Fiktionale Erinnerungsromane

Über Max Brods „Der Sommer den man zurückwünscht“ und „Beinahe ein Vorzugsschüler“

Von Martin IngenfeldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martin Ingenfeld

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wehmut in Erinnerung an mehr oder weniger lang zurückliegende Kindheits- und Jugendjahre, in denen die Welt noch wohlgeordnet schien, friedlich und unverbraucht, mag vielen bekannt sein. Und gewiss mag sich dieser Eindruck auch der Idealisierung oder Verdrängung verdanken. Doch wenn zwei Weltkriege, ein Völkermord und der Verlust der eigenen Heimat dazwischenliegen, wird man solche Verklärung des eigenen Herkommens kaum ohne Weiteres zurückweisen können. Die beiden „kleinen“ Bücher Max Brods, wie Sigrid Brunk sie in ihrem Vorwort zu dem Band nennt, der sie versammelt, sind in diesem Sinne Erinnerungsbücher: Max Brod veröffentlichte die Romane „Der Sommer den man zurückwünscht“ und „Beinahe ein Vorzugsschüler“ wenige Jahre nach dem Krieg aus seiner neuen israelischen Heimat. Parallel erschienen sie 1952 im Zürcher Manesse Verlag. In einer Edition im Rahmen der „Ausgewählten Werke“ Brods, die im Wallstein Verlag erscheint, sind sie nun entsprechend ihres engen inhaltlichen und entstehungsgeschichtlichen Zusammenhangs zusammengefasst.

Im Jahr 1939 war der 1884 in Prag geborene Brod nach Palästina ausgewandert, von wo aus er nach dem Krieg dem Werk seines 1924 verstorbenen Freundes Franz Kafka zum literarischen Durchbruch verhalf. Doch auch Brod selbst nahm dort nach längerer Pause seine einst intensive literarische und publizistische Produktion wieder auf – so beispielsweise mit seinem hier bereits besprochenen Jesusroman „Der Meister“ (ebenfalls aus dem Jahr 1952). Die beiden Erinnerungsromane allerdings sind bei aller Fiktionalisierung unverkennbar autobiografisch akzentuiert und führen Autor wie Leser zurück in die vergleichsweise friedliche und heimelige Umwelt der österreichisch-ungarischen Monarchie. Ganz und gar unbeschwerte Erinnerungen sind es gleichwohl nicht.

„Der Sommer den man zurückwünscht. Roman aus jungen Jahren“ handelt von einer deutschsprachigen jüdischen Familie aus Prag, die ihren Sommerurlaub an der Ostsee verbringt, in Misdroy, auf der heute polnischen Insel Wollin gelegen: die Mutter, die beiden Söhne Erwin und Otto, die Schwester Sophie und das Kindermädchen Zdenka. Der Vater soll einige Wochen später folgen. Wir schreiben das Jahr 1899 und der musikalische, literaturbegeisterte Erwin ist nicht nur dem Alter nach ein offensichtliches Alter ego des Autors Max Brod. Zwar ist das preußisch-protestantische Pommern mit dem religiös und sprachlich vielstimmigen Böhmen kaum zu vergleichen – Prag bleibt für Erwin und Otto natürlich ein in Deutschland nicht zu erreichendes, vorzugswürdiges Ideal. Doch der Kontrast von nationalistischer Verengung und liberaler Toleranz überschattet das „ruhige Sommerglück“ nur am Rande, wenn sich gelegentlich antisemitische Töne einschleichen. Rückblickend freilich muss dieser Rand als ein heimliches Zentrum erscheinen.

Nichtsdestoweniger sind die Ferien für die Kinder nicht frei von Sorgen. Die Mutter führt Haushalt und Familie in schier tyrannischer Weise, die sich gegenüber den ständig wechselnden Hausmädchen auslebt und im Verhältnis zu den Kindern in willkürlichen Verboten – vor allem von Lektüre – äußert. Edwin selbst leidet an einer Kyphose, weshalb er über Jahre seiner Kindheit hinweg gezwungen war, sich dem – letztlich erfolgreichen – therapeutischen Regime eines bayerisch-schwäbischen Wunderdoktors zu unterwerfen, dessen Behandlungsmethoden den Vater wiederum nötigen, sich über Gebühr zu verschulden. Darin spiegeln sich auch Brods eigene Kindheitserinnerungen. Insgesamt jedoch stehen die angenehmen Aspekte des Sommers im Vordergrund: die Zugreise von Prag über Berlin an die Ostsee, die Spielkameraden, die ebenfalls aus Prag stammende Familie Speyer, das Vergnügen der Kurkapelle, Klavier- und Gesangsdarbietungen, heimliche Lektüre hinter dem Rücken der Mutter, vorsichtige erotische Annäherungen. Der eigentliche Held des Buches aber ist niemand anderer als der Bruder Otto, der, wie uns der Erzähler verrät, später in Auschwitz zu Tode kommen wird. Brod widmet seinen Roman seinem ebenfalls dort ermordeten Bruder.

In anderem erzählerischen Gewand präsentiert sich dagegen der zweite Roman des Bandes mit dem Titel „Beinahe ein Vorzugsschüler oder Pièce touchée. Roman eines unauffälligen Menschen“. Während sich im Falle von „Der Sommer den man zurückwünscht“ nur erschließen lässt, dass der Erzähler um Weltkriege und Shoa weiß, steigt dieser Roman unmittelbar in der Gegenwart des Verfassers ein: Eine in ihrem Realitätsgehalt fragwürdige Begegnung wird dem Ich-Erzähler namens Brod nämlich zum Anlass, aus der Gegenwart des Tel Aviv Ende der 1940er-Jahre auf die Jahrzehnte zurückliegende Prager Schulzeit zurückzublicken. In diesem Rahmen imaginiert er ein Milieu, das durch die Schülerromane der Jahrhundertwende, von Autoren wie Franz Werfel (wie Brod einst Prager Gymnasiast), Robert Walser oder Robert Musil seine eigene Literaturgeschichte hat. Und wiederum ist der eigentliche Held nicht die Hauptfigur, in diesem Fall nicht Brod selbst – der Vorzugsschüler –, sondern dessen Freund Vikmath (Viktor Mathias) Freud –, dessen schulische Leistungen zum Vorzugsschüler nicht ganz heranreichen. Ihm, in dem sich Brods Freund Max Bäuml erkennen lässt, ist dieses Buch gewidmet. Er führt Brod über die Welt der Literatur hinaus an gesellschaftspolitische Ideale heran, insbesondere an den Zionismus und eine Auseinandersetzung mit der jüdischen Identität, die sich in der fiktionalen Gegenwart des Romans gegen die arabischen Gegner der Unabhängigkeit Israels zu behaupten hat.

Im Falle beider Romane liegt die Frage nach ihrem autobiografischen Gehalt auf der Hand, bei „Beinahe ein Vorzugsschüler“ schon durch die namentliche Identität von Ich-Erzähler und Autor. Das aus dem Tschechischen übersetzte Nachwort von Radka Denemarková diskutiert dann auch diese Fragen: „In […] beiden Romanen irrt Brod umher wie ein Erwachsener in den Wäldern seiner Kindheit.“ Wie in seinen Romanen über das Prager Tagblatt sowie „Stefan Rott oder das Jahr der Entscheidung“ wird Brod hier das eigene Leben zur Quelle der literarischen Fiktion. Es wäre daher sehr zu wünschen, dass auch seine Autobiografie „Streitbares Leben“ (1960), die zurzeit nicht im Buchhandel greifbar ist, bald wieder aufgelegt würde, um das Verhältnis von Autobiografie und Fiktion bei Brod weiter aufzuklären.

Die zwischen der Zeit des Erzählens und der des Erzählten liegende Distanz der Jahrzehnte und ihrer Umwälzungen rückt die Erinnerung in den beiden hier besprochenen Romanen weit fort von der eigenen Gegenwart. Entsprechend bricht der Abgrund, über den hinweg sie fiktionalisiert wird, nur an einzelnen Stellen durch: Auschwitz als Ort der Ermordung des Bruders Otto, Auschwitz als Symbolort der Verfolgung und Vernichtung des jüdischen Volkes, gegen den es in Palästina eine neue Heimat zu gewinnen sucht – ein Anliegen, das der Erzähler Brod verteidigt. Im unter Beschuss stehenden Tel Aviv der späten 1940er-Jahre ist die Heimat, die Sicherheit, wie sie Prag einst geboten hatte, längst nicht erreicht. Und vermutlich ist sie ohnehin niemals wiederzugewinnen:

„Vielleicht haben überdies nur Kinder, die noch nicht allzu viel Wechselndes gesehen haben – also Kinder nicht von heute, sondern aus jener ruhigen Zeit –, diesen stabilen und glücklichen Blick, von dem sich alles gleichsam herausfordernd, die Hände in die Hüften gestützt, in den unbezweifelbar festen Erdboden einpflanzt. […] Und wer weiß, ob nicht hinter diesem Blick, der uns Beständigkeit zugegebenermaßen nur vorgaukelt, etwas mehr steckt als Trug, nämlich das eigentliche Geheimnis des Lebens, das eigentlich Dauernde, von dem wir gerade in unserem Irrtum mehr ahnen, als wir später in unserer sogenannten Erkenntnis wahrhaben?“

Titelbild

Max Brod: Der Sommer, den man zurückwünscht. Beinahe ein Vorzugsschüler. Romane.
Mit einem Vorwort von Sigrid Brunk.
Wallstein Verlag, Göttingen 2014.
386 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783835313385

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