Philosophie der Grenzsituation

Samuel Scheffler untersucht in „Der Tod und das Leben danach“, was ,uns‘ im Angesicht des universellen Todes noch wichtig ist

Von Max BeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Max Beck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In einer Rückblende in Woody Allens Opus magnum Annie Hall (1977) sieht man den jungen Protagonisten Alvy Singer mit seiner Mutter bei einem Psychiater. Die Mutter ist aufgebracht, da ihr Sohn seine Schulaufgaben nicht mehr erledigen möchte, hat dieser doch gelesen, dass das Universum expandiert und damit irgendwann zugrunde geht, was den neurotischen Alvy am Sinn der Erledigung seiner Schulaufgaben zweifeln lässt – auch wenn dies erst in Millionen von Jahren passieren wird, wie Arzt und Mutter immer wieder beteuern. Anhand dieser Szene illustriert Samuel Scheffler, Professor für Philosophie und Recht an der New York University, prägnant seine Thesen über die Bedeutung des Lebens nach dem Tod für die menschlichen Werte.

Schefflers Überlegungen spielen mit der Semantik ‚des Lebens danach‘. Schließlich könne man dieses sowohl in einem „landläufigen Sinne“ – also vorgestellt als immaterielles Weiterleben nach dem biologischen Tod – als auch in einem „unüblichen Sinne“ verstehen, nämlich als Weiterleben anderer Menschen nach dem eigenen Tod. Insbesondere für dieses „unübliche“ Verständnis interessiert sich Scheffler, sei das Wissen um ein Weiterleben anderer doch besonders wichtig dafür, dass wir im Leben etwas wertschätzen. Alvy Singers Haltung mutet Scheffler somit absurd an, tritt der Weltuntergang doch erst Millionen Jahre nach dessen eigenem Tod ein. Würde der Weltuntergang aber bereits wenige Wochen nach seinem eigenen Tod mit Sicherheit kommen, hätte Alvy „möglicherweise einen Punkt“ (wie es holprig in der deutschen Übersetzung heißt), das heißt sein Wissen darum einen beträchtlichen Einfluss darauf, was ,uns‘ wertvoll ist.

Das Buch beginnt, wie so oft in der gegenwärtigen Analytischen Philosophie, mit einem „Gedankenexperiment“. Man solle sich vorstellen, dass 30 Tage nach dem eigenen Tod die Erde mit einem Asteroiden kollidieren würde, was unausweichlich den Weltuntergang zur Folge hätte. Die Pointe dieser Überlegung ist, dass die Katastrophe erst nach meinem Tod passieren wird, mich also im Grunde nichts angehen müsste. Scheffler arbeitet nun kompliziert heraus, welche Folgen ein solches Wissen für die eigenen Werte und die Wertschätzung anderer Dinge hätte. Menschen seien nicht nur am eigenen Weiterleben interessiert, es gehe ihnen keineswegs nur um den eigenen Erfahrungshorizont. Somit würde wohl keiner mit Gleichgültigkeit auf die drohende Apokalypse reagieren. Gerade durch das Weitergeben eigener Werte und Ideen an eine andere Generation entstehe ein persönliches Verhältnis zur Zukunft. Menschen beteiligen sich zu Lebzeiten an Projekten, deren Verwirklichung sie nicht mehr erleben werden, trotzdem arbeiten sie mit Freude daran. Im Angesicht des universellen Todes hingegen würden manche Dinge, wie etwa die Krebsforschung, unwichtig, andere hingegen, wie etwa die kurzfristige Vermeidung von Leiden oder künstlerische Aktivitäten, blieben Scheffler zufolge hingegen vermutlich von Bedeutung.

Diesem „Untergangsszenario“ wird noch ein an P.D. James’ Roman „Im Land der leeren Häuser“ angelehntes „Unfruchtbarkeitsszenario“ beiseite gestellt, und man fragt sich bei der Lektüre ständig, ob die Welt denn nicht schlecht genug eingerichtet ist, dass der Philosoph ständig neue Naturkatastrophen aus dem Hut zaubern muss. Zumal es solche Szenarien immer an sich haben, dass nichts Reales der zweiten Natur an sie herantritt, sie verschlossen sind gegenüber der Welt, wie sie nun einmal eingerichtet ist. Bei den realen Widersprüchen im Hier und Jetzt fängt die Szenarien-Philosophie noch gar nicht an; sie braucht die großen, apokalyptischen Vorstellungen, die ihr als Ausgangspunkt zur Behandlung ganz weltlicher Probleme dienen. Diese Philosophie der Grenzsituation mag in einer Gesellschaft, in der das Schockmoment gewinnt, Aufmerksamkeit erzeugen, die realen Verhältnisse erfasst sie jedoch nicht.

Michael Hampe hat in der „Zeit“ darauf hingewiesen, dass Scheffler bei aller Akribie seiner Deduktionen den Leser darüber im Unklaren lässt, auf welcher kulturellen Grundlage seine Überlegungen überhaupt plausibel sind und diesen Ansatz als generellen Mangel gegenwärtiger Analytischer Philosophie ausgewiesen. Das wäre noch zu präzisieren, denn Schefflers Überlegungen sind nicht nur ahistorisch und unterlassen jede gesellschaftliche Kontextualisierung. Ebenfalls zu fragen wäre, ob eine derartige Einstellungs-Hypostasierung überhaupt plausibel sein kann, sind Einstellungen doch immer vermittelt mit der gesellschaftlichen Einrichtung und damit keineswegs überhistorisch gültig. Die neurotische Angst vor dem Tod eines Alvy Singer lässt sich damit sowieso nicht erklären. Zumal die Szene ja eine eindeutige Reverenz gegenüber der Psychoanalyse ist (die Scheffler pikanterweise jedoch mit keinem Wort erwähnt), sinnvollerweise bei der Interpretation jener Szene also eher nach dem Verhältnis von Todesangst und Neurose zu fragen wäre. „Wenn ich von unseren Einstellungen spreche, meine ich damit meine eigenen Einstellungen und diejenigen derer, die sie teilen; egal wie viele das letztlich sein mögen“, erklärt Scheffler. Seine Analyse trifft also auf die zu, auf die sie eben zutrifft. Mit diesem bescheidenen und doch allumfassenden Anspruch lässt sich alles und nichts erklären.

Zudem wäre zu fragen, welches Bedürfnis diese Philosophie apokalyptischer Werte im Spätkapitalismus bedient, sind doch die vorgestellten Katastrophen der ersten Natur verbunden mit der Einrichtung der zweiten. Vermeintlich exakte Phänomenologien wie die Schefflers versagen dort, wo Philosophie anzufangen hätte: das Verhältnis von individueller Psyche, Werten des Individuums und gesellschaftlicher Einrichtung zu kritisieren, also deren Zusammenhang offenzulegen. Was den Menschen im Kapitalismus lieb und teuer scheint, muss ihnen nämlich noch lange nicht wichtig sein. Schefflers Philosophieren bleibt somit notgedrungen an der Oberfläche, psychologische wie gesellschaftliche ,Tiefen‘ bleiben außen vor – stattdessen werden apokalyptische Szenarien herbeizitiert. So bleibt auch der Tod ein ungesellschaftliches Abstraktum gleich einem Asteroiden, der einen nun einmal irgendwann treffe.

Scheffler ist sichtlich um exakte Formulierungen bemüht, die jedoch immer wieder wie unfreiwillige Parodien der Sprache exakter Philosophie klingen, wie sie in avancierter und ernstzunehmender Form etwa noch vom Wiener Kreis angestrebt wurde. In der amerikanisch-analytischen Gegenwartsphilosophie klingt das dann so: „So wie viele Menschen heutzutage – allerdings auch im Gegensatz zu vielen anderen – glaube ich nicht an die Existenz eines Lebens nach dem Tod im landläufigen Sinne.“ Wenn Scheffler zu diesen „vielen Menschen“ gehört, und nicht zu den meisten, die so etwas glauben, ist impliziert, dass viele andere etwas anderes glauben, könnte man ganz ohne Dialektik, nur mit der von der Analytischen Philosophie so hoch geschätzten Logik einwenden. Auch die für Scheffler so wichtigen Begriffe ,Wertschätzung‘, ,Sorge‘, ,wichtig‘ et cetera werden nicht aus der Sache heraus entwickelt, sondern schulmeisterlich definiert. Oder es werden Banalitäten als exakte Erkenntnis ausgegeben: „Jeder dieser Begriffe unterscheidet sich in verschiedenen Hinsichten von den anderen, und diese Unterschiede sind für verschiedene Zwecke von Bedeutung.“

Ähnliche Sätze finden sich im ganzen Buch. Äpfel unterscheiden sich auch in mancher Hinsicht von Birnen, ist man versucht zu sagen bei der Lektüre der folgenden Erkenntnisse, die Scheffler dem Leser über das Verhältnis zweier Autoren und deren Verhältnis zu ihm zu berichten weiß: „Ihre Vermutungen unterscheiden sich auch in mancher Hinsicht. Ebenso wie sich meine Vermutungen von Ihren und Ihre sich vielleicht von meinen unterscheiden.“ Dieser Jargon aufgeplusterter Banalität gipfelt dann in handfesten Erkenntnissen, die eine Phänomenologie der Wertschätzung ad absurdum führt: „Ohne das Vorhandensein von Sauerstoff in der Atmosphäre wäre uns beispielsweise gar nichts wichtig, weil wir nicht am Leben wären.“ Könnte man das noch als Selbstentlarvung einer Spielart der heutigen Analytischen Philosophie abtun, so wird es spätestens bei Sätzen wie dem folgenden zu einem ernsthaften Problem beziehungsweise sehr anschaulich, wo eine solche Banalitäts-Akribie hinführen kann: „Auch ist die Tragödie des Selbstmords eine viel zu häufige Erscheinung.“ Der Leser, dem es noch nicht ganz schummrig vor lauter (Vorab-)Definitionen und Annahmen ist, darf sich fragen, ob Scheffler lediglich der Gaul scheinbar exakter Sprache durchgegangen ist, er also eigentlich etwas anderes sagen wollte, oder ob er tatsächlich der Meinung ist, dass der Selbstmord an sich nicht das Problem sei, sondern lediglich das ein bisschen zu häufige Auftreten desselben. In solchen Fehlleistungen verrät sich die Schludrigkeit scheinbar exakter Philosophie.

Titelbild

Samuel Scheffler: Der Tod und das Leben danach.
Übersetzt aus dem Englischen von Björn Brodowski.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2015.
153 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783518586235

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