Ende einer wilden Reise

Manuel Larcenets vierteiliges Meisterwerk „Blast“ findet mit „Hoffentlich irren sich die Buddhisten“ ein grandioses Finale

Von Martin RichlingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Richling

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nach der Lektüre des letzten Blast-Bandes stellt sich die Gewissheit ein, dass die gesamte Reihe nur als virtuose Geschichte einer Flucht gelesen respektive gesehen werden kann – und zwar auf mehreren Ebenen. Doch der Reihe nach. Hoffentlich irren sich die Buddhisten führt erst einmal das konsequent weiter, was die ersten drei Bände bereits auf eindrückliche, beklemmende und radikale Weise dargestellt haben: Den Weg seines Helden Polza Mancini, jenes maßlosen, fettleibigen Melancholikers und Außenseiters, hinaus aus der Gesellschaft mitsamt der mit ihr verbundenen Normen und Moralvorstellungen hinein in eine fundamentale Einsamkeit.

Vor wem oder was der auf grauenhafte Weise faszinierende Held der Geschichte Polza Mancini aber eigentlich Reißaus nimmt, ist komplizierter als es anfangs scheint. Natürlich, er ist ein Außenseiter, allein wegen seiner extremen Fettleibigkeit erfährt er beständig Ablehnung und Ausgrenzung. Der Tod seines Vaters erschüttert ihn zusätzlich. Und trotzdem gibt es eigentlich genug, das auch ihn in oder zumindest am Rand dieser Gesellschaft hätte halten können. Etwa seine Arbeit, die ihm ein halbwegs erträgliches Auskommen garantiert, oder eine funktionierende Beziehung zu einer Frau, mit der Polza glücklich war. Trotzdem gibt er all das für das Leben eines Clochards auf. Dass sich die Frage nach dem Warum nicht so einfach beantworten lässt, liegt auch an den Leerstellen in Polzas Erzählung, die den Unmut der Polizisten und die Neugier des Lesers wecken. Von Anfang an ist klar, dass irgendetwas nicht stimmt an seiner Geschichte.

Zu Beginn nimmt man Polza Mancini den von ihm angeführten unstillbaren Freiheitsdrang als Motiv für seine Flucht noch ab, denn immerhin hat sich Manuel Larcenet mit seinen vorangegangenen Werken Der alltägliche Kampf und Die Rückkehr aufs Land bereits als – stets humorvoll gebrochener – naturverbundener Romantiker zu erkennen gegeben. In Blast kontrastiert Larcenet allerdings noch krasser als je zuvor jede schwärmerische Schilderung von Naturerlebnissen mit ihren Schattenseiten. Das gilt zunächst für die Natur selbst, die Polza etwa mit harten Wintern existenziell bedroht. Aber noch viel existentieller gilt dies auch für die Natur des Menschen. Die anderen Außenseiter, auf die Polza trifft, sind meist nur auf den ersten Blick liebenswerte Exzentriker. Ihre Schattenseiten, ihre Abgründe sind noch unberechenbarer und gefährlicher als der härteste Winter. Und auch Polza, immerhin Held und Erzähler dieser Geschichte, bildet da keine Ausnahme.

Die Romantisierung des Naturzustandes wird in diesem letzten Band der Reihe gewissermaßen der Superlativ der berühmten These Thomas Hobbesʼ gegenübergestellt: Der Mensch ist nicht nur den anderen Menschen ein Wolf, sondern auch sich selbst. Sowohl Mancini als auch sein Freund Roland, bei dem er Unterschlupf findet, wurden von der Gesellschaft als psychisch krank, als gefährlich für dieselbe definiert. Aber obliegt die Definition über gesund und krank wirklich allein den Institutionen? Am Beispiel von Roland werden wir Zeuge, wie dünn die Trennwände zwischen Realität und Trugbild, Wahrheit und Lüge sein können. Als dieser sich weigert, seine Wahrnehmung, seine Triebe, seine Sicht der Dinge weiterhin durch Medikamente zu regulieren, kommt es zur Katastrophe. Auch Polza Mancini sieht die Dinge auf seine Weise. Wie in allen Bänden zuvor gibt auch in diesem letzten Polza den Erzähler, der es dem Leser mit gewählten Worten und nachvollziehbaren Argumenten leicht macht, sich auf seine Seite zu schlagen. Sein Publikum innerhalb der Erzählung besteht nach wie vor aus den zwei Polizisten, die ihn verhören, um ein schreckliches Verbrechen aufzuklären – bei dem Polza Mancini der Hauptverdächtige ist. Allerdings erfolgt am Ende ein Sprung in der Erzählperspektive. Eine Art Epilog zwingt den Leser, die Ereignisse aus Sicht der Polizisten zu rekapitulieren und damit die gesamte vorangegangene Erzählung komplett neu zu bewerten.

Larcenet gelingt es auf diese Weise, die eine vermeintliche Wahrheit, die eine vermeintliche Realität als Konstruktion zu entlarven. Dafür nimmt er auch in Kauf, oder es gehört vielmehr dazu, dass nicht alle Ereignisse restlos aufgeklärt werden. Was Mancini im Einzelnen wirklich getan hat, was nicht und warum, das muss der Leser mit sich selbst ausmachen. Die Großartigkeit und Meisterschaft von Larcenets Erzählung besteht darin, dass dies mehr als ein plumper Taschenspielertrick ist, den wir leider nur zu oft etwa aus Hollywood kennen und der einen meist verärgert zurücklässt. Statt eines bloßen „Ätsch, alles war ganz anders“ offenbart der Bruch zwischen der Wahrnehmung Polzas und derjenigen der Polizisten die ganze Tragik des Protagonisten. Denn nur der Glaube an seine eigene Wahrheit ermöglicht es Polza Mancini, seine eigene Existenz aufrechtzuerhalten. Zwangsläufig erscheint so auch der titelgebende Blast in einem neuen Licht.

Während der Blast, dieser Zustand des Außer-Sich-Seins, der vollkommenen Entrückung und Glückseligkeit in den vorherigen Bänden von Mancini ständig gesucht und romantisiert wird, gibt es in Hoffentlich irren sich die Buddhisten nur noch einen einzigen, finalen Blast. Allein dessen Begleitumstände offenbaren seine abgrundtiefe Tristesse, seine banale Funktion für Polza: Die Flucht vor der Realität hinein in die Leichtigkeit des Rausches. Dessen Schönheit bleibt für Polza zwar bestehen, das Erwachen ist aber umso grauenhafter. Im klinischen Sinne würde man Polza vielleicht eine Art von Dissoziation, also der krankhaften Trennung von Wahrnehmung und Erinnerung diagnostizieren. Diese Brüchigkeit der Wahrnehmung, der Wechsel verschiedener Stimmungen und Erzählebenen, geht in Hoffentlich irren sich die Buddhisten mit einer aus den bisherigen Blast-Bänden bekannten virtuosen Vielfältigkeit des Stils einher, die hier ihre Vollendung findet. Für die aus den Vorgängern bekannten Darstellungen des Blast im bunt-naiven Outsider-Art-Stil zeichnen Gerüchten zufolge Larcenets Kinder verantwortlich, für die Aktzeichnungen des von Frauen besessenen Roland dankt Larcenet im Nachwort Anne-Claire. Sogar den Comicstrip bindet Larcenet ein, in Gestalt der Abenteuer von „Jasper, de[m] Bipolarbär“ des Asterix-Zeichners Jean-Yves Ferri, die mit bitterbösem Humor in die Wahrnehmung psychischer Erkrankung eintauchen. Nicht zuletzt dank dieser Kollaborationen, die die ebenso kraftvollen wie sensiblen, zwischen Farbe und Schwarz-Weiß changierenden Striche Larcenets auf wunderbare Weise ergänzen, findet hier eine einmalige, wilde und gleichsam zarte Bildsprache ihre Vollendung.

Titelbild

Manu Larcenet: Blast 4: Hoffentlich irren sich die Buddhisten.
Handlettering von Dirk Rehm.
Übersetzt aus dem Französischen von Ulrich Pröfrock.
Reprodukt Verlag, Berlin 2015.
202 Seiten, 29,00 EUR.
ISBN-13: 9783956400230

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