Zwickern mit Lotti, Trudi und Leni

Ocke Bandixen hat mit „Große Fahne West“ einen Roman zur deutschen Wiedervereinigung aus Sicht eines jungen Nordfriesen geschrieben

Von Sonja KerstenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sonja Kersten

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die DDR kannte er nur von Dalli-Dalli und dem Deutschlandreise-Spiel mit dem Großvater. In seiner Vorstellung war sie grau, ein diffuser, halbrunder Fleck Land, in das der Opa beim nachmittäglichen Spiel nicht einmal sein Plastikfigürchen setzen wollte. Peter Leversen, der Protagonist und Ich-Erzähler in Ocke Bandixens Roman „Große Fahne West“, ist in vielerlei Hinsicht am Rand aufgewachsen: am Rand der deutsch-deutschen Geschichte, am Rand der deutsch-deutschen Gesellschaft, am geografisch äußersten Rand des Landes in der nordfriesischen Kleinstadt Feddering – dort, wo der Westwind zuerst und die Zeitung zuletzt hinkommt. Noch zu Oberstufenzeiten, in den ausgehenden 1980er-Jahren, glaubte Peter, zu den zehn größten Städten der DDR zählten Königsberg, Stettin, Brandenburg, Schlesien und Bozen. Die DDR interessierte den 19-Jährigen nicht. Das Leben an der schleswig-holsteinischen Küste, die Arbeit im Garten, das Zwickerspiel mit seinen Tanten Leni, Trudi und Lotti bildeten seine Welt, einen abgeschlossenen Mikrokosmos. Der realsozialistische deutsche Staat war für ihn weit, zu weit weg.

Das ändert sich für Peter jedoch schlagartig, als am Morgen des 10. November 1989 die Nachricht vom Mauerfall aus den Lautsprechern des Küchenradios an sein Ohr dringt: Plötzlich ist sein Interesse  geweckt. „Ich hatte in den folgenden Tagen und Wochen damit zu tun, alles mitzubekommen, saß bis nachts vor dem Fernseher, kaufte Zeitungen, auch auswärtige, Wochenblätter, Magazine, um ja alles mitzubekommen“, erzählt Peter rückblickend. „Ich kannte in wenigen Tagen die Mitglieder des Politbüros und die Dissidenten mit Namen und Lebenslauf. Sie wurden für mich zu Hauptdarstellern in einem täglich fortgeschriebenen Stück […]. Es war, als könne ich der Welt beim Drehen zusehen.“

Da kommt es ihm nur recht, dass Fedderings engagierter Vikar im Wiedervereinigungsjahr 1990 einen Jugendaustausch mit der kleinen mecklenburgischen Gemeinde Zembin organisiert. Selbstredend nimmt Peter daran teil. Er will das fremde, das andere Deutschland kennenlernen, die „Weltgeschichte live mit[erleben]“. Ein bisschen denkt er dabei aber auch an jenes Mädchen, das er vor einigen Jahren auf einer Klassenreise in Leningrad kennengelernt hatte und das seine erste Liebe gewesen war: Engellena. Sie kam aus der DDR und die Mauer hatte ihr junges Glück damals schnell seine Grenzen spüren lassen. Sie trifft er – man ahnt es bereits – bei einem ersten Besuch in genau jener ostdeutschen Gemeinde wieder. Und auch sie nimmt an dem deutsch-deutschen Austausch teil. Während Peter also Zembin und seine Bewohner kennenlernt, verbringt Engellena zeitgleich drei Monate in Feddering. Kommunizieren können sie nur brieflich, um sich ihre Verwunderung über den jeweils anderen Teil Deutschlands mitzuteilen. Und natürlich wird ihre junge Liebe auf die Probe gestellt.

Zugegeben: Es fällt schwer, diese (allzu romantische) Wiederbegegnung als Zufall zu sehen. Und ja, in weiten Teilen wirkt die Handlung in „Große Fahne West“ mächtig konstruiert, das Personal zuweilen seltsam stereotyp. Übereifer und Wissensdrang des pubertierenden Peter haben fast schon Vorbildcharakter. Auch die musisch begabte, nachdenkliche Engellena, die analog und mit skeptischem Blick den Westen kennenlernt sowie ihr aufmüpfiger Bruder Lanz, ein (natürlich!) enger Freund Peters, erfüllen gut ihre Rollen als Mit- und Gegenspieler. Manchmal brechen zudem sprachliche Eigentümlichkeiten die erzählerische Welt auf, der Leser wird zurückgeworfen auf die Konstruiertheit des Textes: Die chronische Wiederholung des Vikarnamens „Openhagen, ‚wie K nur ohne‘“, um hier nur ein Beispiel zu nennen, entbehrt schon nach kürzester Zeit seiner Unterhaltsamkeit und wird schnell zur vielmehr nervigen denn rhetorischen Figur.

All das kann man, wenn man so will, Bandixens Roman vorwerfen. Man kann seine Konstruiertheit verurteilen, seine Künstlichkeit kritisieren, sich stellenweise an seiner Klischeehaftigkeit stoßen. Man kann ihn aber auch anders sehen. Man kann tiefer hinter diese vermeintlichen Kritikpunkte blicken und den Konstruktionscharakter der Geschichte als ein bewusstes Prinzip begreifen: als ein interessantes Stilmittel und als eine große Stärke des Werkes. Warum?

Über seine Zeit in der Fremde formuliert Engellenas Mutter Hanne hierzu die entscheidenden Worte: Peter, den sie treffenderweise als Columbus, den alten „Entdecker aus dem Westen“ bezeichnet, mache ein „DDR Praktikum. Bevor es zu spät ist“. In der Tat ist Peter getrieben von dem innigen Wunsch, die (ehemalige) DDR möglichst authentisch und in all ihren Facetten kennenlernen und begreifen zu können. Er will sich einfügen in das Leben der Zembiner Bewohner, ein Teil ihrer Gemeinde werden: „Es waren glückliche Tage voller Wind. Ich sah und lernte, wie man isst, trinkt, badet und dass die Sandburgen hier ebenso rund und nicht eckig waren.“ Sein Freund Lanz zeigt ihm, wie sich eine ostdeutsche Flasche Milch öffnen lässt, ohne beim Eingießen zu kleckern, und wie lokal produzierter Apfelsaft und Ostschokolade schmecken. Als Peter merkt, dass die Spuren der einstigen DDR jedoch Tag für Tag weniger werden, beginnt er, Restbestände zu sammeln, „Ostbücher für alte Ostpreise [zu] kaufen“, Abgelegtes, Übersehenes, plötzlich Wertloses wie für eine kleine private Studie zusammenzutragen.

Doch es ist kein Herabschauen, kein naserümpfendes Begutachten, kein voyeuristischer Ost-West-Vergleich, den Peter hier unternimmt. Bandixens Erzähler zeigt offen und einfühlsam, ja manchmal auch plump (so plump wie ein in Zembin einrollender Bus voller West-Touristen nur sein kann!), wie Vorurteile das Bild vom jeweils anderen Teil Deutschlands bestimmen und auch fehlleiten können. Gleichzeitig zeigt er aber auch, wie schwer, vielleicht sogar unmöglich es für Außenstehende wie Peter (und analog dazu Engellena) ist, sich nachträglich ein wahrhaft authentisches Bild zu machen. Eines, das die deutsch-deutsche Geschichte nicht nur nachvollziehbar macht, sondern verstehen lässt, was sich ereignet hat. Peters Bemühungen sind Konstruktionsversuche. Er will sich Fragmente der Vergangenheit aneignen, sie zusammensetzen wie Puzzleteile, um zu sehen, wie es in der DDR gewesen ist. Es ist ein Projekt, das nicht gelingen kann, selbst wenn er später versucht, noch weiter Richtung Osten, in die Stadt Leningrad zu gehen.

Vielleicht deshalb korrelieren an genau diesem Punkt Form und Inhalt von „Große Fahne West“ so deutlich: Aller Bereitschaft und Unvoreingenommenheit, allem Wollen, Forschen und Engagieren zum Trotz kann Peter das, was er so sehr kennenlernen will, nicht erreichen. Es entstehen stets nur konstruierte Bilder, die sich aus Vergangenheitsrelikten und Erzählungen, nicht jedoch aus Erfahrungen zusammensetzen. In Peters Geschichte, in ihrer Struktur und in ihrer Machart spiegelt sich dieser Konstruktionscharakter auf vielen Ebenen: In der eben nur vermeintlichen Zufälligkeit der Begegnungen und Handlungsabläufe, in der zum Teil formelhaften Figurengestaltung und in der immer wieder auf die Oberfläche, die Textstruktur zurückweisende Sprache. Peters Geschichte ist ein Konstrukt. Ist das zu verurteilen? Nein, es ist konsequent.

Ocke Bandixen, Jahrgang 1970, ist selbst an der nordfriesischen Küste Schleswig-Holsteins aufgewachsen. Zur Zeit des innerdeutschen Umbruchs war der heutige Hörfunkjournalist und NDR-Kulturredakteur 19 Jahre alt – in genau jenem Alter also wie der Protagonist Peter in „Große Fahne West“. Dass sich der Autor für seinen mittlerweile zweiten Roman – trotz allen Aneignens – die ein oder andere Erinnerung von sich selbst „geliehen“ hat, wie er im Nachwort schreibt, ist naheliegend und trägt wohl auch seinen Teil dazu bei, dass „Große Fahne West“ in der gegenwärtigen „Wendeliteratur“ gerade jüngerer Autorinnen und Autoren in vielerlei Hinsicht noch Seinesgleichen sucht. Denn nur selten und schon gar nicht in dieser Intensität spielen in westdeutschen Adoleszenzgeschichten der 1980er- und 90er-Jahre das Ende der deutschen Zweistaatlichkeit und die Veränderungen durch die Wiedervereinigung eine so handlungsbestimmende Rolle wie in Bandixens Roman. Man denke an Florian Illies‘ „Generation Golf“ (2000) etwa, an David Wagners „Meine nachtblaue Hose“ (2000) oder auch an Jan Brandts „Gegen die Welt“ (2011), das im Klappentext sogar explizit als großer deutscher Roman über die Wende in Westdeutschland bezeichnet wurde.

Insofern eröffnet Bandixens „Große Fahne West“ eine interessante neue Facette in der gegenwärtigen „Wendeliteratur“. Es ist ein Roman, der die Konfrontation mit jenen Werken, in deren Schatten er bis heute steht, nicht zu scheuen braucht. Ganz im Gegenteil: Deutlicher als viele andere ist er Zeugnis eines Aspekts des aktuellen „Wende“-Diskurses, der mit wachsendem zeitlichen Abstand zu den Jahren 1989/90 zunehmend relevant wird: Nicht mehr allein (auto)biographische Erfahrungen sind der ausschlaggebende „Stofflieferant“, um von der deutsch-deutschen Geschichte, ihrem Ende und ihren Folgen erzählen zu können. Die Zeit der deutschen Zweistaatlichkeit und Einheit wird (auch) zu einem „Forschungsareal“, dem sich diejenigen, die nicht oder nur auf wenige eigene Erfahrungen und Erlebnisse zurückgreifen können, nur über nachträgliche (Wissens-)Aneignung anzunähern vermögen. Deutschlands jüngste Zeitgeschichte nachspüren, nachempfinden, ja verstehen zu wollen, auch wenn man nur am Rand stehend auf sie blicken kann, muss – das liegt in der Natur der Sache – immer über diesen Weg der retrospektiven (Re-)Konstruktion geschehen. Peter Leversen steht beispielhaft hierfür in Bandixens „Große Fahne West“ und es spiegelt sich eben auch in literarästhetischer Hinsicht im Charakter des Textes wider. Das kann man, wenn man so will, dem Roman zugutehalten. Und das macht ihn allemal lesenswert.

Titelbild

Ocke Bandixen: Große Fahne West. Roman.
Osburg Verlag, Hamburg 2013.
285 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783955100001

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