Wie Feuer und Wasser

Olaf L. Müller wirft ein neues Licht auf den Streit zwischen Newton und Goethe um die Farben

Von Galina HristevaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Galina Hristeva

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Die totgeborene Spielerei eines autodidaktischen Dilettanten“ – so beschrieb Emil du Bois-Reymond Ende des 19. Jahrhunderts Johann Wolfgang von Goethes Farbenlehre. Für Olaf L. Müller, Professor für Naturphilosophie und Wissenschaftstheorie an der Humboldt-Universität in Berlin, ist Goethe dagegen ein Held – wenn auch ein „streitbarer“ – und ein „Siegertyp“. Fasziniert von der Reichweite von Goethes farbtheoretischen Erkenntnissen und von deren bisher unerkannt gebliebenen Radikalität und Brisanz sucht Müller mit seinem eigenen Opus magnum mit dem Titel „Mehr Licht. Goethe mit Newton im Streit um die Farben“ Goethe als Physiker und Naturwissenschaftler in den Fokus zu stellen und zu rehabilitieren. Entkräften möchte er das gängige Vorurteil: „Newton war Physiker und hat in der Optik objektiv experimentiert – Goethe war Poet und hat subjektiv experimentiert; und weil Physik auf objektives Wissen zielt, brauchen wir uns um Goethes Kritik an Newtons physikalischer Optik nicht zu scheren.“

Müllers Buch dreht sich um große Experimente und ist selbst ein Gedankenspiel. Der Autor stellt akkurat, verständlich und zugleich spielerisch sowie mit einer beträchtlichen Prise Witz und Esprit die „Waffen“ seiner beiden Helden vor – Newtons und Goethes Experimente, die er als „treffsicher, glasklar, unwiderstehlich“ einstuft. In seiner Dunkelkammer hielt Newton das Prisma ins weiße Licht und ließ es in Farben zerfallen – das Ergebnis unterschiedlicher Refrangibilität der Lichtstrahlen. Mit Goethe kam dann 100 Jahre später die Finsternis ins Spiel: „Goethe dreht den Spieß um und vertauscht am Prisma die Rollen von weißem Licht und dunkler Finsternis.“ Wo Newton mit weißem Licht experimentierte, ließ Goethe den schwarzen Schatten walten. Und hier liegt Müller zufolge der Knackpunkt von Goethes Farbenlehre: „Jede newtonische Errungenschaft hat ein gleichwertiges Gegenstück, in dem die Rollen von Licht und Dunkel genau vertauscht sind.“

Die Idee von der Symmetrie zwischen Licht und Finsternis sowie von der Symmetrie zwischen Newtons und Goethes Erkenntnissen ist der rote Faden in „Mehr Licht“. Zahlreiche Farbtafeln und Abbildungen belegen die Experimente und demonstrieren die von Goethe und Newton entdeckten Farbspektren. Die Leitfrage von Müllers Gedankenspiel lautet: „Was wäre geschehen, wenn sich Newton und Goethe ans Prisma gestellt hätten, um zusammen zu experimentieren?“ Die Antwort erhält der Leser schon im Vorwort: „Möglicherweise sähe heute unsere Physik komplett anders aus.“  

Goethe war also keineswegs ein „Dilettant“ und „verrückt“, als er seine Farbenlehre mit so viel Nachdruck lancierte, dass er dafür sogar seine literarische Tätigkeit an den Nagel zu hängen bereit war. Goethes Einsicht in die Symmetrie zwischen Licht und Finsternis basiert nicht auf „haltloser Abstraktion“ und ist experimentell bestens abgesichert. Sie ist von erheblicher Beweis- und Überzeugungskraft und somit Müller zufolge mit dem Status eines Theorems zu versehen („Gerade weil man’s beweisen kann, rede ich von einem Theorem.“). Im Streit um die Farben steht Goethe Newton in nichts nach, im Gegenteil: Seine Theorie ist sowohl „sensationell“ als auch eine brauchbare und vollwertige Alternative zu Newtons Theorie: „Sämtliche optischen Errungenschaften Newtons können vom dunklen Kopf auf die hellen Füße gestellt werden.“ Die von Goethe entdeckte Heterogenität der Finsternis ist schlichtweg das exakte Gegenstück zu Newtons Entdeckung der Heterogenität des Lichts. Dagegen stehen 200 Jahre „fehlgeleiteter Rezeption“, wissenschaftlicher und wissenschaftsgeschichtlicher Blindheit für Goethes Hellsichtigkeit und für die von ihm entdeckte Symmetrie.

„Goethes Pech ist Newtons Glück“: Unter diesem Motto untersucht Müller die Wirkungsgeschichte von Goethes Farbenlehre, um zu zeigen, dass das „grandiose“ Scheitern dieser Lehre nicht auf ihren fehlenden wissenschaftlichen Wert zurückzuführen ist, sondern größtenteils widrigen Umständen und Zufällen zu verdanken ist. Wäre etwa nicht Newtons Spektrum als erstes entdeckt worden oder käme Goethes Spektrum im All häufiger vor, hätte Goethe ein leichteres Spiel gehabt. Neu entdeckte Spektren und Farbphänomene (etwa vom Wiener Maler Ingo Nussbaumer) liefern heute weitere Beweise für Goethes Lehre, während Goethes Vorgänger in puncto Heterogenität der Finsternis – beispielsweise der schottische Arzt Joseph Reade – von den Zeitgenossen völlig unbemerkt geblieben war. Die von Goethe unterbreitete Alternative von der Heterogenität der Finsternis lässt sich empirisch nicht widerlegen, sie ist lediglich „pragmatisch unattraktiv“ und womöglich „nicht optimal“ dargestellt – dies der Befund, zu dem Müller nach Abwägung mehrerer intrinsischer und extrinsischer Tugenden der Theorien Newtons und Goethes kommt.  

Wer Goethes „Farbenlehre“ gelesen hat, kennt den rigorosen Anspruch des Autors, eine Revolution im naturwissenschaftlichen Denken vollführt zu haben sowie dessen enormen Furor gegen den newtonischen „Hokuspokus“. Goethe setzte sich kein geringeres Ziel, als die alte, nunmehr „unbewohnbar“ gewordene „Burg“ der newtonischen Lehre mit seiner eigenen Farbentheorie abzutragen, „damit die Sonne doch endlich einmal in das alte Ratten- und Eulennest hineinscheine“. Ohne manch ‚wunden Punkt‘ beider Theorien zu verheimlichen, entschärft Müller den Konflikt der beiden Forscher und betrachtet ihn vielmehr als Spiel. Er spricht Newton den „Alleinvertretungsanspruch“ in puncto Farben und Licht ab, macht Goethe stark, indem er den Poesie- und Idealismusvorwurf gegen ihn entkräftet, und wirbt insgesamt für mehr „Wohlwollen“ bei der Beurteilung der wissenschaftlichen Qualität von Goethes Naturwissenschaft. Diese Lanze bricht Müller allerdings nicht nur für Goethe, sondern auch für den Pluralismus in der Wissenschaft und für die wissenschaftliche Vielfalt, zugunsten von Intuition, Phantasie und Freiheit der Forschung, für die Goethe in seinem Buch steht. Müllers Ansatz einer kontrafaktischen Wissenschaftsgeschichte nach dem Schema „Was wäre, wenn …“ ist ebenfalls legitim und begrüßenswert. All das – zu den Verdiensten des Buches gehört auch die Aufdeckung der wenig bekannten frühen Rezeption der naturwissenschaftlichen Werke Goethes – macht das Buch gehaltvoll, attraktiv und erfrischend provokant.    

Und doch ist Müller gewissermaßen in die Symmetriefalle geraten. Die von ihm anvisierte Gleichberechtigung und Gleichwertigkeit von Newtons und Goethes Farbexperimenten und Theorien (vergleiche etwa: „Beide saßen im selben subjektiven Boot – genauer gesagt im selben subjektiv/objektiven Boot.“) mögen nach der Lektüre des Buches aufgrund der aufgezeigten Parallelitäten plausibel erscheinen. Und mag „im Reich der Farben“ tatsächlich „eine strenge Ordnung mit mehreren Symmetrieachsen“ herrschen, auf eine generelle Isomorphie oder „perfekte“ Symmetrie zwischen den Farbtheorien Newtons und Goethes lässt sich kaum schließen, wie das Buch dies suggeriert (zumal auch Müllers Begriff der Symmetrie nicht scharf profiliert wird und nicht deutlich vor dem (goetheschen) Begriff der Polarität konturiert wird.) Die Darstellung von Goethes Theorie als „unorthodoxes Gegenstück“ zu der „orthodoxen“ Lehre Newtons, die krasse Gegenüberstellung zwischen Newtons Dienst an die „Tyrannei“ der Naturwissenschaft und Goethes „Freiheit des Theoretisierens“ gegen Ende des Buches widersprechen außerdem Müllers Bestreben, die Dichotomie zwischen Goethe und Newton aufzuheben.

Von der Dignität als Farbforscher her waren Goethe und Newton wohl doch ebenbürtig, wie der Autor trotz einiger Wiederholungen und sonstiger Redundanzen überzeugend nahelegt. Die Relativierung der Rede von Siegern und Gewinnern in der Wissenschaftsgeschichte, das Offenhalten und die Wiederaufnahme wissenschaftlicher Polemiken ist überhaupt eine der großen Stärken von Müllers Buch. Was aber den Naturbegriff und das naturwissenschaftliche Verständnis beziehungsweise Selbstverständnis Goethes und Newtons betrifft, verhalten sich beide Forscher dennoch wie Feuer und Wasser zueinander. Die Annahme einer Symmetrie zwischen ihnen, die Darstellung von Goethes Farblehre als „gleichwertige Alternativ-Physik“, das Ausblenden der Gegensätze und Kontroversen zugunsten der Idee einer potenziellen Kooperation, des „rationalen Gedankenaustauschs“ zwischen beiden Widersachern bricht Goethes Protest gegen Newton die Spitze und verdeckt den Blick für die jeweils eigene Spezifik der beiden Farbtheorien – wenig Würdigung können in einer solchen, auf der Symmetrie beruhenden Konzeption beispielsweise Goethes Farbphysiologie, Farbpsychologie und Farbästhetik erfahren – und für die höchst unterschiedlichen Zielsetzungen ihrer Autoren. Diese Zielsetzungen bleiben trotz der ausdrücklichen Intention Müllers, das Bild der von Goethe angestrebten humanistischen und holistischen Naturwissenschaft zu entfalten, im vorliegenden Buch leider unterbelichtet. Auch bei den Farben suchte Goethe den „allgemeinen ewigen Grund“ der Dinge zu erkennen. Mit seinem ultimativen Ziel, die universelle Natursprache „auch auf die Farbenlehre anzuwenden, diese Sprache durch die Farbenlehre, durch die Mannigfaltigkeit ihrer Erscheinungen zu bereichern, zu erweitern und so die Mitteilung höherer Anschauungen unter den Freunden der Natur zu erleichtern“, bleibt Goethe meilenweit von Newton entfernt.

Titelbild

Olaf Müller: Mehr Licht. Goethe mit Newton im Streit um die Farben.
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015.
544 Seiten, 26,99 EUR.
ISBN-13: 9783100022073

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