Veritables Lesewunder

Der große Germanist Albrecht Schöne über den „Briefschreiber Goethe“

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass Johann Wolfgang von Goethe auch ein bedeutender Briefschreiber war, dürfte niemanden überraschen. Sage und schreibe 15.000 Briefe sind von dem Weimarer Dichter überliefert. Allein für seine über 1700 Schreiben an seine Freundin Charlotte von Stein hätte Goethe „sämtliche Literaturpreise aller Zeiten“ verdient gehabt, fand einst der Verleger Siegfried Unseld.

Diesem Urteil mag sich Albrecht Schöne jedoch nicht anschließen, sei es dabei doch vor allem um „Erkundigungen nach dem Befinden der Freundin und unaufhörlich um Liebesbeteuerungen“ gegangen. Schreiben wie das vom 20. März 1782 („Werde nicht müd immer dasselbe zu hören“) seien „nicht weit von dem entfernt, was man heutzutage durch Handyanrufe oder durch SMS-Botschaften übermittelt“.

Solchen eher banalen Schreiben widmet sich Schöne jedoch nicht. Im Gegenteil, bei den neun Goethe-Briefen, die der Göttinger Germanist für seine „Fallstudien“ ausgewählt hat, handelt es sich durchweg um sprachliche Kunstwerke. Goethes oft beschworene „Proteusnatur“ – selten wurde sie so anschaulich wie in diesem Buch. Denn die ausgewählten neun Briefe zeigen den Dichter in immer neuen, immer anderen Rollen: als heimlich Liebenden oder als eigensinnig Trauernden, als klugen Politikberater oder als empörten Journalismuskritiker, als mitfühlenden Seelenarzt oder zuletzt als der Welt schon halb Entschwundenen.

Seit mehr als 50 Jahren untersucht Albrecht Schöne nun, wie in diesen Schreiben jeweils Stoff und Form voneinander abhängen und zusammenspielen. Es ist beeindruckend, wie sehr es dem 90-jährigen Doyen der Germanistik gelingt, die ausgewählten Briefe lebendig werden zu lassen. Ob er nun in seiner eleganten Wissenschaftsprosa die jeweiligen historischen oder biografischen Kontexte rekonstruiert oder in die berückenden Tiefen von Goethes „grammatischem Instrumentarium“ abtaucht: Alles kann hier spannend und aufschlussreich sein, sogar eine irrtümliche Datumsangabe.

Einen solchen Lapsus entdeckte Schöne in einem Schreiben, das der damals 17-Jährige aus Leipzig seinem Mentor Behrisch schickte – ein Symptom für den Ausnahmezustand, in dem sich der damals unglücklich verliebte Briefschreiber befand. Für Schöne ist dieses Dokument eines Liebeswahns sogar die Keimzelle des „Werther“-Romans – so gekonnt habe der junge Goethe bereits hier in Briefform die Mündlichkeit des Gesprächs inszeniert: „Abends um 7 Uhr. / Ha Behrisch das ist einer von den Augenblicken! Du bist weg, und das Papier ist nur eine kalte Zuflucht, gegen Deine Arme. O Gott, Gott. – Laß mich nur erst wieder zu mir kommen. Behrisch, verflucht sey die Liebe.“

Gerade dieses Fallbeispiel beweist, wie faszinierend auch der Blick auf die Materialität der Briefe Goethes sein kann: So erregt habe der unglücklich Verliebte seine Federstriche aufs Papier geschleudert, konstatiert Schöne, dass er den Gänsekiel immer wieder neu habe zurechtschneiden müssen. Weil dies aber eine ruhige Hand erforderte, wirkte es zugleich besänftigend, was sich an dem zunächst klareren Schriftbild ablesen lässt – bis die Federzüge erneut anfangen, wild auszugreifen, und sich die Erregung wieder ihre Bahn bricht. 

In seinen Weimarer Jahren ließ der zum Geheimrat Avancierte dagegen andere für sich schreiben und die korrigierten Konzepte in einer eigens eingerichteten Registratur verwahren. Gerade diese Entwürfe bezeugen, „mit welcher Sorgfalt und wie viel Absicht seine stilistischen Eingriffe“ erfolgten, betont Schöne. Stilistische Eingriffe unternahm Goethe allerdings auch in einem Brief seiner Freundin Charlotte von Stein: Die Weimarer Hofdame war so sehr auf Etikette bedacht, dass sie ihrem stürmischen Brieffreund das „Du“ standhaft verweigerte. Goethe hielt sich zunächst daran, wurde dann aber doch rückfällig. So schreibt er ihr am 12. Dezember 1781: „wenn du mir du bist, um Gotteswillen kein Sie mehr! […] Ich muss dich erst aus diesen Ihnen übersetzen. […]“.

Das war, wie Schöne lakonisch bemerkt, ganz wörtlich und handfest gemeint, schließlich habe Goethe noch ergänzt: „Indess die andre Seite trocknete hab ich deinen Brief durchkorrigirt und alle Ihnen weggestrichen. Nun wird es erst ein Brief. Verzeih dass ich die Kleinigkeit zu etwas mache!“ Es sind nicht zuletzt solche kenntnisreichen Exkurse zu ‚Kleinigkeiten‘ wie Goethes Umgang mit Anredepronomina, die dieses Buch zu einem veritablen Lesewunder machen. 

Titelbild

Albrecht Schöne: Der Briefschreiber Goethe.
Verlag C.H.Beck, München 2015.
320 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783406676031

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