Das ABC lernen um 1800

Peter O. Büttners Studie zum Schreibunterricht in der Zeit der Helvetik

Von Martina WernliRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martina Wernli

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie hat man die Kulturtechnik Schreiben am Ende des 18. Jahrhunderts in der Schweiz und im deutschsprachigen Europa gelehrt? Wer hat in den Schulen unterrichtet und wie? Mit diesen Fragen beschäftigt sich Peter O. Büttners Studie Schreiben lehren um 1800, die in diesem Jahr erschienen ist. In seiner Dissertation bearbeitet Büttner ein Themengebiet, das noch wenig akademische Aufmerksamkeit bekommen hat, vielleicht auch deswegen, weil es nicht eindeutig einer einzelnen Disziplin zugeordnet werden kann. Schließlich umfasst die Schreibforschung kulturwissenschaftliche, historisch-pädagogische, kunsthistorische (vor allem in Bezug auf die Kalligraphie) aber auch germanistische Fragestellungen – was sie besonders interessant und anschlussfähig macht.

Die Arbeit entstand in einer institutionellen Einbindung, deren Rahmen zum besseren Verständnis hier kurz skizziert sei: Büttner, der Germanistik, Anglistik und Psychoanalyse studiert hatte, promovierte 2013 an der Universität Zürich. Als Doktorand war er innerhalb des SNF-Forschungs- und Editionsprojektes (Laufzeit 2009–2015) zur sogenannten Stapfer-Enquête tätig. Basis für die Studie war denn auch eine in diesem Forschungsprojekt zentrale Schulumfrage aus dem Jahr 1799. Während der Zeit der Helvetischen Republik (1798–1803) wurden die Schweizer Lehrer von Bildungsminister Philipp Albert Stapfer (1766–1840) mittels eines Fragebogens befragt. Ziel der Befragung war, systematisch Wissen über den Zustand der Schulen zu sammeln. Die Antworten der Lehrer aus 2410 Schulgemeinden (die Quellen liegen heute im Bundesarchiv Bern) wurden im Forschungsprojekt transkribiert und sind in einer Datenbank einsichtig. Die Auswertung dieser Daten erfolgte in unterschiedlichen Projekten; Büttner deckt dabei die Fragen nach dem Schreibunterricht ab, die einen Teil von Stapfers 59 Fragen an die Lehrer ausmachten.

Der klare Aufbau des Buches sticht sofort ins Auge: Büttner nähert sich über die Beschreibung der Schul-Enquête, über die materiellen und räumlichen Vorbedingungen wie Feder und Tinte, Schreibmaterial und Schreibmöbel dem Schreibunterricht und den praktizierten Schreibmethoden an. Dazwischen führen Exkurse in den Schreibdiskurs der Zeit und über die helvetischen Grenzen hinaus, um die Stapfer-Fragen zu historisieren und zu kontextualisieren. Dabei werden vor allem die italienischen und Nürnberger Kalligraphen genannt, ein Überblick zeugt von Büttners Kenntnissen der Unmengen von historischen Schreibanleitungen wie auch der heutigen Schreib- und Schriftforschung dazu. Namens-, Orts- und Sachregister erleichtern schließlich das gezielte Nachschlagen im Buch selbst.

Für den Zeitraum um 1800 konstatiert Büttner einen Umbruch: Während des Ancien Régime habe vor allem das Lesen viel Aufmerksamkeit erhalten, und erst um 1800 sei dann das Schreiben und Rechnen in den Fokus gerückt. In Abgrenzung zum Schreiben sei die Lesefähigkeit allgemein geradezu erwartet worden – Büttner belegt diese These etwa mit zeitgenössischen Stellengesuchen, in denen das Lesen im Gegensatz zum Schreiben und Rechnen keine Erwähnung findet: Es wurde schlicht vorausgesetzt. Auch sei ein Studium im 18. Jahrhundert noch durchaus denkbar gewesen, selbst wenn die Schreibkenntnisse des Studierenden mangelhaft waren.

Blick auf ein singuläres Phänomen in seinem Kontext

Zu Recht weist Büttner auf den Umstand hin, dass theoretische Schreiblehren zwar tradiert und gut erforscht seien, da sich die meisten dieser Werke aber mit Gymnasien und Lateinschulen beschäftigten, sei es gerade die Stapfer-Enquête, die einen bisher fehlenden Einblick in die Praxis der sogenannten Niederen Schule geben würden. Das reichhaltige Quellenmaterial, das Büttner präsentiert, ist eindrücklich – es zeigt, dass die Lehrer die Plattform einerseits nutzten, um die Lage in ihren Schulen zu beschreiben, andererseits auch, um ihre eigenen Fähigkeiten zu präsentieren – wovon Abbildungen von kalligraphisch ambitionierten Lehrerantworten zeugen. In dieser Diversität der Antworten liegt zumindest für einen systematischen Ansatz jedoch auch das Problem, dass die Ergebnisse nicht nur beispielhaft wiedergegeben werden sollten, sondern auch noch zu allgemeineren Aussagen zusammengefasst werden müssten.

Was in einem letzten Kapitel unter dem Titel „Epikrise“ von Büttner überzeugend vorgenommen wird, fehlt teilweise in den vorangegangenen Abschnitten, wo viele einzelne Antworten zitiert und aneinandergereiht werden, ohne dass Zusammenfassungen eine Metareflexion böten; hier hätte eine stärkere Gliederung der Unterkapitel Abhilfe gebracht. Das Problem liegt aber teilweise auch im Material: Die Stapfer-Umfrage und damit auch die dazugehörigen Antworten sind ein singuläres Phänomen. Aus den einzelnen Schulen ist viel Interessantes zu erfahren: Es sind Momentaufnahmen, die für sich stehen bleiben müssen, auch dort, wo man interessiert wäre, mehr über eine weitere Entwicklung zu erfahren – welche Änderungen etwa waren notwendig, damit auch Kinder aus geografisch abgelegenen Gebieten häufiger und rund ums Jahr eine Schule besuchen konnten? Warum und wie wurde aus den im Buch erwähnten Landarbeitern, Webern oder Drechslern Lehrer, und blieben sie längerfristig in dieser Funktion? Wie entwickelte sich die angedeutete Zusammenarbeit zwischen Lehrern und Pfarrern beim Unterrichten?

In der präzisen Darstellung, woher eine bestimmte Lehrerantwort stammte, ist für den Lesefluss teilweise die Angabe der (historischen) geografischen Herkunft des Schreibens hinderlich, also etwa dass ein Schreiben aus Bretzwil (Kanton Basel, Distrikt Waldenburg) stamme und das nächste aus einem ganz anderen Ort – infolgedessen kommt es zu einer Reihung geografischer Klammern.

Differenzierte Darstellung einer Momentaufnahme

Büttner folgt einer neueren Forschung, die aufzeigen will, dass es in der Frühen Neuzeit auch in ländlichen Gebieten, abseits von Wissens-Orten wie Klöstern eine Schriftlichkeit gab – die Vorstellung einer scharfen Trennung in eine ungebildete Landbevölkerung und eine alphabetisierte Stadtbevölkerung also nicht mehr zu halten sei. Allerdings lernten längst nicht alle Kinder gleichberechtigt schreiben – auch Büttners Quellen bestätigen, dass Schreiben und Schreiben lernen Knaben- und Männersache war. Es gelingt Büttner, die Fähigkeiten der Schulmeister und Pfarrer in den Dorfschulen differenziert darzustellen und damit gängigen Vorurteilen entgegenzuwirken. Auch in der Darstellung der Schreibmaterialien kann am Beispiel der Feder aufgezeigt werden, welchen Einfluss das Material und seine Kosten auf den pädagogischen Prozess hatten: Jüngere Kinder konnten aus graphomotorischen Gründen noch nicht mit der Feder schreiben, Schiefertafeln gab es noch nicht und bei den älteren Schülern musste der Lehrer ständig Federn präparieren und nachschneiden, damit überhaupt geschrieben werden konnte. Dies kostete Zeit und Geld: Papier war teuer, zugerichtete und geschnittene Federn ebenfalls und wo keine Schulkosten üblich waren, gingen diese Ausgaben zulasten der Lehrer.

Insgesamt überzeugt Büttners Analyse einer Momentaufnahme: Es scheint zum Schluss des Buches, als ob man mit ihm einen Blick in unterschiedliche Schreibstuben der Zeit habe werfen und den Lehrern bei ihrer Arbeit habe zusehen können.

Titelbild

Peter O. Büttner: Schreiben lehren um 1800.
Wehrhahn Verlag, Hannover 2015.
276 Seiten, 29,50 EUR.
ISBN-13: 9783865254238

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