Mutterseelenallein

Anke Stelling ergründet in ihrem dritten Roman „Bodentiefe Fenster“ Vergangenheit und Zukunft einer Idee

Von Britta CaspersRSS-Newsfeed neuer Artikel von Britta Caspers

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Anke Stelling berichtet in ihrem Roman Bodentiefe Fenster aus einem Milieu augenscheinlich gut situierter, ökologisch bewusster und politisch aufgeklärter junger Eltern und von ihrer vermeintlichen Emanzipation von Rollenklischees. Dabei macht die subjektive Perspektive der Hauptfigur, der der Roman mit seiner Form des inneren Monologs verpflichtet bleibt, die Täuschung und Selbsttäuschung der damit verbundenen Lebensentwürfe sichtbar. Die Protagonistin des Romans ist Sandra, ihr Name „leicht auszusprechen, unprätentiös“, Mutter zweier Kinder und damit notorisch überfordert, verheiratet mit Hendrik und (im wahrsten Sinne des Wortes) wohnhaft in einem selbst gezimmerten Mehrgenerationenhaus im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg. Ein Mikrokosmos. Ein Haus mit bodentiefen Fenstern und (freilich nur den Hausgenossen) allzeit offenstehenden Türen, was – so wird dem Leser bald deutlich – zur Verinnerlichung von Selbstkontrolle führt und die Fähigkeit zum selbstbewussten Schauspiel zur unabdingbaren Voraussetzung hat. So spricht Sandra ihre Gedanken auch meistens nicht laut aus; die Zwiesprache, in der sie die Wahrheit sagt – „die Wahrheit, die uns davor bewahrt, in die Klapsmühle zu gehen“ –, findet nur in ihrem Kopf statt. Denn das Zusammenleben im Generationenhaus ist von zwar unausgesprochenen, dafür aber umso härteren Regulierungen und Selbstregulierungen geprägt und böte ausgezeichnetes Belegmaterial, um die Prozesse ‚flexibler Normalisierung‘ zu studieren.

Folie für das aktuelle Geschehen, das im Erleben der Hauptfigur Kontur gewinnt, sind Sandras Erinnerungsbilder an die Zeit der eigenen Kindheit und Jugend in den 1970er und 80er Jahren, die von ihr analysiert, seziert, mitunter auch zynisch kommentiert werden. Das Residuum der Kindheit ist für sie keines mehr, denn nahezu jede positive Erfahrung von kindlichem Glück und Unbefangensein ist mit der an sie herangetragenen, jedoch unter den Bedingungen einer spätkapitalistischen Gesellschaftsordnung schlicht uneinlösbaren Erwartung verbunden, eine herrschafts- und konkurrenzfreie Gesellschaft zu schaffen. In der pointierten und überzeugenden Form, die die Autorin mit ihrem Roman gefunden hat, vermischen sich mit der Absichtserklärung, eine sozial gerechtere und auf nicht-autoritären Strukturen basierende Gesellschaftsform zu schaffen, kollektive Zwangsvorstellungen, die mehr von Selbstbetrug und Doppelmoral zeugen als von der Einsicht in ökonomische Zusammenhänge. Sandras Versuch, allen Ansprüchen und Idealen gerecht zu werden, schlägt um in Isolation und Verzweiflung.

Ist Bodentiefe Fenster nun ein politischer Roman? Insofern ja, als die Autorin mit ihrer Milieustudie gleichsam Ideologiekritik am lebenden Objekt betreibt. Kritisch könnte man einwenden: Die Berliner Autorin zeichnet kein Bild dieser Gesellschaft, sondern beschränkt sich auf eine Art Nabelschau einer ganz bestimmten sozialen Schicht, die es sich leisten kann, sorgenvoll das Aufgehen des Hefeteigs zu beobachten. In der Perspektive eines wirtschaftlich und sozial privilegierten linksliberalen Bürgertums finden die grundlegenden gesellschaftlichen Widersprüche lediglich in einem diffusen Unbehagen und in der Angst vor dem sozialen Abstieg ihren Niederschlag. „Ich kann nicht glauben, dass das Zufall ist“, so heißt es, als Sandra wieder einmal nach den Ursachen für das von ihr beklagte ‚Scheitern‘ des gesellschaftlichen Aufbruchs von 1968 und die Selbstgefälligkeit derer sucht, deren Eltern ihnen die ‚gerechte Welt‘ zur Aufgabe gemacht haben. „Das hat System, man will mir den Zugriff verwehren, die Sicht verstellen. […] Wer ‚man‘ ist? Derselbe, der mich davon abhält, auf der Stelle Hendrik zu wecken, die Kinder aus dem Bett zu holen, Claudia rauszuklingeln, Kerstin anzuschreien, Alarm zu schlagen, zum Aufbruch zu rufen“.

Was dieser Roman beispielsweise mit Dorothee Elmigers 2010 erschienenem Debütroman Einladung an die Waghalsigen bei aller Verschiedenheit gemeinsam hat, ist die Frage, wie an emanzipatorisch-revolutionäre Ideen und Befreiungstheoreme anzuknüpfen ist in einer Zeit, die sich – so die Kritik der jungen Schweizer Autorin – als eine geschichtsvergessene erweist. Die Frage, die sie mit ihrem Roman stellt, zielt darauf, welche Konsequenzen die tiefgreifenden Veränderungen innerhalb der Arbeits- und Produktionsbedingungen, der Auslagerung großer Teile industrieller Produktion für ein linkes politisches Selbstverständnis haben. Und obgleich Elmigers Roman keine politisch eindeutigen Antworten bietet, stellt er doch den Versuch einer Reflexion politischer Bestimmungen wie Arbeit, Ökonomie und Eigentum im Medium einer Literatur dar, die zugleich nach neuen Formen sucht. Demgegenüber zeigt sich, dass die mit dem Roman Bodentiefe Fenster intendierte Abrechnung ex post mit einer Zeit der gesellschaftlichen Erneuerung, ungeachtet der erzählerischen Qualitäten, dem komplexen Ereignis 1968 in dieser Form nicht gerecht wird und letztlich mit ihrer Fokussierung von Befindlichkeitsphänomenen in nichts anderem als Geschichtsvergessenheit mündet. 

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Anke Stelling: Bodentiefe Fenster. Roman.
Verbrecher Verlag, Berlin 2015.
249 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783957320810

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch