Eine Annäherung an die Graphic Novel

Der Sammelband „Bild ist Text ist Bild“ untersucht Narration und Ästhetik einer hybriden Gattung

Von Stephanie KeuneckeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephanie Keunecke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Graphic Novel ist eine recht junge Gattung, die im deutschsprachigen Raum erst in den letzten Jahren Beachtung gefunden hat; in Frankreich, England und den USA hingegen ist sie bereits seit Längerem etabliert. Als Hybridform zwischen Bild und Text ist die Graphic Novel sowohl für die Literatur- als auch für die Bild- und Medienwissenschaft interessant. Die Auseinandersetzung mit den Relationen zwischen Bild und Text erfordert interdisziplinäre bzw. medienüberschreitende Herangehensweisen, weshalb eine Zusammenführung von Expertisen aus unterschiedlichen Disziplinen dringend geboten scheint.

Bild ist Text ist Bild nimmt bei der Erforschung dieses Hybrids eine Vorreiterposition ein, da es bislang noch keine adäquate wissenschaftliche Publikation gab, die sich systematisch mit der grundlegenden Analyse der Graphic Novel beschäftigt hat. Die nicht sehr zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen in deutscher Sprache versuchen zumeist werkübergreifende Annäherungen an die Gattung, die an bestimmte Themengebiete geknüpft sind. So werden beispielsweise von René Mounajed und Stefan Semel Graphic Novels und Comics als Geschichtsunterrichts-Materialien erörtert (Comics erzählen Geschichte: Sequenzen aus Comics, Manga und Graphic Novels für den Geschichtsunterricht, Bamberg 2010).

Der vorliegende Sammelband vereint dreizehn Aufsätze von Literatur-, Medien-, Sprach-, Kultur- und Kunstwissenschaftlern sowie drei Metareflektionen von Comiczeichnern, die sich künstlerisch mit dem Verhältnis von Bild und Text auseinander gesetzt haben. Der Band ist gegliedert in drei Themenbereiche: ‚Bild-Fiktionen‘, ‚(Körper-)Zeichen und Redepositionen‘ und ‚Narration und Ästhetik im Comic. Künstlerische Metareflexionen‘. Im Folgenden werden die Beiträge anhand ihrer Reihenfolge im Inhaltsverzeichnis kurz vorgestellt.

Der erste Themenbereich ‚Bild-Fiktionen‘ stellt grundlegende Überlegungen zum Verhältnis von Bild und Text an, zur Gesellschaftskritik, zu Relationen von Zeit und Raum, zu Transmedialität und Erzählebene sowie zum Einfluss der Autor*innenbiographie auf die Entstehung einer Graphic Novel.

Der erste Beitrag zum Thema ‚Bild-Fiktionen‘ von Dietrich Grünewald („Die Kraft der narrativen Bilder“) widmet sich der Frage nach der Definition der Graphic Novel als ‚Literatur in Bildern‘ bzw. als Bildgeschichte. Vor allem die Beziehung zwischen Bild- und Wortinformationen wird thematisiert, die unterschiedlich ausgeprägt in Graphic Novels zu finden ist. Des Weiteren gibt Grünewald einen Überblick über die Geschichte der Kombination von Bild und Wort, beginnend mit der Illustration, die eine textpräzisierende oder -erweiternde Funktion einnimmt. Er leitet über die unabhängige, narrative Bildfolge in Simultanbildern hin zu Bildgeschichten aus mehreren, seriellen Abbildungen. Im Anschluss werden die Rollen von Erzählerinstanz und Rezipient und die Bedeutung von indexikalischen, ikonischen und symbolischen Zeichen in Bezug auf die Verständlichkeit der Erzählung erörtert. Zum Schluss analysiert Grünewald den kritischen Umgang mit Bildern im Zuge des iconic turn, der auch das Verstehen, Analysieren und Hinterfragen von Bildern beinhaltet.

Der folgende Beitrag von Ole Frahm, „Die Fiktion des Graphischen Romans“, diskutiert die subjekt- und gesellschaftskritischen und somit auch politischen Potenziale der Graphic Novel. Katharina Serles untersucht in ihrem Beitrag „‘Time in Comics is infinitely weirder than that’. Zooming/Folding/Building Time bei Marc-Antoine Mathieu und Chris Ware“ die Komplexität von Zeit und Raum sowohl innerhalb der Graphic Novel als auch auf ihrer Metaebene. Dem Thema Erzählmuster in Bild und Text im Hinblick auf Transmedialität widmet sich der Beitrag „Wie narrativ sind Comics? Aspekte historischer Transmedialität“ von Stephan Packard. Ursula Klingenböck analysiert in „Lebens-Bilder. Überlegungen zum biographischen Narrativ bei Birgit Weyhe“ den biografischen, autobiografischen und metabiografischen Einfluss auf die Entstehung von Graphic Novels. Der zweite Teil des Sammelbandes ‚(Körper-)Zeichen und Redepositionen‘ behandelt begriffs- und genretechnische Überlegungen, den Begriff der Serialität, die Themenkomplexe Körperbilder und Stereotype, (De-)Konstruktion von Geschlechterbildern, Intertextualität und Adaption sowie Genre und Affekt.

Bernd Dolle-Weinkauff stellt in „Comic, Graphic Novel und Serialität“ zunächst fest, dass die Graphic Novel definiert werden kann als „ambitioniert illustrierte[s] Buch, im Sinne von hybrider graphischer Erzählung.“ Anhand des Begriffes ‚Buch’ und der mit ihm verbundenen Beschränkungen führt Dolle-Weinkauff die unterschiedlichen seriellen Varianten von Comics und Graphic Novels ein: abgeschlossene Erzählung, serielle Fortsetzung und unhistorische Endlos-Serie. Mit Hilfe dieser Analysen kommt der Autor zu dem Schluss, dass nicht nur der diametrale Gegensatz von Comic und Graphic Novel unhaltbar ist, sondern auch der Begriff der ‚Serie’ einer Revision bedarf. Elisabeth Klar analysiert in „Transformation und Überschreibung: Sprache und Text in ihrer Beziehung zum Körper-Zeichen in den Comics von Alfred“ den stereotypen Körper von Figuren, der zwischen Ähnlichkeit und Symbol changiert. Barbara Eder setzt sich in ihrem Beitrag „Ikarus Rising. Zur metatextuellen Odyssee in Alison Bechdels Fun Home“ mit Intertextualität, Adaption und Rekonstruktion von literarischen Vorlagen in der Graphic Novel auseinander. In „Gendern Comics, wenn sie erzählen? Über einige Aspekte der Gender-Narratologie und ihre Anwendung in der Comic-Analyse“ interessiert sich Kalina Kupczynska vor allem für die Thematisierung, Reflexion und (De-)Konstruktion von Gender. Susanne Hochreiter hingegen konzentriert sich in „Heldinnen und keine. Zu Genre und Affekt in Ulli Lusts Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens“ auf autobiografische Zusammenhänge von Genre, Affekt und Erzählstruktur von Graphic Novel-KünstlerInnen.

Der dritte Themenkomplex umfasst drei Metareflexionen von Comiczeichnern, die sich mit dem Medium auseinandersetzen. Ilse Kilic fragt in ihrem Metacomic „Bin ich Wort? Bin ich Bild?“ nach dem Status von Wort und Bild und ihrem Verhältnis zueinander. Nicolas Mahler rezipiert in „Die Verwandlung“ Franz Kafka und zeigt Missverständnisse und Missverhältnisse von Voraussetzungen des Wahrnehmens und des Erzählens auf. In „Cherie und ich“ setzt sich Verena Weißenböck mit den Erwartungen der Leser*innen auseinander und reflektiert den künstlerischen Prozess und einige Erzählmuster ironisch.

Bild ist Text ist Bild erörtert theoretische und methodologische Grundlagenprobleme, um ein Fundament zu errichten und zu sichern, auf dem künftige Analysen aufbauen können. Des Weiteren zeigt die Anthologie exemplarisch innovative Zugänge zur Untersuchung graphischer Literatur auf, da die Graphic Novel den Herausgeberinnen zufolge vor allem die klassische Literaturwissenschaft und ihre Methoden herausfordert. Die Systematisierung von bild- und texttheoretischen Fragestellungen sowie die Entwicklung theoretischer Horizonte, eines methodischen ‚Handwerkszeugs’ und dessen Überprüfung in der Analyse anhand von Einzeluntersuchungen sind das Grundanliegen dieser Anthologie.

Insgesamt handelt es sich bei Bild ist Text ist Bild um eine beachtliche Publikation, die künftig als Grundlagenlektüre für die wissenschaftliche Beschäftigung mit Graphic Novels gelten kann. Um sich einen wissenschaftlichen Überblick über die hybride Gattung zu verschaffen und um sich intensiv mit den erst noch zu validierenden Theorien und Fragestellungen auseinanderzusetzen, eignet sich dieses Werk hervorragend. Durch die Berücksichtigung von literatur-, medien-, kunst- und gendertheoretischen Aspekten wird der Komplexität der Graphic Novel Rechnung getragen. Methodisch überzeugend und für die Leser*innen ansprechend, bietet die Anthologie eine Bandbreite an Zugängen, deren interdisziplinäre Verschränkung im Umgang mit einem per se intermedialen Genre entscheidend ist.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Susanne Hochreiter / Ursula Klingenböck (Hg.): Bild ist Text ist Bild. Narration und Ästhetik in der „Graphic Novel“.
Transcript Verlag, Bielefeld 2014.
281 Seiten, 32,99 EUR.
ISBN-13: 9783837626360

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