Die Weiterverteilung von NS-Raubgut nach 1945 und die Rolle der Zentralstelle für wissenschaftliche Altbestände

Aktuelle Forschungsansätze in der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz

Von Hannah NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hannah Neumann

Vorbemerkungen

Die Themen NS-Raubgut und Provenienzforschung sind in den letzten Jahren, besonders durch den Fall Gurlitt, vermehrt öffentlich diskutiert worden. Für die verschiedenen Projekte, die in deutschen Institutionen initiiert wurden, um Raubgut zu identifizieren und, wo möglich, zu restituieren, ist die gesteigerte Aufmerksamkeit durchaus positiv. Sie führt dazu, dass die Notwendigkeit, Provenienzforschungsprojekte langfristiger in den Organisationen zu verankern und zu finanzieren, deutlicher hervortritt. Häufig sind solche Aufgaben nur temporär in den Museen, Bibliotheken und Archiven angesiedelt; es werden externe Mitarbeiter eingestellt, um verdächtige Zugänge aus der Zeit zwischen 1933 bis 1945 systematisch zu überprüfen.[1] Natürlich ist dies auch der erste und sinnfälligste Zeitabschnitt für derartige Forschungsprojekte, die den Verbleib von NS-verfolgungsbedingt entzogenem Kulturgut klären sollen. Vor dem Hintergrund der wechselhaften deutschen Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg und der deutschen Teilungsgeschichte wird die Ausweitung des Untersuchungszeitraumes jedoch zwingend notwendig: Denn auch nach 1945 wurden die beweglichen Güter, um die es sich handelt, in manchen Fällen versteckt, aber auch benutzt, weiterverteilt, verkauft oder getauscht. So lassen sich heute noch im Grunde überall und selbst in weit nach Kriegsende gegründeten Einrichtungen während der Zeit des Nationalsozialismus beschlagnahmte oder enteignete Gemälde, Bücher und weitere Gegenstände finden. Das gilt für die alten und neuen Bundesländer und ist zudem ein internationales Phänomen. Als Faustregel kann sogar gelten: In dem Maße, in dem die Klärung von Provenienzen nicht im Fokus des Interesses bei Bestandsrevisionen, antiquarischen Erwerbungen oder Abgaben steht, tritt das Problem auf und wird auch fortbestehen.

Zu sagen, dass die Provenienzforschung nach 1989 von der Öffnung von Archiven – und dem damit verbundenen verbesserten Zugang zu vormals geteilten Beständen und Sammlungen – immens profitiert hat, berührt nur einen Aspekt des umfassenden Impacts, den die „Wende“ für die (wieder)aufgelegten Fragen nach den rechtmäßigen Eigentümern hatte. Vielmehr ist der politische Umbruch selbst die wesentliche Voraussetzung dafür, dass diese Fragen, die man in der Bundesrepublik bekanntlich als geklärt ansah und die in der DDR so gut wie überhaupt nicht gestellt wurden, wieder an Aktualität gewinnen konnten. Der Historiker Dan Diner hat bereits vor Jahren eine Interpretation angeboten, wie sich darüber hinaus die tiefere Verbindung von Restitution und Erinnerung darstellt: „By restoring former private ownership rights, not just establishing private ownership, the social substratum, (which is inherent to the institution of property and extends far beyond the biological life span of the individual owner), takes on a transgenerational dimension. As a result, reprivatization – not privatization – reinvokes the transgenerational dimension of memory.”[2] So verstanden kann Provenienzforschung, die durch die Washingtoner Prinzipien[3] von 1998 und die Gemeinsame Erklärung[4] politisch in Deutschland verankert wurde, neben der Klärung von zentralen rechtlichen Fragestellungen, auch einen Beitrag zur Erinnerungsarbeit darstellen: Wenn durch das Auffinden eines Stempels, eines Exlibris oder eines Autogrammes in Büchern eine Person, die zu ihren Lebzeiten nie irgendwie öffentlich in Erscheinung getreten ist, identifiziert werden kann und sich durch weitere Recherchen in Archiven etwas über die Lebensumstände sowie die individuelle Verfolgungsgeschichte ermitteln lässt, wird der von Diner aufgezeigte Zusammenhang deutlich.

Die für die Provenienzforschung relevanten Archive und Dokumentationen sind überdies, auch heute noch, selbst Gegenstand von Restitutionen oder erhalten oftmals erst dadurch Aussagewert, dass geteilte Bestände nun wieder zusammengeführt und dadurch erstmals oder zumindest einfacher und besser durchsucht werden können.[5]

Forschungsgegenstand

Im Folgenden wird anhand der Vorstellung eines seit August 2014 in der Staatsbibliothek zu Berlin begonnenen Forschungsprojekts[6] erläutert, welche Herausforderungen und Fragestellungen durch die Ausweitung des Untersuchungszeitraumes in der Provenienzforschung entstehen können. Schwerpunkt in diesem Projekt, das zentrale Wege der Weiterverteilung von NS-Raubgut klären soll, ist die Aufarbeitung der Rolle der Zentralstelle für wissenschaftliche Altbestände (ZwA). Diese nicht-kommerzielle Zentralstelle koordinierte und organisierte u.a. die Weitergabe von Altbeständen aus unterschiedlichsten Quellen zwischen den Bibliotheken in der DDR. Verschiedene Raubgutprojekte in deutschen Bibliotheken haben in den letzten Jahren Bände gefunden, die zum einen eindeutig als NS-Raubgut identifiziert wurden und bei denen gleichzeitig die Verteilung durch die ZwA nachgewiesen werden konnte.

Da die ZwA, die von 1953 bis 1995 bestand, ab 1959 an der damaligen Deutschen Staatsbibliothek (DSB) angesiedelt war und unter anderem zugleich eng mit den Bedürfnissen dieser Bibliothek verbunden war, wird es in diesem Artikel zuerst um die Geschichte der DSB nach 1945 gehen. Anschließend wird die Funktion und Arbeitsweise der ZwA skizziert, um drittens das Vorgehen im Forschungsprojekt näher zu erläutern.

Die Dokumente, auf die sich die Rekonstruktion der Nachkriegswege der Bücher stützt, sind erst während der Zeit des Bestehens der DDR entstanden. Fragen nach Provenienzen hatten hier generell keine Relevanz für die Weitergabe – Ausnahmen bestätigen die Regel. Dementsprechend tauchen solche Fragen in den auszuwertenden Akten und weiteren Quellen, wenn überhaupt, nur sehr randseitig auf. Daher geht es darum, erstmals möglichst alle relevanten Archivalien zur Geschichte und Kontextualisierung der ZwA zu einem Quellenkorpus zusammenzufassen.

Die Staatsbibliothek nach 1945

Wie andere große Kultur- und Bildungseinrichtungen, besonders in Berlin, ist die Staatsbibliothek nach der deutschen Wiedervereinigung aus zwei Teilen zusammengeführt worden. Über diesen Prozess zu berichten, den komplexen und oftmals schwierigen Weg von sinnvoller Neuorganisation und strategischer Ausrichtung einer Institution, die zwei bis dahin selbständige wissenschaftliche Universalbibliotheken und mehrere Standorte umfasste, würde sicher einen eigenen Artikel füllen. Es würde sich dabei mit hoher Wahrscheinlichkeit Folgendes zeigen lassen: Die „großen“ politischen Diskussionen, die Kämpfe um die Bewertung der unmittelbaren Vergangenheit sowie die Auseinandersetzungen in den noch nicht abgeschlossenen Transformationsprozessen und nicht zuletzt die Emotionalität, mit der verschiedene Positionen vorgetragen werden, würden sich auch im „kleinen“ Kosmos der Bibliothek wiederfinden.

Bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges war fast der gesamte Bestand der Preußischen Staatsbibliothek[7] an verschiedene Auslagerungsorte gebracht und das Gebäude an der repräsentativen Straße Unter den Linden im Zentrum Berlins durch Bombentreffer schwer beschädigt worden. Wie umfangreich die Verluste und die Bestandslücken waren, lässt sich gut daran erkennen, dass man auch heute noch auf den Eintrag „Kriegsverlust“ oder „Kriegsverlust möglich“ im Stabikat, dem Onlinekatalog der Bibliothek, stoßen kann. In der zerstörten Hauptstadt des besiegten Deutschen Reiches war der Zustand der Staatsbibliothek, die allerdings bereits 1946 im von der Sowjetunion besetzten Teil der Stadt einen provisorischen Betrieb wieder aufnehmen konnte, keine Ausnahme. Im Bibliothekswesen kam es durch die Kriegszerstörungen und die Auflösung der nationalsozialistischen Institutionen sowie durch verlassene Privatsammlungen zu einem immensen Anfall von Beständen, teilweise unter freiem Himmel lagernd oder notdürftig gesichert, die man als „herrenlos“ klassifizierte. So wurde im Juli 1945 eigens eine Bergungsstelle eingerichtet, die bis Februar 1946 über 200 private und öffentliche Bibliotheken im gesamten Stadtgebiet Berlins sicherstellte.[8] Soweit die Eigentümer zu identifizieren waren bzw. die Institutionen noch bestanden, erhielten sie die Bücher zu diesem Zeitpunkt zurück. Danach wurden die übrigen geborgenen Bände hauptsächlich an Berliner Bibliotheken zur Ergänzung der Bestände und zur Schließung der durch die Kriegsverluste entstandenen Lücken verteilt. In Berlin befanden sich viele der zentralen nationalsozialistischen Institutionen: In ihren Magazinen und Depots lagerten beschlagnahmte Güter aus dem Eigentum der von ihnen aus rassistischen, politischen und religiösen Gründen verfolgten Personen und Institutionen. Sie waren gesammelt worden, um sogenannte Gegnerforschung zu betreiben. Für den Bibliotheksbereich sei hier besonders die Bibliothek des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) genannt, deren überwiegender Bestand sich aus beschlagnahmter Literatur aus den Freimaurerlogen, aus sozialdemokratischen und kommunistischen Organisationen, aus jüdischen Gemeindebibliotheken sowie beschlagnahmten Beständen aus den Besatzungsgebieten zusammensetzte. Zwar waren auch aus der Bibliothek des RSHA große Teile während des Krieges ausgelagert und die verbliebenen durch Zerstörung der Bibliotheksgebäude sehr dezimiert worden, aber Reste wurden über die Bergungsstelle weitergegeben und gelangten in verschiedene andere Bibliotheken.

Die Nachfolgeeinrichtung der Preußischen Staatsbibliothek, die Öffentliche Wissenschaftliche Bibliothek (ÖWB) oder Deutsche Staatsbibliothek (DSB), wie sie dann ab Ende 1954 hieß, wurde bei der Verteilung „herrenloser“ Bestände umfänglich bedacht. Sie entwickelte sich trotz der großen Bestandsverluste neben der Deutschen Bibliothek in Leipzig zur wichtigsten wissenschaftlichen Bibliothek in der im Jahr 1949 gegründeten DDR. Zu ihren Bestandszahlen in aller Kürze: 335.000 bis 400.000 Bände müssen insgesamt als vernichtet sowie 300.000 als verschollen gelten; letztere befinden sich auch heute noch in polnischen und russischen Einrichtungen, wohin sie gekommen waren, nachdem sie von ihren Auslagerungsorten, die nach 1945 nicht mehr auf deutschem Staatsgebiet lagen, abtransportiert wurden. Hinzu kam ein Problem, das über die gesamte Zeit des Bestehens der DDR nicht an politischer Brisanz verlor: Der ursprüngliche Bestand der Preußischen Staatsbibliothek war durch die Besatzungsmächte nach jeweiligem Auffindungsort 1945 aufgeteilt worden; d.h. 1,5 Millionen Bände verblieben in den westlichen Besatzungszonen und nur 900.000 Bände konnten im alten Stammhaus der Bibliothek im Ostteil Berlins wieder zusammen geführt werden. Die Deutsche Staatsbibliothek versuchte so durchgängig wie erfolglos die Herausgabe dieser Bände, die sich zwischenzeitlich in Marburg befanden und im Jahr 1978 ein eigenes Haus an der Potsdamer Straße bezogen, zu erwirken. Die Teilung der Bestände blieb bestehen. Restitutionen wertvoller Bestände aus der Sowjetunion im Jahr 1957 und von 90.000 Bänden aus Polen im Jahr 1965 führten zwar zu sprunghaften Schließungen einiger entstandener Lücken im Altbestand, konnten aber bei weitem nicht den vor diesem Hintergrund zu verstehenden enormen Bedarf der DSB an antiquarischer Literatur decken.

Die Bibliothek behielt darüber hinaus den alten universalen Sammelauftrag, der jedoch an einigen Stellen modifiziert und gemäß der neuen politischen Ausrichtung ergänzt wurde. Um nur einige Beispiele zu nennen: Nun gehörte die umfassende Sammlung von Schriftgut der Sowjetunion, aber auch der Vereinten Nationen und der UNESCO zu den zentralen Aufgaben. Die DSB hatte zudem nationalbibliothekarische Funktionen und verfügte mit der „Abteilung für spezielle Forschungsliteratur“ über eine große Sammlung von Literatur, sogenannter „Sperrliteratur“, deren Benutzung aufgrund ihres faschistischen oder militaristischen Inhaltes nur eingeschränkt erlaubt wurde.

Die Zentralstelle für wissenschaftliche Altbestände

1959 wechselte auch die ZwA an die DSB. Vorher war die formell dem Staatssekretariat für Hoch- und Fachschulwesen direkt unterstellte Dienststelle an der heutigen Forschungsbibliothek Gotha angesiedelt gewesen, die durch Abtransport nahezu ihres kompletten Bestandes durch die Rote Armee 1946 ihre Aufgabe verloren hatte. Im Jahr 1957 wurde der Gothaer Bestand jedoch durch die Sowjetunion zum größten Teil restituiert und die Arbeit der ZwA kam bis zu ihrem Umzug an die DSB zum Erliegen.

Wie weiter oben bereits für Berlin skizziert, waren nach 1945 die Zustände im Bibliothekswesen durch Zerstörungen, Auslagerungen und Auflösungen in Deutschland eher chaotisch. Viele Bibliotheken hatten empfindliche Kriegslücken in ihren Sammlungen zu verzeichnen und verfügten nur über knappe Erwerbungsmittel. Die erste Aufgabe für den Wiederaufbau war daher die Sicherung von vielerorts anfallendem Bibliotheksgut in den noch bestehenden Häusern, die allerdings ihrerseits kaum die personellen und räumlichen Kapazitäten für eine fachgemäße Bearbeitung hatten und zunehmend Probleme mit der Aufbewahrung bekamen. Die in der sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und später in der DDR gesammelten Bestände wurden als Volkseigentum betrachtet. Sie setzten sich hier aus verschiedenen spezifischen Quellen zusammen. Bestände aus aufgelösten NS-Institutionen und Raubgut, das die Nationalsozialisten in ihre Einrichtungen übernommen hatten, waren vermischt mit enteigneten Sammlungen aus der Bodenreform, die in der SBZ durchgeführt worden war. Diese betraf besonders Adelsbibliotheken mit teilweise sehr wertvollen Beständen. Dazu kamen Bibliotheken von abgewickelten Gymnasien und Bestände kleinerer Landesbibliotheken, die durch die Neustrukturierung der politischen Landkarte und der Neuaufteilung in Bezirke aufgelöst wurden.

Seit ihrer Gründung im Jahr 1953 hatte die ZwA die Funktion eines erweiterten Dublettenzirkels. Das heißt, sie sollte Altbestände im Bibliothekswesen der DDR unentgeltlich anbieten und weiterverteilen. Zu Beginn bezog sich die Weitergabe weitestgehend auf unbearbeitete und „herrenlos“ gewordene Bestände. Bei sogenannter „Republikflucht“ beschlagnahmte Bücher und Privatbibliotheken fanden teilweise ebenfalls ihren Weg in die Zentralstelle. Ab 1965 – ein Jahr nachdem die ZwA erstmalig überhaupt eine reguläre Arbeitsordnung erhielt – wurde die Umverteilung auch auf von den jeweiligen Bibliotheken bereits inventarisierte, also in den Bestand übernommene und wieder ausgesonderte Bücher angewandt. Eine Anweisung des Staatssekretariats für Hoch- und Fachschulwesen aus demselben Jahr legte zudem verbindlich für dem Staatssekretariat unterstellte wissenschaftliche Bibliotheken fest, dass sie ausgesonderte Bestände zuerst der ZwA anbieten mussten. Entscheidungen über Aussonderungen trafen aber die Bibliotheken selbst.

Ohne bei der Beschreibung der Arbeitsweise der Zentralstelle für wissenschaftliche Altbestände zu sehr ins Detail zu gehen, kann man sich die Vermittlung der Bestände folgendermaßen vorstellen: Entweder wurden die Bestände nach Berlin bzw. Gotha geschafft, damit dort eine Auswahl von Titeln, die angeboten werden sollten, von Mitarbeitern katalogisiert, d.h. verzettelt werden konnten, oder diese Aufgabe wurde direkt am Abgabeort von externen Mitarbeitern der ZwA oder des „Zentralantiquariates der DDR“ erledigt. Die Verbindung mit dem Zentralantiquariat aus Leipzig soll im Anschluss an die Skizze des Ablaufes der Vermittlung von Beständen noch einmal thematisiert werden, da sich vor allem darauf die äußerst kontroverse Beurteilung der Bedeutung der ZwA bezieht. Nach der Katalogisierung wurden die so entstandenen Zettel als Angebote verschickt, wobei die Zentralstelle zu Beginn Beziehungen zu fast 300, bald nach dem Umzug nach Berlin jedoch zu einem deutlich kleineren Kreis von ca. 30 Bibliotheken hatte. Es gab zudem durchaus eine Rangfolge, nach der die Bibliotheken mit Angeboten bedacht wurden. Die DSB konnte ihren eigenen Bedarf vorrangig prüfen und bekam alle zur Ergänzung von Bestandslücken notwendigen Titel vor dem generellen Angebot. Die anderen Bibliotheken wählten nach ihren Sammelschwerpunkten für sie interessante Literatur aus. Dabei kam es häufig vor, dass die ZwA-Zettel erst einmal eine Weile in verschiedenen Bibliotheken zirkulierten, bevor die Bände einen Abnehmer fanden. Stand dieser aber fest, wurde die Transaktion vom jeweiligen Standort aus oder über Berlin bzw. Gotha vorgenommen. Auf dem Durchschlag des Zettelangebotes wurde die empfangende Bibliothek sowie das Abgabedatum vermerkt, um anschließend die so entstandene Katalogkarte in den alphabetischen Zettelkatalog der vermittelten Bestände einzuordnen. Für die Abgaben spielten Provenienzen in den Büchern keine Rolle – ebenfalls bestätigen hier Ausnahmen die Regel. Historisch gewachsene Bestände und Sammlungen wurden so zerrissen und verteilt. Noch misslicher für die heutige Provenienzforschung ist allerdings, dass durch die nicht erfolgte Verzeichnung von Provenienzen dieser heute noch erhaltene Katalog keinen unmittelbaren Sucheinstieg bietet und die hierfür relevanten Informationen eher verbirgt. Trotzdem kommt ihm im Forschungsprojekt eine wichtige Rolle zu. Verglichen mit der noch dünneren Quellenlage zur Gothaer Zeit der ZwA kann durch seine Auswertung und die Heranziehung weiterer Archivalien überhaupt der Versuch einer Analyse der Bedeutung der Zentralstelle unternommen werden.

Die Titel, die keine Abnehmer auf diesem Wege fanden, wurden – hier zeigt sich die über das Thema NS-Raubgut hinaus mit dem Forschungsbereich verknüpfte kulturgutschutzpolitische Relevanz – an das Zentralantiquariat abgegeben oder makuliert und dem „Altstoffhandel zugeführt“. Das Zentralantiquariat verkaufte wiederum die Bestände gegen Devisen ins Ausland, hauptsächlich in die Bundesrepublik. Solche Abgaben machten den größeren Teil der insgesamt von der ZwA bearbeiteten Bestände aus; wobei abschließend verifizierte Zahlen zum derzeitigen Projektstand noch nicht genannt werden können. Die letzte Hochrechnung der Zahlen stammt noch aus der Vorwendezeit und bezieht sich auf ausgewertetes Statistikmaterial der ZwA. Danach wurden 6,3 Millionen Bände in den Jahren 1960 bis 1987 bearbeitet. Davon gingen 644.150 Bände an Bibliotheken, während das Zentralantiquariat ca. 2,9 Millionen Bände erhielt und weitere 2,8 Millionen Bände makuliert wurden.[9] Eine zusätzliche Herausforderung für die heutige Beurteilung dieser Vorgänge ist, dass theoretisch ein strenges Antiquariatshandelsgesetz mit Vorkaufsrechten für die Bibliotheken und ein Kulturgutschutzgesetz die Abwanderung von wertvollem Kulturgut verhindern sollte, es aber bereits Hinweise darauf gibt, dass diese Maßnahmen in einigen Fällen umgangen wurden. Ebenfalls ist recht fraglich, ob die ZwA, die über die meiste Zeit ihres Bestehens hinweg eine Dienststelle mit nur wenigen Angestellten war, überhaupt in der Lage war, die Verpflichtung der Bibliotheken, ihr zuerst ausgeschiedene Literatur anbieten zu müssen, zu kontrollieren, oder ob nicht neben diesem offiziellen Weg auch direkte Abgaben an Antiquariate erfolgt sind. Das Projekt wird hier zumindest Teilantworten geben können.

Für die Anfangsphase der ZwA in Gotha ist eine Einschätzung des tatsächlichen Umfanges der Abgaben noch weniger möglich. Ein überlieferter Katalog oder eine Statistik existieren hier nicht und die auch ansonsten schlechte Quellenlage legt nahe, dass möglicherweise die Entscheidungen, welche Einzeltitel oder auch Sammlungen wohin gegeben werden sollten, wenig formalisiert und den Umständen der unmittelbaren Nachkriegszeit gemäß pragmatischer erfolgt sind.

Zwar lassen sich durchaus unterschiedliche Entwicklungsphasen in der Tätigkeit der Zentralstelle beschreiben und grundsätzlich auch erkennen, dass sich der Anteil der Titel, die vor 1945 erschienen sind und damit für die Recherche nach NS-Raubgut infrage kommen, kontinuierlich verringert, aber für einen ersten Einblick in die Verteilungsstrukturen mag die bisher beschriebene Arbeitsweise ausreichen. Für die heutigen Bemühungen um die Rekonstruktion der Wege von NS-Raubgut oder anderen widerrechtlich enteigneten Büchern bedeutet dies, dass die über die ZwA verteilten Exemplare heute mehrheitlich in Bibliotheken auf dem Gebiet der ehemaligen DDR zu finden sein dürften, während die über den Antiquariatshandel verkauften im Grunde überall auftauchen können. Letztere können jedoch kaum systematisch gesucht werden.

Die ZwA arbeitete nach der Wiedervereinigung bis zu ihrer endgültigen Abwicklung 1995 weiter, stellte aber 1990 die Zusammenarbeit mit dem Zentralantiquariat ein. Aus den zu diesem Zeitpunkt in der ZwA verbliebenen Altbeständen gab es weiterhin Abgaben an die Bibliotheken, nun sowohl in den alten als auch den neuen Bundesländern, aber in deutlich reduziertem Umfang. Zeitgleich wurden durch die ZwA bereits Restitutionen von NS-Raubgut an rechtmäßige Besitzer durchgeführt. Als prominentes Beispiel für eine solche Rückgabe sind Bände zu nennen, die an das Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main gegeben wurden. Dessen Bibliothek war nach der Enteignung des Instituts 1934 durch die Nationalsozialisten an verschiedene Einrichtungen verteilt worden. Ein Teil gelangte 1938 an die damalige Preußische Staatsbibliothek. Die Einarbeitung der Bücher wurde jedoch abgebrochen. So waren Reste der ursprünglich übernommenen Bände nach 1945 noch nicht eingearbeitet und wurden dann später teilweise durch die Zentralstelle bearbeitet und weitergegeben. Bisher konnten in der Staatsbibliothek zu Berlin, in der Universitätsbibliothek Leipzig, in der Humboldt-Universität zu Berlin sowie in der Zentral- und Landesbibliothek Berlin Bücher aus dieser Provenienz gefunden werden, die nachweislich über die ZwA abgegeben wurden.

Das Vorgehen im Forschungsprojekt

Das durch die Stiftung Deutsches Zentrum Kulturgutverluste in Magdeburg geförderte Projekt der Staatsbibliothek zu Berlin „NS-Raubgut nach 1945: Die Rolle der Zentralstelle für wissenschaftliche Altbestände“ hat sich u.a. zum Ziel gesetzt, die in der Staatsbibliothek und in weiteren Archiven heute vorhandenen Akten zur Geschichte und Kontextualisierung der ZwA auszuwerten und die Ergebnisse zu publizieren. Relevantes Aktenmaterial findet sich in überlieferten Korrespondenzen und weiteren Akten der Dienststelle selbst, allerdings sind diese äußerst lückenhaft, da Teile bereits in den 1970er Jahren nicht als archivwürdig angesehen wurden. Andere relevante Archivalien lassen sich in historischen Akten der Staatsbibliothek, im Bibliotheksarchiv der Forschungsbibliothek Gotha, im Bundesarchiv und im Sächsischen Staatsarchiv Leipzig finden. In diesem Teil des Projektes wird auch versucht, die Zusammenarbeit der ZwA mit dem Zentralantiquariat näher zu beleuchten. Dieses Vorhaben stößt allerdings auf erhebliche Schwierigkeiten, da das Zentralantiquariat nach der „Wende“ privatisiert worden ist und bisherige Anfragen von Provenienzforscherinnen und -forschern um Einsicht in Firmenakten regelmäßig abschlägig beantwortet wurden. An dieser Stelle zeigt sich, dass der Effekt der politischen Veränderungen nach der Wiedervereinigung unter bestimmten Voraussetzungen auch, aus Sicht der heutigen Forschungen, negativ ausschlagen konnte. Das Zentralantiquariat als volkseigener Betrieb der DDR hätte anderen Archivierungspflichten nachkommen müssen. Sollte das Unternehmen seine ablehnende Haltung zur Aufarbeitung der Vorgänge im eigenen Haus beibehalten, wird ein wesentlicher Teil der in der Provenienzforschung aufgeworfenen Fragestellungen nicht beantwortet werden können.

Darüber hinaus wird im Projekt der erwähnte Katalog der von der ZwA vermittelten Bestände eingehend analysiert. Es werden dabei pro Zettelkasten Sets von weiter zu bearbeitenden Titeln zusammengestellt und in eine interne Arbeitsdatenbank übernommen. Durch Recherchen in Beständen der Staatsbibliothek und einigen anderen – aus arbeitsorganisatorischen Gründen vornehmlich Berliner Bibliotheken – wird geprüft, ob die gesuchten, über die ZwA vermittelten Exemplare heute noch in den damaligen Empfängerbibliotheken zu identifizieren sind. Soweit möglich, werden sie auf Provenienzmerkmale hin überprüft und diese in der internen Arbeitsdatenbank verzeichnet. Gleichzeitig erfolgt die Klassifikation, ob es sich bei dem vorliegenden Fall um NS-Raubgut handelt bzw. die Exemplare als raubgutverdächtig einzustufen sind oder nicht. In der Staatsbibliothek macht eine umfangreiche und normierte Provenienzerschließung für ihre eignen Bestände daraufhin die Provenienzen im Onlinekatalog für alle Benutzer und Benutzerinnen sichtbar. Alle in den Büchern enthaltenen Provenienzmerkmale, die ZwA als Verteilerinstitution sowie das Zugangsdatum werden angegeben. Durch einen automatischen Datenimport in die Lost Art Internet Database[10], sind die gewonnenen Informationen auch in dieser zentralen Nachweisdatenbank für verfolgungsbedingt entzogenes Kulturgut recherchierbar. Die Verzeichnung von durch das Projekt gefundenem NS-Raubgut in anderen Bibliotheken wird von diesen nach ihren personellen und technischen Möglichkeiten erfolgen. Die ersten Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit anderen Berliner Bibliotheken sind durchweg positiv. Vieles spricht dafür, dass die durch das Projekt angestrebte Grundlagenforschung zur ZwA auf fruchtbaren Boden fällt und zu längerfristigen Kooperationen in diesem Bereich anregen könnte.

[1] Ein Überblick über geförderte Projekte der Stiftung Deutsches Zentrum Kulturgutverluste ist hier zu finden: http://www.kulturgutverluste.de/de/projektinformationen/projekte

[2] Diner, Dan: Restitution and Memory: the Holocaust in European Political Cultures. In: New German Critique, 90 (2003), S. 36-44, S. 40.

[3] http://www.lostart.de/Webs/DE/Koordinierungsstelle/WashingtonerPrinzipien.html

[4] Erklärung der Bundesregierung, der Länder und der kommunalen Spitzenverbände zur Auffindung und zur Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgutes, insbesondere aus jüdischem Besitz vom 14. Dezember 1999: http://www.lostart.de/Webs/DE/Koordinierungsstelle/GemeinsameErklaerung.html

[5] Wer sich für diesen Bereich der Provenienzforschung interessiert, dem seien die Publikationen von Patricia Kennedy Grimsted empfohlen, die hauptsächlich zu Archiven in Russland, der Ukraine und in Polen forscht. Eine Bibliographie ist hier zu finden: https://socialhistory.org/en/russia-archives-and-restitution/bibliography

[6] http://staatsbibliothek-berlin.de/die-staatsbibliothek/abteilungen/historische-drucke/projekte/ns-raubgut-nach-1945/

[7] Eine Übersicht über die verschiedenen Namensformen und die historische Entwicklung der Staatsbibliothek ist hier zu finden: http://staatsbibliothek-berlin.de/die-staatsbibliothek/geschichte/

[8] Die Akten dieser kleinen Dienststelle sind bereits seit einigen Jahren durch ein Kooperationsprojekt der Berliner Zentral- und Landesbibliothek mit dem Landesarchiv Berlin vollständig digitalisiert und online verfügbar. Sie sind für die Provenienzforschung in den Bibliotheken von großer Bedeutung, selbst an einzelnen Exemplaren sind die Spuren dieser Bergung – häufig handschriftliche Nummern – gut nachvollziehbar. http://www.bergungsstelle.de/

[9] Mälck, Andreas: Zum Wirken der Zentralstelle für wissenschaftliche Altbestände in Vergangenheit und Gegenwart. Berlin, 1989 (Berlin, Humboldt-Univ., Diplomarbeit, 1989), S. 3.

[10] www.lostart.de

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg