Das Reisen der Anderen

Lothar Pikulik vergleicht in seiner Monographie „Erkundungen des Unbekannten“ Formen des neuzeitlichen Reisens, kann sich darin aber dem Sog der Romantik nicht erwehren und erschöpft sich fast in deren Reiseideal

Von Sandy LunauRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sandy Lunau

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Pünktlich zum Ende der Urlaubssaison erscheint es sicherlich nicht wenigen abwegig, sich nochmal gedanklich mit dem Reisen zu befassen und dadurch den Ferienmodus vielleicht zumindest ein wenig zu verlängern. Wer dies möchte, dem sei mit Lothar Pikuliks Veröffentlichung eine konzise, leicht lesbare und dabei immer noch sehr gelehrsame Handreichung empfohlen. Auf knapp 200 Seiten erkundet er nicht nur verschiedene Formen des Reisens, sondern vor allem die ihnen zu Grunde liegende Motivation. Diese vermutet er insbesondere in der Neugier und im Ungenügen des Alltäglichen. Demnach gilt Pikulik auch die Absolution der curiositas in der Renaissance und vor allem der Aufklärung als grundlegend für das Aufkommen einer Reisekultur, da bis dato die Erforschung der äußeren Welt aufgrund der dadurch befürchteten Verfehlung der Begegnung mit Gott, die ausschließlich im Inneren des Geistes stattzufinden hatte, verpönt war.

Spätestens mit der Aufklärung treten aber die Suche nach Erkenntnis mit den Mitteln der Ratio und der Wahrnehmung in den Mittelpunk, begünstigt durch die anbrechende Säkularisierung und den damit einhergehenden Subjektivismus. Vermehrte Entdeckungs- und Forschungsreisen sind die Folge, wobei in der Regel die Nützlichkeit in Form der Welterschließung und der Wissensproduktion im Vordergrund steht. Aber auch hier wird das Reisen häufig wie später in der Romantik bereits als Selbstzweck verstanden oder als Ausdruck einer höheren Gesinnung gewertet. Dass aber die durch das Reisen gewonnene Erfahrung dabei im Vordergrund steht, zeigt auch der dabei virulente Wahrheitsbegriff, der Wissenserwerb durch Erfahrung also auf der Grundlage von Empirie vorsieht. Bei diesem klar wissenschaftlichen Anspruch hält es Pikulik aber für wichtig, dennoch nicht zu verschweigen, dass auch irrationale Triebe, zu denen er zum Beispiel die Neugier zählt, die frühen Entdeckungsreisen bedingen.

Pikulik unterscheidet dieses Reisen als Quelle der Erfahrung vom Reisen als Erleben. In dieser Reiseform ist das Movens der Reise die Ergründung der Geheimnisse der menschlichen Seele. Nicht die äußere Welt steht im Vordergrund, sondern die Regungen des Herzens. Erreicht werden soll damit eine moralische Bildung. Diese Form des Reisens erstarkt in der Romantik, in der auch das Ungenügen der gegebenen Zustände zum Hauptmovens des Reisens wird. Ab diesem Kapitel zeigt sich ein Problem der Untersuchung, dass darin begründet liegt, dass die einzelnen Formen des Reisens mitunter nur sehr schwer voneinander abzugrenzen sind. Dies gilt beispielsweise für das Reisen als Daseinsform, das ebenso wie das erlebnisorientierte Reisen mit der Romantik verknüpft ist. Es stellt sich die Frage, ob die Kapiteleinteilung an dieser Stelle nicht problematisch gewählt ist. Zum Beispiel ist nicht ganz einleuchtend, warum die Abenteuerreise unter der Überschrift „Reisen als Erleben“ verhandelt wird, da doch das Abenteurerdasein wie keine andere Lebensform ein Verständnis der „Reise als Daseinsform“ bedeutet. Im Allgemeinen verwundert die Themenauswahl im Kapitel „Daseinsform“, vor allem dadurch, dass die beiden Unterkapitel „Irr- und Leidenswege“ und „Ausnahmezustand“ von erzwungenen Reisen berichten, die sich für mein Dafürhalten nur schwer mit einem Verständnis der Reise als Daseinsform in Einklang bringen lassen, während vieles was zuvor unter „Reisen als Erleben“ dargestellt wurde ebenso oder gar eher als Daseinsform aufgefasst werden könnte. Für mein Verständnis am nächsten zum Konzept der Reise Daseinsform erscheint die unter „Transzendente Sinnsuche“ beschriebene Reiseform, bei der es um die Suche nach dem ursprünglichen Sinn der Welt geht, der der Ratio verschlossen ist, und deswegen auch nicht durch Forschungsreisen ergründet werden kann. Eine poetische Perspektive macht dieses Reisen aus, das durch seine mangelnde Zweckbestimmung auch Ausdruck von Nonkonformität ist. Ihr grundlegendes Movens ist das Ungenügen an der Wirklichkeit, was oft zu einem Reisen als Dauerzustand führt, da die Ferne immer den Reiz verliert, sobald sie erreicht wird. Das Ideal der unendlichen Sehnsucht als Grundbedingung eines erfüllten Lebens macht diese Reiseform aus. Sie tritt Pikulik zu Folge vor allem in der Romantik auf, wie auch das Ideal des Reisens als Erleben. Im Allgemeinen erscheint vieles von dem, was der Autor beschreibt, dem romantischen Mindset entsprungen zu sein; sein Schwerpunkt liegt also ganz deutlich auf dieser Epoche und der damit verbundenen Vorstellung vom Reisen. Dies lässt den Verdacht aufkommen, Pikulik hege selbst ein arg romantisiertes Reiseideal, das er bisweilen auch unverhohlen gegenüber anderen Vorstellungen aufwertet. So wird die moderne Form des Reisens in Form des Massentourismus grundsätzlich abgelehnt und als sinnentleertes Reisen um des bloßen Reisen willens mit wenig Erfahrungs- und Erlebenswert verunglimpft. Eine genauere Untersuchung des Phänomens erfolgt nicht, genau wie auch die anderer Reiseformen wie etwa der Pilgerreise oder der Geschäftsreise. Die Auswahl erscheint demnach auffallend gefiltert und es kommt der Verdacht auf, sie sei der Unterstützung der Hauptthese geschuldet, Reisen entspringe der Neugier, dem Reiz des Unbekannten, der Interesse auslöse oder eben dem Ungenügen des Alltäglichen. Auch wertet er moderne Erscheinungen wie das kompetitive Umrunden der Welt als Ausdruck nationaler Eitelkeit ab, ohne aber darauf hinzuweisen, welche Rolle Entdeckungsreisen im Programm des Nationalismus gespielt haben und inwiefern auch die romantische Reise nationalistisch gefärbt sein konnte.

Ein weiterer Kritikpunkt bezieht sich auf zwei Kapitel im letzten Teil des Buches, und zwar „Wege des Geistes“, in dem der Zusammenhang von Bewegung und geistiger Betätigung behandelt wird, dessen Erkenntnisgehalt sich aber darin erschöpft, dass eins bisweilen das andere begünstigt und die Beschreibung des Denkens sich oft einer auffallenden Wegemetaphorik bedient. Darüber hinaus wird im Unterkapitel „Forscherprogramme“ Lessings Vorstellung von einem alternativen Forschertypus präsentiert, den er sich als Wanderer zwischen den Disziplinen denkt. Dieser lässt sich von seinen Eindrücken leiten und weicht damit auch durchaus vom Hauptweg einer wie auch immer gearteten Spezialisierung ab, so dass er sich eher als Universalgelehrter begreifen lässt. Die Nähe zur Romantik ist auch hier auffallend, besonders im Ideal der ewigen Suche nach der Wahrheit anstelle der endgültigen Wahrheitssicherung. Es stellt sich die Frage, ob dieses auch nicht sehr umfangreiche Kapitel wirklich genug bietet, um sinnvoll als solches zu stehen oder ob es nicht als Unterkapitel im Zusammenhang mit der Erfahrungsreise gut aufgehoben gewesen wäre. In diesem Zusammenhang hätte man auch einen Bogen zu Herder schlagen können, der dem Lessing’schen Forscherideal entspricht. Darüber hinaus hätten sich an dieser Stelle interessante Verknüpfungspunkte zwischen Erleben und Erfahren ergeben, was sicherlich ein interessantes Ergebnis innerhalb der Studie gewesen wäre. Überhaupt könnten die gedanklichen Verbindungen zwischen den einzelnen Reiseformen dezidierter herausgestellt werden, vielleicht sogar in Form eines eigenen Kapitels, zumal eine enge Abgrenzung ganz offenbar nicht durchzuhalten ist und womöglich auch gar nicht angestrebt wurde.

Nichtsdestoweniger hat Pikulik hier ein lesenswertes und informatives Werk vorgelegt, das vor allem durch seine Nebeneinanderstellung fiktionaler und faktualer Reisebeschreibungen besticht, auch wenn bisweilen ein stärkerer Fokus auf dem fiktionalen Charakter Authentizität beanspruchender Reisebeschreibungen und das Spiel der reiner Imagination entsprungenen Reiseerzählungen mit historischen Fakten interessant gewesen wäre. Allein der Ansatz, das Eine nicht streng vom Anderen getrennt zu betrachten, verdient aber Würdigung und weitaus mehr Beachtung in der Wissenschaftslandschaft.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Lothar Pikulik: Erkundungen des Unbekannten. neuzeitliche Formen des Reisens in authentischen und fiktiven Darstellungen.
Georg Olms Verlag, Hildesheim 2015.
196 Seiten, 27,80 EUR.
ISBN-13: 9783487152363

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