Verschwörungstheorie mit Hintergründen

Hubert Seipels „Putin. Innenansichten der Macht“ offenbart trotz seines sein arg einseitigen Narrativs tiefe Einblicke in die aktuelle russische Politik

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Anders als der Titel suggerieren könnte, handelt es sich bei Hubert Seipels Buch über den russischen Präsidenten keineswegs um dessen Biographie, sondern eher um den Versuch, dem geheimnisumwitterten Politiker und vor allem den nicht immer nachvollziehbaren Beweggründen seines politischen Handelns näher zu kommen. Zumindest Seipel selbst ist der Meinung, dass ihm dies bereits mit seinen durchaus umstrittenen TV-Reportagen gelungen sei: Der ARD-Mitarbeiter durfte 2014 ein exklusives 4-Augen-Interview mit Wladimir Putin führen, das zur besten Sendezeit und auf dem vorläufigen Höhepunkt der Ukraine-Krise ausgestrahlt wurde. Die Kritik, die danach auf den Journalisten ob seines milden Interviewstils niederprasselte, war genau genommen etwas ungerecht, oder hatten die Zuschauer ernsthaft erwartet, dass der russische Präsident, der nicht gerade für seine Liebe zur kritischen Berichterstattung bekannt ist, sich von einem deutschen Journalisten mit bohrenden Fragen traktieren lassen würde?

Warum es Seipel aber gar nicht hätte gelingen können, Putin durch ein rhetorisch intelligent inszeniertes Kreuzverhör herauszufordern, wird nach der Lektüre seines neuen Buches niemanden mehr wundern. Dessen erste Hälfte weist erschreckende Parallelen zu Beiträgen auf, wie man sie seit Jahren in den Internet-Foren des Spiegel, der Süddeutschen Zeitung und der FAZ oder auf sozialen Netzwerken verfolgen kann, in denen Beiträger den russischen Präsidenten geradezu als messianische Erscheinung  feiern, der die Welt von der Unterjochung durch die USA befreien will. Vielleicht hat man diese Menschen zu voreilig wahlweise als vom Kreml bezahlte ‚Putin-Trolle‘ oder als Vertreter jener relativ neuen Bewegung der Esoterischen Rechten abgetan, deren radikale Ablehnung der USA zu einem wirren Weltbild voller ökologischer und politischer Verschwörungstheorien führt, bis hin zur in letzter Zeit verstärkten Reaktivierung antisemitischer Ressentiments. Wo man an die Geheimhaltung außerirdischen Lebens und die Existenz der ominösen ‚Chemtrails‘ glaubt wie auch an die Echtheit der „Protokolle der Weisen von Zion“ und sich sicher ist, der anhaltende Flüchtlingsstrom aus Syrien sei eine bewusst eingesetzte Destabilisierungsstrategie Amerikas, um Europa in die Knie zu zwingen, ist auch die Überzeugung, Putin handle ausschließlich aus moralisch lauteren Motiven und sei eine Art Heilsbringer für das Wiedererstarken des ‚wahren‘ Europa, nicht weit.

Dass eine Dämonisierung Wladimir Putins sicherlich der falsche Weg ist und die Wahrheit hinter den meisten Konfliktfeldern in diesem wieder aufkeimenden Kalten Krieg zwar nicht ganz in der Mitte liegt, man jedoch die russische Interessenssphäre und auch Mentalität in einer Bewertung berücksichtigen sollte, steht außer Frage. Warum Seipels Analyse auf den ersten rund 150 Seiten aber so einseitig geraten ist, sollte von jedem aufmerksamen Leser grundsätzlich hinterfragt werden. Gerade auch für Literaturfreunde ist das Buch daher von hohem Interesse, denn Seipel konstruiert ein Narrativ, das in sich geschlossen und logisch ist, jedoch im Grunde wie eine klassische Verschwörungstheorie funktioniert: Es wird eine These aufgestellt, so verwegen sie auch sein mag, diese These wird bis zu einem gewissen Punkt mit zahlreichen Quellenangaben belegt, und wenn der Leser/Diskutant an jenen Punkt gerät, an dem Widerspruch ertönen sollte, verlangt derjenige, der die These aufgestellt hat, erst einmal einen Beweis für das Gegenteil. So funktionieren Verschwörungstheorien seit jeher, von der Ermordung Kennedys (ein Auftragsmord der Regierung selbst) über 9/11 (die USA haben die Gebäude selbst zerstört) bis hin zum Abschuss des niederländischen Passagierflugzeugs über der Ukraine (es könnten auch ukrainische Soldaten gewesen sein).

Zyniker würden jetzt behaupten, dass der Erscheinungstermin des Buches für seinen Autor äußerst unglücklich war: Erst legt die niederländische Untersuchungskommission im Grunde stichhaltige Beweise für die Schuld der Separatisten am Abschuss der Passagiermaschine über der Ukraine vor, vor allem aber greift Russland militärisch in den Syrien-Konflikt ein und widerspricht damit einem nicht unbeträchtlichen Teil von Seipels Darlegungen zum Charakter und den wahren Beweggründen Putins auf der Bühne der Weltpolitik. Dies ist aber nur auf den ersten Blick von Bedeutung, denn folgt man dem in diesem Buch dargelegten Narrativ, so ließen sich natürlich auch diese scheinbaren Widersprüche sehr schnell aufklären und ins Gegenteil verkehren. Ein Propagandakrieg in Endlosschleife mit unklarem Ausgang.

Und doch beginnt Seipels Buch im zweiten Drittel interessant zu werden; nämlich dann, wenn er seine Schuldzuweisungen und Rechtfertigungsversuche endlich hinter sich gebracht hat und beginnt, von der politischen Karriere des Wladimir Putin zu erzählen, chronologisch von dessen Zeit als KGB-Mitarbeiter in der untergehenden DDR über seinen unwahrscheinlichen Aufstieg zum russischen Präsidenten bis hin zur aktuellen Ukraine-Krise und deren möglichen Ursachen. Man sollte Seipels Aussagen weiterhin mit äußerster Vorsicht genießen, und doch ist das Bild, das er zeichnet, eines, das zum Nachdenken anregen kann. Seine Sicht auf die Osterweiterung der NATO und die chaotischen Zustände in Boris Jelzins Russland ist jedenfalls die eines genauen und kenntnisreichen Beobachters, und vielleicht ist, so kann man selbst als neutraler Leser aus seinen Ausführungen und Deutungen schließen, auch das westliche Narrativ nicht ganz so unzweifelhaft, wie man bisher angenommen hat. Was allerdings in diesem Zusammenhang besonders hervorgehoben werden muss, ist Seipels Blick auf die russische Geschichte der vergangenen Jahrhunderte, gerade in Bezug auf die Einnahme der Krim und den bewaffneten Konflikt in der Ukraine. Hier lohnt es, seinen Ausführungen zu folgen, auch wenn die angebliche nachweisbare Beteiligung der USA an der Maidan-Revolution wieder genau den Regeln einer Verschwörungstheorie folgt. Es klingt plausibel, ist im Einzelnen nachweisbar, aber die daraus gezogenen Schlüsse sind eben eine mögliche Interpretation der Fakten, ein mögliches Narrativ, das als Ganzes nicht bewiesen werden kann. Denn es fällt auch kein negatives Wort über die von Russland praktizierte hybride Kriegsführung in der Ukraine. Wenn Dinge aus Putins Sicht zu erklären sind, lässt er den Präsidenten zu Wort kommen. Sind sie es nicht, werden sie auch von Seipel elegant übergangen. So spielt der Autor in Teilen ein zynisches Spiel mit und applaudiert sogar diesem Zynismus, indem er ihn mit dem Humor bzw. der Schlagfertigkeit Putins abzuschwächen versucht.

Seipels Buch ist trotz seiner beschämenden Einseitigkeit interessant und kenntnisreich. Leider ist es in einem sehr schlechten Stil verfasst, wobei vor allem der völlig inkongruente Aufbau zu bemängeln ist. Aber wie so oft bei aktuellen politischen Büchern ist dies wohl der Preis, den man für die relative Aktualität zahlen muss. Auch dass der verbreiteten Lesart des schwelenden Ost-West-Konflikts ein anderes, sich davon abhebendes Narrativ entgegengesetzt wird, mag sogar zum Teil Absicht sein, weil es die Grundlage zu einer kontroversen Diskussion bieten kann. Bleibt zu hoffen, dass Seipels Buch auch die Leser erreicht, die zu einer solchen Diskussion generell in der Lage sind.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Hubert Seipel: Putin. Innenansichten der Macht.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2015.
366 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783455503036

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