Das Paris des Roland Barthes

Vor vier Jahrzehnten und heute

Von Hanns-Josef OrtheilRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hanns-Josef Ortheil

Von Roland Barthes kannte ich in meinem Studienjahr 1973 nur die Mythen des Alltags. Nachdem ich ihn leibhaftig am Boulevard Raspail gesehen hatte, kaufte ich mir in einer Buchhandlung nahe dem Seineufer sein damals gerade erschienenes Buch Le plaisir du texte (Die Lust am Text) und beeilte mich, damit zurück in meine Wohnung zu gelangen, um es dort in Ruhe zu lesen. Durch Vermittlung einer Zimmerbörse an der Sorbonne bewohnte ich zwei Zimmer im fünften Stock eines großen Mietshauses am Boulevard Saint-Michel. Die Zimmer gehörten einem Gymnasiallehrer, der für einige Zeit nach Finnland gegangen war, um dort zu unterrichten. Während dieser Zeit war ich in seiner Wohnung allein. Ich hatte eine kleine Küche, ein winziges Bad und zwei sehr große Zimmer, von denen ich hinab auf den Boulevard mit seinen mächtigen, hohen Platanen schaute.

Manchmal setzte ich mich zum Lesen nach draußen, auf den umlaufenden Balkon. Genau erinnere ich mich bis heute an den Moment, in dem ich dort Le plaisir du texte aufschlug. Ich las das Motto: La seule passion de ma vie a été la peur (Die einzige Passion meines Lebens war die Angst), und ich zuckte sofort zusammen, weil ich genau diesem seltsamen Satz aus eigener biografischer Erfahrung (von der hier jetzt nicht weiter die Rede sein soll) ganz unbedingt „zustimmen“ konnte. Langsam las ich die nächsten Seiten: Sie handelten von den Freuden und dem Vergnügen an bestimmten Lektüren, ja, sie waren vom ersten Augenblick an das große Gegengift gegen die Langeweile des Studiums.

Daneben beeindruckte mich aber auch, dass der Text nicht (wie sonst meist üblich) aus Teilen oder Kapiteln, sondern aus vielen Fragmenten bestand. Jedes dieser Fragmente bildete eine Art Denkzusammenhang im Kleinen, so dass man lesend durch eine Galerie zu gehen glaubte, sich mal diesem, mal jenem Bild zuwendend. Statt des gewohnten Lesens von Seite zu Seite war so ein Lesen in Sprüngen, vorwärts, zurück, ganz nach Belieben, möglich. Der Leser setzte den Gesamttext für sich zusammen, und jeder Leser mochte das auf andere Art tun.

Seit dieser Lektüre habe ich nicht mehr aufgehört, die Bücher von Roland Barthes zu lesen. Zunächst las ich alles, was er bis 1973 veröffentlicht hatte, und in den Jahren nach meiner Rückkehr aus Paris las ich dann jedes neu erschienene Werk. Das ist bis heute so geblieben. Jede Veröffentlichung erregte meine Neugier und freute mich so, dass Roland Barthes in den letzten vierzig Jahren der einzige Schriftsteller gewesen ist, dessen Werk ich ununterbrochen verfolgt und studiert habe.

Über einige dieser Werke habe ich dann auch geschrieben. Als sein berühmtestes Buch Fragments d’un discours amoureux auf Deutsch erschien, habe ich es in der Wochenzeitung DIE ZEIT ausführlich besprochen. Und als ein kleiner Mainzer Verlag (die Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung) auf mein Betreiben hin die Rechte an der Übersetzung zweier Werke von Roland Barthes erwarb, schrieb ich für diese beiden Bücher jeweils ein längeres Nachwort. In einem dieser Bücher (Incidents / Begebenheiten) findet man einen Tagebuchtext aus dem Nachlass (Pariser Abende). Barthes notiert dort vom 24. August bis zum 17. September 1979 beinahe täglich seine abendlichen Unternehmungen in der Stadt, in der er seit der Kindheit fast sein Leben lang – mit nur wenigen Unterbrechungen – gelebt hat. Anfang dieses Jahres 2015 erinnerte ich mich wieder an diesen Text, las ihn erneut und hatte plötzlich eine mich nicht loslassende Idee.

Ein in Paris wohnender Freund hatte mich in diesen ersten Januartagen angerufen. Wir hatten über das neue Jahr gesprochen, über mögliche Parisreisen und – zunächst ganz nebenbei – auch darüber, dass man in diesem Jahr das Centenaire Roland Barthes’ feiern werde. Mein Freund erzählte, dass eine neue, umfangreiche Biografie (Tiphaine Samoyault: Roland Barthes) und weitere sehr interessante Bücher (Roland Barthes: Album und Magali Nachtergael: Roland Barthes contemporain) erscheinen und dass es in der französischen Nationalbibliothek eine Barthes-Ausstellung geben werde.

Dieses Telefonat löste eine merkwürdige Unruhe und  vielerlei Grübeleien aus, die schließlich dazu führten, dass ich in diesem Jahr immer wieder nach Paris gereist bin. Anhand der Lektüre der Pariser Abende habe ich mich dabei auf den Weg durch das Paris des Roland Barthes gemacht. Nicht allen Pfaden und Spuren konnte und wollte ich folgen, aber ich versuchte, mich so häufig wie möglich in dem Raum oder in der Nähe der Räume aufzuhalten, die er selbst durchstreift und aufgesucht hatte.

Was zunächst wie das Spiel eines Schülers und Verehrers wirkte, der seinem „Lehrer“ und „Maître“ nachlebte und hundert Jahre nach seiner Geburt so etwas wie seine „Nähe“ und „Gegenwart“ suchte, führte schon bald zu kleinen Texten, in denen ich meine Suche, mein Nachdenken und meine Hinwendung zu diesem mich prägenden Schriftsteller beschrieb.

Während all dieser Aufenthalte übernachtete ich in demselben Hotel, kaum hundert Meter von Barthes’ früherer Wohnung entfernt. Jedes Mal erhielt ich in diesem Hotel dasselbe kleine Zimmer mit einem Blick in einen schönen, grünen Innenhof. Die Männer an der Rezeption, denen ich gesagt hatte, ich arbeite an einer Studie über Roland Barthes und wolle ihm während meiner Arbeit nahe sein, machten sich schon bald über mich lustig. „Haben Sie ihn heute getroffen, Monsieur?“ fragte mich einer alle paar Tage. Und ein anderer wollte wissen, wo genau „RB“ und ich am Abend gespeist und was wir gegessen hatten.

Schließlich war es nicht mehr zu übersehen: Ich befand mich mitten in einer Erzählung, und um mich herum gab es mit jedem Parisaufenthalt immer mehr „Zeichen“, die mir von RB berichteten. Ich notierte alles, was ich beobachtete, und es machte mir ein stets wachsendes Vergnügen, mich „im Paris des Roland Barthes“ aufzuhalten. Das andere, große Paris interessierte mich in diesem Jahr nicht. Letztlich trieb ich mich in kleinen, meist zentral an den Ufern der Seine gelegenen Bezirken herum. Ich las in Barthes’ Büchern, manchmal aß ich sogar genau das, was auch er gern gegessen hatte. Im Juli / August 2015 stellte ich meine Notizen dann zu diesem Buch zusammen. Es ist meine ganz persönliche Hommage an einen Denker, den ich bis heute verehre und der am 12. November 2015 hundert Jahre alt geworden wäre.

Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag ist ein Auszug aus
Hanns-Josef Ortheil: Die Pariser Abende des Roland Barthes. Eine Hommage.
Mit Roland Barthes: Pariser Abende. Aus dem Französischen übersetzt von Hans-Horst Henschen.
2 Pariskarten und 45 Fotografien von Hanns-Josef und Lotta Ortheil.
Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung, Mainz 2015.
160 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783871620867

Wir danken dem dem Autor und dem Verlag für die freundliche Genehmigung zur Publikation des Textes.

Ortheil-Barthes

Information des Verlags über das Buch:

Am 12. November 2015 wäre Roland Barthes (1915—1980), der bedeutende französische Literat und Kulturtheoretiker, hundert Jahre alt geworden. Aus diesem Anlass widmet ihm der Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil (geb.1951) eine ganz besondere Hommage. Er folgt Roland Barthes auf dessen weiten und melancholischen Streifzügen durch ‚Pariser Abende‘: auf der Suche nach dem Glück und der Schönheit der Nacht. Ergänzt durch Fotografien aus dem Jahr 2015 (und die deutsche Übersetzung der „Soirées de Paris“ von Hans-Horst Henschen) ist dieses Buch ein einzigartiges Dokument einer Deutung des Pariser Stadtraums aus dem Blickwinkel zweier Autoren.