Leben und Sterben in Charkiw

Serhij Zhadan porträtiert in seinem Buch „Mesopotamien“ eine Stadt und ihre Menschen

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Serhij Zhadans neuestes Buch Mesopotamien beginnt mit einem Totengedächtnis und endet mit einem Abendmahl. Da war zuerst Marat: Er ist erschossen worden, doch niemand kennt die genauen Hintergründe. 40 Tage nach der Beerdigung findet die traditionelle Gedenkfeier statt. Marats Witwe, seine Freunde und Angehörigen versammeln sich im Hof unter den blühenden Apfelbäumen und erinnern sich an den Toten. Der Frühling hat eben begonnen. Am Ende steht Luka: Er weiß, dass er bald sterben wird, und lädt noch einmal seine Freunde und Bekannten zu einem gemeinsamen Essen ein: „Luka saß am Kopfende des Tischs, die Schatten verschärften seine Gesichtszüge und vertieften seine Falten. Im Bart dunkelten blutig Tropfen vom Wein. Zu seiner Linken saß Iwan, zu seiner Rechten Surab. Sie hörten zu, ohne ihn anzusehen.“ Unterdessen neigt sich der Sommer dem Ende entgegen – und der Herbst steht vor der Tür.

Zhadan hat die neun Kapitel im „Ersten Teil“ seines Buches Mesopotamien allesamt mit Vornamen überschrieben. Zwischen „Marat“ und „Luka“ entfalten sich so die Geschichten von sieben weiteren Männern. Sie lesen sich ein wenig wie klassische Viten – mit dem Unterschied, dass sie der heutigen Zeit entstammen. Es geht in diesen Texten meist um wichtige Momente im Leben, um die Initiation in die Welt der Erwachsenen, um Hochzeit, um Krankheit und Tod. Erstaunlich dabei ist, dass in den Geschichten meist eher die Frauen im Zentrum stehen, auch wenn keine von ihnen in einem Kapiteltitel erwähnt wird. Mitunter scheint es auch, als gäben die Frauen die überzeugenderen Helden ab als die Männer: Ihnen gelingt es zwar nicht unbedingt besser, ihr Leben zu führen, und auch ihre Charaktere sind voller Widersprüche, doch bewahren sie oft auch in widrigen Umständen eine Würde, die den Männern zuweilen abgeht. Die einzelnen Kapitel, Erzählungen oder Geschichten sind miteinander auf vielfältige Art und Weise verflochten, auch wenn das nur sehr diskret durchscheint: Die Hauptperson der einen Geschichte kann in einer anderen zur Nebenfigur werden, die höchstens kurz erwähnt wird. Liest man die Texte hintereinander weg, so bilden sie einen Kosmos einer Stadt ab – gemeint ist die ukrainische Stadt Charkiw.

Charkiw ist so etwas wie der kollektive, der eigentliche Held von Zhadans Buch, denn es geht vornehmlich um das Zusammenleben der Menschen in dieser Stadt. Und das vor dem Hintergrund einer ethnischen und kulturellen Vielfalt, die allerdings fast schon nebenbei thematisiert wird – als wäre sie (noch) ganz selbstverständlich. Es ist von Christen, Muslimen und Zeugen Jehovas die Rede; im Freundeskreis gibt es Kaukasier und Tataren, und man isst usbekisch, vietnamesisch oder italienisch. Charkiw wird stets auch als Heimat bezeichnet, als Ort, mit dem man verbunden ist. Die Stadt ist Achse und Zentrum der Welt für die hier lebenden Menschen. Die vermeintliche Heimat kommt allerdings nicht als Idylle daher, zumindest nicht ausschließlich. Sie wird nicht idealisiert und zeigt auch dunklere Schattierungen: Charkiw kennt nur allzu viele Probleme: Alkohol, Prostitution, wirtschaftlicher Niedergang, Korruption und Gewalt.

Aber Charkiw ist für die Menschen, deren Biografien sich hier kreuzen, vor allem der Ort, mit dem sie sich durch ihr Schicksal verbunden wissen. Das wird etwa an Bob – wenn auch über Umwegen – deutlich. Bob besucht seine Verwandten in Amerika – mit dem Hintergedanken, vielleicht selbst in die Staaten auszuwandern. Doch während seiner amerikanischen Abenteuer gelangt er zur Überzeugung: „Ich will einfach nur nach Hause – in die Sonnenstadt, die ich so leichtsinnig verlassen habe, von der ich mich unvorsichtig entfernt habe, so weit, dass ich jedwedes Gefühl für sie verloren habe“. Er kehrt schließlich nach Charkiw zurück. Vom Krieg in der Ostukraine ist in diesem Buch im Übrigen noch nicht die Rede; aber gerade das Wissen um die nachmaligen Ereignisse legt bei der Lektüre die Fragilität bloß, die in diesem Mikrokosmos angelegt ist.

Aus der geographischen Lage Charkiws an zwei Flüssen zieht Serhij Zhadan poetischen Vorteil: Er überhöht die Stadt literarisch, indem er sie mit dem Zweistromland Mesopotamien vergleicht. Damit gibt er seinem Buch ein symbolisches Potenzial, das weit ausgreift und die konkreten Geschichten ins Allgemeine hebt. Charkiw steht bei Zhadan archetypisch für die Zivilisation. Der Autor bringt weitere Elemente ins Spiel, die traditionell mit Mesopotamien assoziiert werden. So ist Charkiw bei ihm zugleich der Garten Eden wie auch das Land der Sünden, es meint den Ort der babylonischen Sprach- und Kulturverwirrung, steht aber ebenso für die zivilisatorische Fruchtbarkeit insgesamt.

Überhaupt liegt eine der Stärken von Zhadans Buch im symbolischen „Überbau“, der sich nicht auf Mesopotamien beschränkt. Er umfasst auch eine religiöse Dimension, nämlich die zahlreichen Verweise auf das religiöse und im Besonderen das christliche Erbe. Verschiedentlich ist in Mesopotamien von den Heiligen die Rede, die über den Menschen wachen und diesem theoretisch auch das Muster für ein ideales Leben bereitstellen. So spiegelt sich in gewissem Sinne das Leben der Menschen aus Charkiw in den Viten der Heiligen. Gerade dadurch wird jedoch auch die Diskrepanz deutlich: Die Biografien in Zhadans Buch kann man kaum als vorbildhaft bezeichnen, unbefleckte Lebensläufe gibt es hier nicht – und trotzdem gilt den Menschen in Charkiw die Sympathie des Autors. Drei der neun Kapitelüberschriften entsprechen den Namen von Evangelisten: Ivan, Matwij, Luka. Auch das verleiht Zhadans Buch überindividuellen Charakter.

Fragt man danach, welches Thema die verschiedenen Teile von Mesopotamien zusammenhält, dann könnte man antworten: die Liebe. Es ist – allzu oft – die scheiternde Liebe, bisweilen auch die nur versuchte, erprobte; es ist die Liebe in all ihren Formen. Lukas Rede vor seinen versammelten Freunden ist vielleicht die deutlichste Manifestation des Themas im Buch, weil sie zugleich zum Vermächtnis des Sterbenden wird. Sie erinnert nicht von ungefähr an eine Predigt, welche die zentrale Botschaft von Jesu Lehre aufnimmt:

„Das einzige, was wirklich Gewicht hat, ist unsere Verliebtheit, die Liebe, die wir in uns tragen, an die wir uns halten, mit der wir leben. Wobei du nie wissen kannst, wieviel davon dir zugeteilt wurde, wieviel davon du in dir trägst, wieviel davon auf dich wartet. Sie zu finden ist eine Freude, sie zu verlieren ist Schaden und Unglück. Wir alle leben in dieser seltsamen Stadt, wir alle sind hier geblieben, wir alle kehren früher oder später hierher zurück. Wir leben und tragen die Liebe in uns wie eine Schuld, wie eine Erinnerung, sie vereint all unsere Erfahrungen und all unser Wissen.“

Ein Wort zur Form von Zhadans Mesopotamien ist angebracht. Ein Buch mit einem Umfang von mehr als 350 Seiten wird oft als „Roman“ angepriesen. Dieser Begriff eignet sich im vorliegenden Fall aber schon deshalb nicht, weil nur der erste Teil, die neun „Geschichten und Biographien“, in Prosa gehalten ist. Der zweite, nicht ganz 50 Seiten umfassende Teil mit dem Titel „Erläuterungen und Verallgemeinerungen“ besteht hingegen aus Gedichten. Hier findet ein raffiniertes Spiel mit der Form statt: Der zweite, lyrische Teil liest sich also einerseits wie eine Reihe von Anmerkungen zum ersten Teil, zugleich darf man aber von hier nicht auf einen minderen Status in hierarchischer Hinsicht schließen. Beide Teile sind als gleichwertig anzusehen. In sich funktionieren die zwei Teile zudem als Zyklen. Sie nehmen verschiedene Figuren, Motive und Themen mehrmals auf, verknüpfen diese miteinander und variieren sie. Die Struktur des Buchs wird insofern noch vertrackter, als sich sowohl im Prosa- wie auch im Lyrikteil ein Ich-Erzähler zu Wort meldet, der sich jedoch nicht auf eine einzige Figur reduzieren lässt. Die Frage nach dem Zusammenhang der einzelnen Texte sowie der beiden Teile miteinander ist auch deshalb von Interesse, weil es in der Weltliteratur zumindest ein sehr bekanntes Werk gibt, das in ähnlicher Weise Prosa und Lyrik kombiniert: In Boris Pasternaks Roman Doktor Schiwago sind am Schluss die Gedichte Jurij Schiwagos  abgedruckt. An dieses Verfahren fühlt man sich bei der Lektüre von Mesopotamien unwillkürlich erinnert.

Wie auch immer man dies alles aufschlüsselt: Es scheint, als bilde sich die Komplexität des Mikrokosmos namens Charkiw auch in der Architektur des Buchs noch einmal ab. Serhij Zhadans Mesopotamien verlangt deshalb auch nach einer mehrfachen Lektüre. Die Verflechtungen der Figuren, das Zusammenspiel der verschiedenen Motive, die religiösen und historischen Anspielungen erschließen sich einem nur ansatzweise auf den ersten Blick. Dabei fällt auf, dass Serhij Zhadans Prosa inzwischen reifer geworden ist, ernster. Das tut ihr zweifellos gut. Zhadan hat sich thematisch und literarisch von den 1990er-Jahren verabschiedet. So sehr man auch an der früheren Pop-Prosa des Autors Gefallen finden konnte, die einem experimenteller, wilder, witziger und um einiges surrealer vorkommen konnte: Die Spuren seiner möglichen künstlerischen Entwicklung in der Zukunft, die Zhadan in Mesopotamien gelegt hat, sind jedenfalls vielversprechend.

Titelbild

Serhij Zhadan: Mesopotamien. Roman.
Übersetzt aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe, Juri Durkot und Sabine Stöhr.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2015.
365 Seiten, 22,95 EUR.
ISBN-13: 9783518425046

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