Europa im Spiegel Amerikas

Alfred Döblins „Amazonas“-Trilogie verschränkt die Kontinente in epischer Prosa

Von Linda MaedingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Linda Maeding

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seine Faszination für Atlanten führte Alfred Döblin nach eigener Auskunft einst auf die Spur des Amazonas: In der Pariser Bibliothèque Nationale stieß der Exilant, der sich eigentlich Kierkegaard-Studien hatte widmen wollen, auf umfangreiche Karten Südamerikas und seines großen, weit verzweigten Gewässers. Die als „Amazonas“-Trilogie zusammengefassten Bände „Das Land vom Tod“, „Der blaue Tiger“ und „Der neue Urwald“, entstanden zwischen 1935 und 1937, sind ein Fremdkörper in der Exilliteratur: Schwer verdauliche, faszinierende Prosa, die zunächst einmal weit weg führt vom blutenden Kontinent Europa, um dann im letzten Band wieder zu ihm zurückzukehren.

In Wirklichkeit bleibt „Amazonas“, das Alexander Honold im klugen Nachwort zur Neuauflage als eines der „wuchtigsten Massive“ im umfangreichen Romanwerk Döblins bezeichnet, stets am Puls Europas; selbst dort, wo sich der Text im tiefsten Urwald bewegt. Der erste Teil erzählt die Ankunft der Europäer in Amerika – die conquista wird hier konsequent als ein nicht nur spanisches, sondern europäisches Unterfangen dargestellt – und die Reaktion der Amazonas-Bewohner auf die Eroberer. Verknüpft wird diese Gewalterzählung mit den sagenhaften Amazonen, die am Ufer des Gewässers siedeln und sich aus der Herrschaft des männlichen Geschlechts befreien. Die Verflechtung der Erzählstränge verleiht der Darstellung zusätzliche Komplexität, da Machtasymmetrien und kulturelle Differenzen nicht nur auf der Achse und in der Gegenüberstellung von Europäern und Indios behandelt werden – anders als in der Mehrzahl europäischer conquista-Erzählungen gibt es hier nicht „den“ Indio. Döblin macht diese tradierte schematische Konstruktion des Anderen zunichte, indem er sehr wohl zwischen unterschiedlichen indigenen Kulturen und Völkern differenziert und zusätzlichmit dem Kampf der Amazonen weitere Fronten eröffnet, an denen Differenz ausgehandelt wird. Dass Vermittlerfiguren – Dolmetscher – zur Verständigung zwischen den indigenen Bevölkerungsgruppen eingeführt werden, zeigt ein Bewusstsein für die Heterogenität des Kontinents und eine Sensibilität gegenüber interkulturellen Fragestellungen, die deutschsprachigen Südamerika-Texten der Zeit sonst eher abgehen.

Leitmotiv und zugleich poetologische Metapher ist der Amazonas, die Naturgewalt des Gewässers, wie sie Döblin bereits in dem Band „Das Ich über der Natur“ essayistisch-spekulativ umkreist hatte. Das Erzählen verläuft in „Amazonas“ ebenso mäandernd, ausschweifend und gewaltig wie es der Name dieses Gewässers suggeriert. Erst von diesem Flussgebilde ausgehend geraten die Bewohner seiner Ufer und die Eindringlinge aus Europa in den Blick. So stehen die Naturschilderungen auch meist in schroffem Gegensatz zu den eitlen und vergänglichen Taten der Eroberer, deren Spuren der Amazonas-Fluss immer wieder aufs Neue tilgt. Trotz der Aufwertung der Natur in Abgrenzung zur kulturellen Dekadenz Europas hält der Text insgesamt Distanz zu exotistischen und primitivistischen Erzähltopoi.

Dies springt besonders im zweiten Band ins Auge, der sich der Jesuitenmission – der sogenannten „christlichen Republik“ – widmet: Die von 1609 bis zum Verbot des Ordens 1767 im heutigen Paraguay betriebenen Siedlungen spiegeln in dem Roman die fragile Utopie eines friedlichen Zusammenlebens von Indios und Europäern im Zeichen des Christentums und in scharfer Opposition zu den weltlichen Kolonisierenden wider. Döblin findet für diese Utopie die Formel eines „indianischen Kanaan“, bei zunehmender Bedrohung von außen dann die der Arche Noah, die sich trotz aller Abschottungsversuche den äußeren Machtverhältnissen letztlich nicht widersetzen kann und scheitert. Die Faszination, die Döblin diesem Unterfangen eines Staates im Staate entgegen bringt, ist unmittelbar greifbar in diesem an Dramatik schwer zu überbietendem Band. Ein scharfer Schnitt kennzeichnet dann das Einsetzen des dritten Bandes: Der titelgebende „neue Urwald“ ist das krisengeschüttelte Europa der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts, das Döblin hier an wechselnden Schauplätzen thematisiert, bis der Leser an der Hand des polnischen Taugenichts und Nihilisten Jagna wieder nach Südamerika gelangt, diesmal als Ziel einer Flucht.

Es ist sicher kein Zufall, dass die Trilogie im letzten Jahrzehnt intensiver als je zuvor rezipiert und Gegenstand ausführlicher Deutungsversuche wurde – der Zusammenhang mit einer verstärkten Aufmerksamkeit für inter- und transkulturelle Phänomene im Feld der Literaturwissenschaft liegt auf der Hand. Als radikale Zivilisationskritik Europas wurde der Roman zu Recht gelesen. Die gerade im ersten Band vollzogene Inversion tradierter Erzählperspektiven – die Eroberer aus dem „jenseits des großen Meeres“ gelegenen Kontinent werden als „die Unheimlichen“ beschrieben, im „Lande angekommen wie eine Krankheit in einem Körper“ – geht jedoch weit über dieses Deutungsschema hinaus. Auch machten Interpreten in der Trilogie Parallelen zwischen der Gewaltgeschichte der conquista und dem Dritten Reich sowie zwischen der Gründung der angefeindeten Jesuitenrepublik und den von Döblin unterstützten Plänen des jüdischen Neuterritorialismus aus; Anspielungen, die wiederum an die herausragende Rolle des historischen Romans im Exil erinnern und an die Debatte über diese Gattung, die namentlich auch von Döblin befeuert wurde.

Dennoch zählt die Trilogie nicht zu den vielgelesenen Werken des ungemein produktiven Autors. Umso mehr ist die Neuausgabe des Textes zu danken, der die verdiente Edition Werner Stauffachers von 1988 zugrunde liegt. Eine Einladung an das Lesepublikum, sich der Grundstimmung dieses Romans zu stellen, getragen von Trauer über die Entwicklung Europas und gleichzeitig von dem Interesse für ganz andere Weisen, Kultur und Natur zu begreifen.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Alfred Döblin: Amazonas.
Mit einem Nachwort von Alexander Honold.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2014.
891 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783596904747

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