Am Übergang zur Moderne

Über Dieter Eisentrauts „Manets neue Kleider“

Von Moritz Senarclens de GrancyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Moritz Senarclens de Grancy

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Von einer Metaphorizität von Bildern lässt sich sprechen, wenn Bildmotive bekannter Werke der Malerei von nachfolgenden Künstlern aufgegriffen und in neue Zusammenhänge gebracht werden. Diese Wanderbewegung von Bildern und ihre vielfältigen Beziehungen zueinander untersucht Dieter Eisentraut ausgehend von drei Werken des französischen Impressionisten Edouard Manet in seinem Buch Manets neue Kleider. Der sorgsam editierte Band demonstriert Erkenntnisreichtum und Diskursstärke einer Kunstwissenschaft, die den Fokus auf innere Zusammenhänge richtet und die nicht an formalen Beschreibungen haften bleibt.

Manets Bilder beanspruchen wie kaum andere Werke in der Malerei eine „Scharnierfunktion“ am Übergang zur Moderne. Der 1832 in Paris geborene Künstler bezog sich seinerseits auf traditionelle Motive – zum Beispiel auf die Pastorale im „Frühstück im Grünen“– und dekonstruierte dieses Motiv zugleich, wie es in die Bildarrangements von Giorgione und Tizian Eingang gefunden hatte. Dabei gelang Manet das Kunststück, dass nachfolgende Kollegen auf seine Bildmotive zurückgriffen und diese neu interpretierten. Eisentraut entdeckt bei Manet insofern auch eine „Unbestimmtheitsstelle, die zu einer diskursiven Füllung einlädt“. Dabei reichen selbst „winzige Partikel“ aus, so der Autor, damit das Gedächtnis ein Bild Manets vollständig zusammensetzt – wie etwa bei Jiri Kolárs Collage „Moulin de la Galette“, das in Bezug zu Manets „Bar in den Folies-Bergère“ steht.

Gewiss wäre Eisentrauts Studie selbst undenkbar ohne die Vorarbeiten des Hamburger Kunsthistorikers Aby Warburg. Dessen Mnemosyne-Atlas eröffnet einen Zugang zu Bildwerken, bei dem einzelne Motive bildsprachlich aufgegriffen und ihre figurativen Wandlungen in der Kunstgeschichte weiterverfolgt werden. Warburgs Pionierarbeit blieb in seiner Disziplin indes lange marginalisiert, weil sie sich weniger für den historischen Bezugsrahmen interessiert, sondern die Migration von Bildmotiven erforscht. Eisentraut setzt hier an und zeigt, wie bei den ausgewählten, in Reaktion auf Manet geschaffenen Kunstwerken die Bedeutungsdimensionen des Originals aufgegriffen und in neue Zusammenhänge übertragen werden. Dass diese Neukontextualisierungen auch auf das Original zurückwirken, versteht sich von selbst. In der wechselseitigen Betrachtung gewinnt der Verfasser somit immer auch neue Aussagen über die Manet’schen Vorlagen.

Doch gelangt Eisentraut nicht nur über Aby Warburg zu seinen Thesen, sondern – in der Linie von Ernst Kris, Ernst Gombrich oder Griselda Pollock – mit Hilfe der angewandten Psychoanalyse. Denn dass Kunstwerke ästhetische Phänomene sind, ist klar; dass sie auch eine psychische Komponente haben, muss jedoch immer wieder erläutert werden. So kann man sie etwa als Kompromissbildungen zwischen Phantasie und Abwehr auffassen. Indem Eisentraut psychoanalytische Konzeptbegriffe wie Verschiebung, Kastration oder Fetisch zunächst definiert und dann zur Grundlage seiner Argumentation macht, entgeht er der Gefahr, diese lediglich zu bebildern. Vielmehr nutzt er geschickt und kenntnisreich das psychoanalytische Begriffsrepertoire, um die von Kunstwerken ausgehende Affektwirkung auf den Betrachter etwa durch Darstellungen nackter Frauen zum Beispiel in den künstlerischen Rezeptionen von Manets „Olympia“ zu erklären.

Glücklicherweise setzt Eisentraut psychoanalytische Konzepte nicht im Sinne einer katalogartigen Zuschreibung vermeintlich verdeckter Bedeutungen ein; vielmehr besinnt er sich darauf, welche Bedeutungen im Zuge der pikturalen Transformationen neu entstehen – etwa wenn in Manets Paris der 1860er-Jahre die festen Grenzen der Klassenzugehörigkeit durch Prostituierte aufgelöst werden, die sich wie Manets Kunstfigur Olympia eine gesellschaftliche Machtstellung erobern. Der Verfasser bringt hier das psychoanalytische Werkzeug produktiv zum Einsatz, indem er es zur Zuspitzung seiner Fragen an die nachfolgenden Kunstwerke und deren „Neukontextualisierungen“ heranzieht. Auf diese Weise kann er die „unbegrenzten Möglichkeiten des Frühstücks“ aufzeigen und das Prozesshafte herausstellen, das in den zahlreichen Rezeptionen Manetʼscher Bildelemente epistemische Wirkung entwickelt. Was man als das metaphorische Prinzip in der Kunst bezeichnen könnte, sofern der begangene Konventionsbruch seinerseits als neue Konvention anerkannt wird, die es irgendwann erneut zu brechen gilt, wodurch beispielsweise der Schönheitsbegriff oder eine andere Begrifflichkeit ein umʼs andere Mal verschoben wird. Der Nutzen für die Kunstbetrachtung liegt darin, neue Sehgewohnheiten zu ermöglichen.

Dieser Prozess tritt nirgends deutlicher zutage als bei der Veränderung traditioneller Vorgaben, die ein bestimmtes Frauenbild mitgeprägt haben. So kann Eisentraut mit Manets „Olympia“ nicht nur ein Gründungsbild der Moderne exemplifizieren, sondern auch als „Ausdrucksträger verdrängter Wünsche“ einer von Männern dominierten Gesellschaftsordnung: „Olympia wurde zu einem Sinnbild, in dessen Bearbeitung verschiedenste Strategien Anklang fanden“. Zahlreiche Künstlerinnen und Künstler griffen Manets Bildarrangement auf wie beispielsweise Gustave Courbet, Paul Cézanne, Paul Gaugin, Pablo Picasso, Félix Vallotton, Christian Schad, Jean Dubuffet, Francis Bacon, Alice Neel, Eric Fischl, Yasamusa Morimura, Katarzyna Kozyra, Annette Bezor, Wafaa Bilal, Kayti Didriksen und viele mehr. Die Vielfalt der Aneignungsthematiken scheint grenzenlos. Indes erscheinen sie nur selten beliebig, denn die Arbeiten von Künstlern mit Manetbezug sind meist Auseinandersetzungen mit Machtgefügen und Hierarchien.

Die Vielzahl an künstlerischen Aneignungen kann durchaus auch den Vorwurf der Ausbeutung oder mangelnder Kreativität auf den Plan rufen. Eisentrauts Buch stellt indes klar, wie die Rückgriffe auf Manet neue Sinnzusammenhänge ausloten und beispielsweise die Beziehung zur Tradition hinterfragen. Eine Arbeitsweise, die in der Malerei – zumindest seit der Renaissance – gang und gäbe ist.

Bei genauer Betrachtung geben Manets Bilder zuweilen Rätsel auf: Warum wirken seine Figuren häufig wie nachträglich ins Bild hineingestellt? Warum bleibt die Handlung oft so eigenartig unklar? Weshalb diese merkwürdige Isoliertheit seiner figürlichen Arrangements beim „Balkon“ oder auch beim „Frühstück“? Letzteres Werk nimmt bekanntlich Jeff Wall in seinem Großbilddia „Geschichtenerzähler“ („Storyteller“) aus dem Jahr 1986 zur Vorlage. So lösen die neuen Kontexte, in die beispielsweise Viktor Burgin die Olympia mit seiner gleichnamigen Serie aus dem Jahr 1982 bringt, Assoziationen anhand der Initiale „O“ zu Reflexionen über Genderkonstellationen in phantastischer Literatur und früher Psychoanalyse aus. Das kunsthistorische Zitat gestattet in seiner bildlichen Übertragung eben zahlreiche Bedeutungsnuancen und -anknüpfungen mit letztlich unendlich vielen Bezugsmöglichkeiten. Unterschwellig verhandelt Eisentrauts Buch auch das Verhältnis von Bild und Sprache, stellt sich doch bei den zahlreichen Übertragungen Manet’scher Bildmotive implizit immer auch die Frage, was die künstlerischen Rezeptionen beim Betrachtungsprozess sprachlich ermöglichen. In diesem Sinne bilden die von Eisentrauts Studie untersuchten Werke „einen umfangreichen Diskurs, der als Pendant zum ‚Sprechen‘ des Patienten auf der psychoanalytischen Couch gesehen werden kann“. Die Frage nach dem Sinn von Wiederholungen beantwortet sich dann hier wie dort anhand der Deutungsebenen, die durch einen Einfall gelegt werden können.

Titelbild

Dieter Eisentraut: Manets neue Kleider. Zur künstlerischen Rezeption der "Olympia", des "Frühstücks im Grünen" und der "Bar in den Folies-Bergère".
Georg Olms Verlag, Hildesheim 2014.
280 Seiten, 68,00 EUR.
ISBN-13: 9783487151441

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