Arm, aber sexy

Auf die Spuren bohemischer Formationen nach 1968 begibt sich ein von Walburga Hülk, Nicole Pöppel und Georg Stanitzek herausgegebener Forschungsband

Von Kristin SteenbockRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kristin Steenbock

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gab in Hamburg vor einigen Jahren, als der hiesige Gentrifizierungsdiskurs auf einen Höhepunkt gelangt war, eine wenig originelle Geschäftsidee, die sich von ihren Urhebern – Restaurant- und Modelabelbetreiber aus dem Milieu der young urban professionals – als „neue Plattform für Romantiker, Skeptiker, Träumer & Kinder der Nacht, Kreative & Künstler, Sänger & Schauspieler und alle, die irgendetwas davon werden wollen, oder jetzt schon sind“ vermarkten ließ. Sie hieß Hamburger Bohème und die beiden Verantwortlichen veranstalteten unter diesem Namen in eben jenem Restaurant und mit zuvor lancierten Bekleidungsvorschlägen eben jenes snobistischen Modelabels unregelmäßig nostalgisch-verklärende Events im Stile der 1920er-Jahre. Auch wenn hier nicht im eigentlichen Sinne von einer Bohème, sondern vielmehr von einem reduktionistischen Reklamephänomen die Rede sein muss, wird doch eines daran deutlich: Die Bohème ist sexy und entlang von Kreativität als Dispositiv des Mainstreams lassen sich mit diesem Label hervorragend merkantile Interessen verfolgen, die der ursprünglichen Geldverachtung der Bohème geradezu Hohn sprechen.

In ihrem Eröffnungsbeitrag des nun bei Vorwek 8 erschienen Forschungsbandes Bohème nach ’68 skizziert die Mitherausgeberin Walburga Hülk die Kernfrage des Projekts, in dessen Rahmen die Konferenz zum gleichnamigen Band realisiert wurde, anhand von Beispielen deutsch-französischer Grenzfiguren, angesiedelt zwischen postdramatischer Travestie am Collège de France (gemeint ist die Antrittsvorlesung Michel Foucaults) und aktuellem Kinoprogramm (Après Mai). Sie ergibt sich aus jenem ambivalenten Verhältnis von marge und mainstream, das auch die kokettierende Selbstzuschreibung aus der Mythisierung der Bohème Kapital schlagender Projekte wie die Hamburger Bohème durchdringt, aus den Kippfiguren auf den Grenzen von Bohemia. Ihr Beitrag schließt an ein ausführliches und umsichtig heranführendes Vorwort der drei HerausgeberInnen an und setzt mit diesem zusammen die spannungsreichen Momente einer modernen Bohème expositorisch ein.

Neben eher historisch-soziologisch ausgerichteten Überlegungen mit Fokus auf ’68 (Wolfgang Eßbach) beziehungsweise auf die Bohème als Bildungsmilieu (Georg Stanitzek) sowie stark auf die Interferenzen von Bohème und Pop ausgerichteten Beiträgen (Jörg Döring, Gregor Schuhen, Ole Petras), finden sich Ausführungen zur Berliner Bohème (Diedrich Diederichsen), Bobos und Hipstern (Nicole Pöppel), Künstlerkindern, subkulturellen Großstadtmilieus (Jan-Frederik Bandel) und der sogenannten digitalen Bohème (Catrin Kersten). Konzepte, von denen sich einige mehr, einige minder plausibel auf das kanonische Bohèmeverständnis als „gegenbürgerliche Subkultur künstlerisch-intellektuellen Lebens“ des Germanisten Helmut Kreuzer rückbinden lassen. So werden Kontinuitäten und Diskontinuitäten über die quasiepochale Wende 1968, in der Kreuzers große Studie erschien, hinweg aufgespürt, Abweichungen und Abgrenzungen nachgezeichnet und neue Begriffe erprobt.

Als Beitrag zu einer Forschungsperspektive auf eine weibliche Bohème arbeitet Gabriele Dietze etwa mit zwei exemplarischen Strängen bohemischer Stile das Phänomen einer neo-feministischen Second Wave-Bohème heraus. Sie zeigt anhand des Versuchs einer sexuellen Revolution über Körperpolitik durch eine SexPol-Bohème und des Versuchs einer epistemologischen Revolution über androzentrisches Denken durch eine anarchafeministische Schwarze Bohème anschaulich zwei Formationen weiblicher Bohème seit 1968 auf.

Etwas aus dem ansonsten innovativen Konzept des Bandes heraus fällt der Beitrag des „FAZ“-Mitherausgebers Jürgen Kaube, der seinem 2007 erschienenen Buch Otto Normalabweicher entnommen ist. Mark Terkessidis hat Kaube im Zuge dieser Veröffentlichung einmal als „Verteidiger der alten Norm der einheimischen, heterosexuellen, bärtigen Männlichkeit“ bezeichnet, der Angst um seine Privilegien habe, wenn man sich seinen durchaus unoriginellen Befund einer neuen Herrschaft der Minderheiten ansieht. Kaubes Klage über den Verlust der Hochkultur und des standesbewussten Geschmacks eines Bildungsbürgertums wirken jedenfalls einigermaßen deplatziert und befördern dabei schlechterdings keine Erkenntnisse über eine mögliche Bohème nach ’68.

Davon abgesehen erhellt der Forschungsband jedoch ein spannendes und facettenreiches Feld der Gegenwartskultur und das mit weitgehend interdisziplinärem Anspruch. Auf dem Weg zu neuen Bohèmekonzepten bieten die einzelnen Autoren und Autorinnen jeweils durchweg anschlussfähige Überlegungen an und befruchten damit ein neues Verständnis von moderner Bohème in einer Zeit, in der das Konzept bereits gänzlich der Romantisierung anheim zu fallen drohte.

Titelbild

Walburga Hülk / Nicole Pöppel / Georg Stanitzek (Hg.): Bohème nach '68.
Verlag Vorwerk 8, Berlin 2015.
246 Seiten, 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783940384522

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