Paradoxale Portraits prominenter Persönlichkeiten

Ein fiktiver Autor geht dem Wesen der „kreativen Persönlichkeit“ anhand „literarisch-biografischer Miniaturen“ über „große Frauen“ nach

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das im custos verlag erschienene Bändchen „Große Frauen – Porträt der kreativen Persönlichkeit“ tritt mit einem Augenzwinkern an seine LeserInnen heran. Denn als Autor firmiert ein gewisser Ben Roeg, über den nichts weiter in Erfahrung zu bringen sei, als dass er vor langen Jahren „Senior-Gast-Student“ eines „Kreativitäts-Seminars“ Norbert Groebens war und in der Folgezeit irgendwann einmal eine „in der Tat sehr umfangreiche Hausarbeit“ bei dem Professor für Sprachpsychologie Norbert Groeben ablieferte. Weder vermag Groeben sich an seinen ehemaligen Gasthörer erinnern, noch findet sich dessen Name in seinen damaligen „Seminarunterlagen“. Auch eine Suche nach der Anschrift Roegs blieb erfolglos. Dies lässt nur den Schluss zu, dass es sich bei dem Namen Ben Roeg offenbar um ein Pseudonym handelt. So versichert Groeben zumindest im Vorwort zu der nun von ihm herausgegebenen Hausarbeit Roegs. Es ist dies allerdings eine bloß angebliche Hausarbeit, wie man sagen muss. Denn wahr an alledem ist allein, dass es sich bei dem Autorennamen um ein Pseudonym handelt. Man würde sicherlich kein allzu großes Wagnis eingehen, wollte man darauf wetten, dass sich hinter dem Decknamen, der zugleich ein Anagramm des Nachnamens des Herausgebers bildet, kein anderer als eben dieser selbst verbirgt.

Spielt Groeben auch mit Pseudonym, Anagramm und Autorennamen, so ist es ihm mit der zentralen Argumentation seines Vorwortes offenbar durchaus ernst. Sie beleuchtet die „Verbindung gegensätzlicher Persönlichkeitseigenschaften als Dialektik der Kreativität“. „Paradoxal“ und nicht etwa paradox sei diese „Eigenschaftsverbindung“ kreativer Menschen zu nennen, „weil es sich bei den Gegensätzen nicht um logische Widersprüche handelt, sondern um entgegengesetzte Eigenschaften, deren Gegenläufigkeit lediglich durch unsere (bisherige) gesellschaftliche Sozialisation zustande kommt“. Diese sei somit „keineswegs ein notwendiger Gegensatz“, sondern vielmehr ein „unnötiger, der zu Beschränkung führt – auf jeden Fall und zumindest in Bezug auf die Kreativität“. Zugleich aber handele es sich bei eben dieser die Kreativität beschränkenden Eigenschaftskonstellation um „das zentrale Charakteristikum der kreativen Persönlichkeit“. Anzumerken wäre vielleicht, dass selbstverständlich allen Menschen derartige paradoxale Eigenschaften innewohnen. Aber sind sie nicht alle auch kreativ? Die einen mehr, die anderen minder.

Jedenfalls kann Groeben zufolge die „Verbindung der polaren Einstellungen, Haltungen oder Fähigkeiten“ kreativer Persönlichkeiten „als (situationsbezogener) Dreischritt von These, Antithese und Synthese dargestellt werden“. Dies sei „exakt die Struktur“ deren sich Ben Roeg in seiner Hausarbeit bedient habe. Anliegen der angeblichen Hausarbeit, mithin des vorliegenden Bandes also, ist es nun, „kreative Eigenschaftsverbindungen“ der „kreativen Persönlichkeitsstruktur“ anhand von „biografischen Skizzen“ deutlich zu machen. Um von ihnen „in fiktional anschaulicher Weise erzählen“ zu können, greift der Autor zu einer Erzählstrategie, die er als „Real-Fiktion“ bezeichnet.

Dass die zwanzig „literarisch biografische[n] Miniaturen“ des Bandes ausschließlich kreative Frauen, nicht aber Männer vorstellen, begründet der Autor nachvollziehbar damit, dass auf diese Weise eine „Beschränkung aus der Genieästhetik überwunden“ werden kann, deren „übermäßige Konzentration auf männliche Kreative bis heute nicht selten dazu geführt hat, Frauen die Fähigkeit zur Kreativität weniger zuzuschreiben oder sogar gänzlich abzusprechen“. So soll das Büchlein auch dazu dienen, „an der Überwindung dieses völlig unberechtigten Vorurteils mitzuarbeiten“.

Die Einteilung des Bandes selbst folgt nicht etwa der erwähnten dialektischen Triade, sondern teilt die Portraits in die vier Gruppen „Von Innen“, „Nach Außen“, „Zum Du“ sowie „Und zur Gesellschaft“ auf. In jedem dieser Abschnitte werden fünf kreative Frauen vorgestellt, die allerdings nicht alle gleichermaßen berühmt sind. So finden sich neben Astrid Lindgren, Rosa Luxemburg, Irmtraud Morgner auch der „Engel von Sibirien“, Elsa Brändström-Ulich, oder die Fotografin Dorothea Lange. Jeder der Frauen ordnet der Autor in der Überschrift der ihnen gewidmeten Titel zwei einander paradoxal gegenüberstehende Eigenschaften, Stimmungen oder Empfindungen zu: Mascha Kaléko „Melancholie – Heiterkeit“, Niki de Saint Phalle „Schmerz – Freude“, Pina Bausch „Versagens-Ängste – Ich-Stärke“ oder Eileen Gray „Selbstkritik – Selbstbewusstsein“.

Der Sophie Scholl gewidmete Artikel wiederum steht unter der Überschrift „Emotionalität – Rationalität“, endet aber, als sei dies die Synthese beider, in einem Hohen Lied auf den Glauben, das sich bis hin zum religiösem Kitsch steigert.

In der internen Gliederung seines Textes über Lindgren – „Spielerische Kindheit“, „Erwachsene Reflexion“ und „Reflektiertes Spiel“ – wiederum macht der Autor die im Vorwort des Bandes erwähnte dialektische Struktur besonders deutlich.

Noch klarer tritt die Triade von These, Antithese und Synthese allerdings in dem Irmgard Morgner gewidmeten Text hervor, der zudem nicht etwa von Roeg (beziehungsweise Groebner), sondern von Morgner selbst stammt. Der Autor hat sich in ihrem Fall darauf beschränkt, diverse Auszüge aus dem Roman „Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz nach Zeugnissen ihrer Spielfrau Laura“ unter die drei Teile „phantastisch“, „realistisch“ und „phantastisch realistisch“ zu stellen.

Die Geschichte einer geistigen Emanzipation erzählt hingegen das Essay über Luise Victorie Gottsched. Es steht merkwürdiger Weise unter dem Titel „Auflehnung – Anpassung“, was die Entwicklung der Gottschedin geradezu auf den Kopf stellt.

Die drei Abschnitte der Else Lasker-Schüler gewidmeten Skizze stehen unter drei männliche Namen, deren Träger in den ersten beiden Fällen real sind (Karl Kraus und Franz Kafka), während Lasker-Schüler den dritten (Jussuf von Theben) ihrem literarischen Alter Ego verlieh. Sind die ersten beiden Abschnitte jeweils aus der Sicht von Kraus und Kafka erzählt, so der letzte aus derjenigen von Lasker-Schüler selbst.

Die wiederum drei Abschnitte des kleinen Textes über James Tiptree jr. tragen ebenfalls die Namen von (diesmal allerdings ausschließlich realen) Männern. Mit allen dreien hatte die unter einem männlichen Pseudonym schreibende SF-Autorin auf die eine oder andere Weise zu tun. Roeg (respektive Groebner) erlaubt sich den Scherz, den Namen eines jeden der drei Männer mit einem kleinen Schreibfehler zu verzieren und im Falle des dritten sogar noch Vor- und Nachnamen zu vertauschen. Die drei Abschnitte sind jeweils aus der Sicht eines dieser Männer verfasst und selbstverständlich steht das von Tiptree, hinter dem sich bekanntlich die Autorin Alice B. Sheldon verbirgt, via Pseudonym betriebene Geschlechterspiel im Mittelpunkt des Textes. Ganz nebenbei bietet Roeg zudem diverse interpretierende Anmerkungen zu einigen ihrer Erzählungen.

Meist sind die Portraits zwar in der dritten Person, dabei jedoch ganz aus der Sicht, wenn nicht dem Innern der jeweils infrage stehenden kreativen Frau geschrieben. Gelegentlich nähert sich der Autor jedoch auf anderen Wegen seinen Protagonistinnen. Zu Astrid Lindgren findet er einen durchaus originellen Zugang, indem er einen Studenten an einer ihr gewidmeten Powerpoint-Präsentation feilen lässt. Nach diesen Vorüberlegungen für eine studentische Präsentation wirkt die Vorbereitung eines Lehrers auf die abschließende Kunst-AG einer Abiturklasse nur noch als Variante ersterer und somit allenfalls mäßig originell. Und die Würdigung Marie Jahodas als Schreiben eines Wissenschaftlers an das „Redaktionsteam“ einer studentischen „online-Zeitschrift“ zu inszenieren, erscheint etwas aufgesetzt.

Dennoch sind die Portraits in der Regel durchaus recht unterhaltsam geschrieben und – weit wichtiger noch – dazu geeignet, Neugierde auf das Wirken der Frauen zu wecken. Das ist vielleicht sogar ein schlagenderes Argument dafür, zu dem Buch zu greifen, als das Anliegen des Autors selbst, anhand der Portraits die Berechtigung seiner Rede von der paradoxalen Eigenschaftsverbindung der kreativen Persönlichkeit zu plausibilisieren.

Titelbild

Ben Roeg: Große Frauen – Portraits der kreativen Persönlichkeit. Literarisch-biografische Miniaturen.
custos verlag, Solingen 2015.
210 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783943195149

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