht und bekommen auch nicht ihre Tochter Mary Catherine.

Diese Abweichung von der Realbiografie ist aber kein Verlust für den Roman, der von der behutsamen Ästhetisierung einer Konstellation lebt. Das austarierte Beziehungsgefüge wird im Hauptteil des Romans noch zusätzlich verschränkt mit einem Achsenkreuzmodell, das die drei im Fachdialog entwerfen. Auf einem Kompasskreuz ordnen sie die Männer und Frauen der von ihnen erforschten Kulturen als Kollektivtemperamente vier verschiedenen Polen zu. Als Individualcharaktere bestimmen Nell, Fen und Andrew spaßeshalber ihren jeweils eigenen Platz in diesem Koordinatensystem und vergnügen sich auch bei der Einordnung von Freunden und Bekannten. Es entsteht so gewissermaßen eine tropische Geometrie, die mit dem Verhältnis von Abstraktion und Detail, Kollektiv und Individuum spielt. In diesem Spiel wird auf ein Grundproblem ethnologischer Forschung und fremdkultureller Beurteilung reflektiert: Wie aus der konkreten Anschauung einer vorderhand unzugänglichen Kultur Erkenntnisse ziehen, die Systematik und Abstraktionswillen einer Wissenschaft genügen? Wie die Kluft überwinden zwischen der Nähe der Empirie und der Ferne der Theorie? Denn wo die drei Forscher ganze guineische Stämme einsortieren, ist auf der Ebene des Bekannten nur Platz für ein paar ausgewählte westliche Charaktere.

Lily King illustriert diese Problematik eindrücklich beim Erzählen der Verwicklung von Leben und ›Feld‹. Dabei legt sie einen Konflikt frei, der z.B. auch bei der Lektüre von Meads Autobiografie aufkommt: die ethnologische Neigung, den Einzelnen stets als Vertreter seiner Kultur zu betrachten und ihn mithin unter eine beschworene Kollektividentität zu subsumieren. Wie das westliche Personal auf dem Achsenkreuzmodell im Verhältnis zu den guineischen Stämmen überproportional viel Platz einnimmt, so gestaltet King auch die Forscher als vollwertige Charaktere, während das indigene Personal in zwar einzelnen, benannten Figuren auftaucht, aber nur am Rande und ziemlich austauschbar. Chinua Achebe könnte hier wieder seinen Einwand geltend machen, wie er es bei »Heart of Darkness« getan hat, dass die Tropen mitsamt ihrer Bevölkerung nur als atmosphärische Kulisse für eine Erzählung über eine westliche Psyche herhalten müssen. Und tatsächlich reanimiert Lily King den von Joseph Conrad und Robert Müller her bekannten exotistischen Topos der psychischen Zerrüttung in der Isolation der Tropen. In Neuguinea geben Fen, Andrew und Nell ihre angloamerikanischen Sitten stückweise auf für die Erfüllung ihres persönlichen, mitunter triebhaften Glücks.

»Mein Hirn lodert. Habe das Gefühl, wir legen etwas Vergrabenes frei und finden uns selbst, unser wahres Ich, kratzen Schicht um Schicht unserer Erziehung ab wie einen alten Anstrich«, notiert Nell an einer Stelle in ihr Tagebuch. Das Abkratzen der Erziehung könnte im Extremfall die Aufhebung des Individual-Ichs im Gruppendenken des Stammes bedeuten. Mit dieser »andere[n] Form des Denkens« geht für Fen ein Glück einher, das der Westen nicht mehr bietet. Nell ist diese Vorstellung suspekt. Für alle drei bleibt Glück, ob persönlich oder kollektiv, ein vages Versprechen.

Die ineinander verschachtelten Dimensionen von Individualcharakter und Kollektivzugehörigkeit machen »Euphoria« zu einem beachtlichen, äußerst anregenden Werk. Lily King hat in einer schnörkellosen Sprache ethnologische Grundprobleme und Schauplätze des Exotismus zu einer literarischen Reflexion verdichtet. Dafür gebührt ihr ein deutliches Lob.

Der gehaltvolle und gekonnte Roman verdient allerdings nicht – dies hier noch am Rande – seinen geschmacklosen Buchumschlag, für den sich der deutsche Verlag entschieden hat. In Zeiten, in denen selbst Kiepenheuer & Witsch zu anschaulichen, wohl überlegten Buchgestaltungen greift, stellt C. H. Beck seine Einfallslosigkeit zur Schau. Und dies, obwohl der Verlag (etwa für die Bücher von Kurt Drawert) schon einmal einen herausragenden Gestalter, Leander Eisenmann, für sich gewonnen hatte. Immerhin: der Buchumschlag ist ja abnehmbar. Bestehen bleibt Lily Kings Meisterwerk zwischen den Buchdeckeln.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Lily King: Euphoria. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Sabine Roth.
Verlag C.H.Beck, München 2015.
262 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783406682032

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