Der Feldzug um die Seelen

Das von Sabina Becker, Robert Krause und Reiner Marx herausgegebene „Jahrbuch zur Kultur und Literatur der Weimarer Republik“ befasst sich in einem Themenband mit dem „Epochenjahr 1914“

Von Julian NordhuesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julian Nordhues

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Romane wie „Im Westen nichts Neues“ prägen noch heute das populäre Bild des Ersten Weltkriegs vom Leben, Töten und Sterben an der Front. Die Veröffentlichung von Erich Maria Remarques Roman Anfang 1929 markierte einen Höhepunkt in der literarischen Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg in der Weimarer Republik. Die von allen politischen Lagern geführte Debatte um den Roman beschränkte sich nicht auf den Bereich der Literaturkritik allein, sondern warf Fragen nach einer gesellschaftlichen und politischen Wirkungsweise von Literatur insgesamt auf. Remarque sah sich für seine kriegskritische Darstellung scharfer Kritik ausgesetzt – und dies nicht nur aus dem rechten politischen Spektrum. So warf Karl Hugo Sclutius dem Roman in einem Artikel in der „Weltbühne“ vor, die Beschreibung der Kriegsschrecken könne Menschen, insbesondere die Jugend, für den Krieg begeistern. Autoren wie Kurt Tucholsky und Carl von Ossietzky verteidigten „Im Westen nichts Neues“ als Beitrag zu einer Debatte über das gesellschaftlich Sagbare in einer (noch) demokratischen Gesellschaft und begrüßten, dass ein pazifistisches Werk Millionen von Lesern erreichen konnte. Deutlich wurde den Zeitgenossen, dass der Kampf um die Deutung des Kriegs – der „Feldzug um die Seelen“, wie sich Sclutius ausdrückte – zu einem großen Teil innerhalb literarischer Darstellungen stattfand.

Was wissenschaftlich als Erinnerungsliteratur gilt, diente zur Zeit ihrer Entstehung der Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg und der politischen Deutung. Doch gerade die Entstehungszusammenhänge und Wirkungsweisen dieser Erinnerungsliteratur, die gesellschaftlichen, kulturellen und publizistischen Diskurse um die Bewertung des Kriegs sind weniger bekannt. Daher ist es zu begrüßen, dass sich der interdisziplinär ausgerichtete Themenband „Das Epochenjahr 1914 und die Weimarer Republik“ des „Jahrbuchs zur Kultur und Literatur der Weimarer Republik“ mit dem Verhältnis der Weimarer Republik zum Ersten Weltkrieg auseinandersetzt. Die naheliegende Verbindung von Geschichts- und Literaturwissenschaft wird im Themenband beispielhaft umgesetzt.

Den Aufsatzteil des Bandes leitet Sabina Becker mit einem Text über das Aufbrechen konventioneller Rollenverhältnisse der Geschlechter durch den Krieg ein. Frauen hatten im Krieg an der Heimatfront neue Rollen und Arbeitsfelder übernommen und auch die Vorstellungen von Weiblichkeit änderten sich. Doch „dass sich das Deutsche Reich von der männlichen Monarchie zur weiblichen Republik entwickelte, die Epoche von Weimar stark weiblich konnotiert, die sie prägende Kultur in vielem eine feminine ist, dürfte kaum zu bestreiten sein“, so Becker.

Während George L. Mosse die These vertrat, die Gesellschaft von Weimar sei vom Willen getrieben gewesen, einen neuen, stahlharten Typus von Mann und dessen literarische Entsprechung auferstehen zu lassen, präsentiert Becker in ihrem Artikel einen anderen Befund. Sie konstatiert, dass von „einer breiten Etablierung und Bestätigung einer militärischen Maskulinität in der Weimarer Republik“ keine Rede sein könne. Die Kriegserfahrung hätte das preußisch-militärische Männlichkeitsideal nachhaltig erschüttert. In der Literatur der 1920er-Jahre seien auch weniger in „Stahlgewittern“ abgehärtete Männerfiguren dominant als beispielsweise traumatisierte und körperlich beschädigte Antihelden. Becker schätzt die Zahl der nationalkonservativen und kriegsbejahenden Autoren als kaum repräsentativ für die Kultur und Literatur der Weimarer Republik ein und folgert: Die „Gesellschaft der Weimarer Republik scheint durch die Traumata eines industrialisierten Krieges und der technisierten Massenvernichtung geprägt“.

Becker bezieht sich auf Beispiele aus der Kultur und Ästhetik der Neuen Sachlichkeit, der Revue-, Tanz- und Girlkultur, dem Kabarett, dem modernen Ausdruckstanz. Für den literarischen Bereich werden jedoch überraschenderweise viele Werke von dezidiert nationalistischen und rechtskonservativen Autoren zitiert, die schwerlich als Argument für eine „weibliche Republik“ gelten können.

Abseits von Kunst und Hochkultur ist es zweifelhaft, ob die dominanten politischen und gesellschaftlichen Diskurse wie zum Beispiel die Remilitarisierung und der Revanchismus tatsächlich Beckers These der Verweiblichung zulassen. Auch die Auflagenzahlen im literarischen Bereich sprechen nicht für eine Beseitigung der „militärischen Maskulinität“. Neben Abenteuergeschichten von Karl May verkauften sich kriegsverherrlichende soldatische Heldengeschichten beispielsweise von Walter Flex und Manfred von Richthofen besonders gut. Angesichts der tonangebenden politischen Verbände und Parteien – für Linke wie Rechte sei laut Gerd Krumeich „die vorherrschende öffentliche Kom­mu­ni­ka­tions­form […] das Marschieren in Reih und Glied, das Einordnen des Individuums in einen kollek­ti­ven ‚Körper‘“ gewesen – drängt sich die Frage auf, ob Verweiblichung nicht als gesamtgesellschaftliches Phänomen, sondern vor allem im linken Körperdiskurs und in der Hochkultur griff. Eine differenzierte Betrachtung der unterschiedlichen Milieus, insbesondere der Arbeiterschaft, hätte sicherlich andere Ergebnisse hervorgebracht.

Um ganz konkrete Versuche der Beeinflussung der Öffentlichkeit geht es im Beitrag von Florian Brückner. Er befasst sich mit der literarischen Politisierung des Kriegserlebnisses durch Kriegsliteratur, die vom 1919 gegründeten Reichsarchiv herausgegeben wurde. Das Reichsarchiv formierte sich unter Umgehung der Bestimmungen des Versailler Vertrags als direkte Nachfolgeeinrichtung einer mit der kriegsgeschichtlichen Arbeit befassten Institution innerhalb des deutschen Generalstabs – mit den entsprechenden personellen und ideologischen Kontinuitäten.

Die amtliche Kriegsgeschichtsschreibung des Reichsarchivs hatte sich zum Ziel gesetzt, nicht nur militärische Rechtfertigungsliteratur, sondern auch Ideologieproduktion im Sinne des nationalistischen Revanchegedankens anzubieten. Im Zentrum dieser Bemühungen stand der ehemalige Offizier George Soldan, der 1920 seine Arbeit als Leiter des Referats für volkstümliche Geschichtsschreibung aufnahm: „Soldan war es, der als Erster die pädagogischen und sozialintegrativen Möglichkeiten erfasste, die vor allem mit den stilisierenden Mitteln einer literarisch vermittelten Kriegsdeutung zu erreichen war“, so Brückner. Wie zielgerichtet und umfassend die geschichtspolitische Beeinflussung angelegt war, geht aus Soldans Denkschriften hervor, in der er eine Abkehr von militärwissenschaftlicher hin zu einer spannungsreichen und massenkompatiblen Darstellung der Kriegsereignisse fordert. Die Perspektive „von unten“, also die vermeintlich authentischen Erfahrungen einfacher Frontsoldaten, sollte Vorrang vor einer reinen Beschreibung der Kriegsoperationen aus der Sichtweise des Generalstabs haben. Aus diesem Grund rief das Reichsarchiv zur Einsendung von Dokumenten wie Feldpostbriefen und Tagebüchern auf. Die so angesammelte Datenmenge sollte dem Archiv die Deutungshoheit über das Kriegserlebnis sichern.

In der manipulativen Erinnerungspublizistik des Reichsarchivs wurde der Versuch unternommen, das literarische Narrativ der „Frontgemeinschaft“ der Soldaten in das Bild der nationalistischen „Volksgemeinschaft“ zu überführen. Auch der Typus des starken „Führers“ war Bestandteil der Geschichtspolitik des Reichsarchivs: „So ist die in der Weimarer Republik mit den Händen zu greifende Erwartung eines Führers nicht zuletzt als über die Literatur ventiliertes Konstrukt zu verstehen“, resümiert Brückner.

Besonders im Kriegsroman der Weimarer Republik wurde um die Deutung des Kriegs und seiner Ursachen gerungen. Anhand von sieben exemplarischen Romanen untersucht Klaus Wieland die politischen Reflexionen vor dem Hintergrund unterschiedlicher politischer Einstellungen der Autoren. Analysegrundlage sind Ernst Jüngers „In Stahlgewittern“ (1920), Ernst Glaesers „Jahrgang 1902“ (1928), Ludwig Renns „Krieg“ (1928), Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“ (1929), Werner Beumelburgs „Gruppe Bosemüller“ (1930), Edlef Köppens „Heeresbericht“ (1930) und Adam Scharrers „Vaterlandslose Gesellen“ (1930). Wieland versteht das Politische als Kategorie des sozialen Handelns in Bezug auf die Regelung des gesamtgesellschaftlichen Systems. Die Betrachtung von mikrosozialen Strukturen – das Verhältnis des Soldaten zur Familie oder die „Front“- und „Schützengrabengemeinschaft“ – fällt nicht unter diese Definition.

Im Fokus von Wielands Betrachtung steht die die individuelle Wandlung der Protagonisten, die anhand der Bewertung und Äußerungen zu bestimmten ideologischen Narrativen („Augusterlebnis“ oder die „Ideen von 1914“) nachvollzogen wird. Die Raumstruktur, also die zentralen Handlungsorte, die sich durch alle Romane ziehen, gibt dabei den formalen Rahmen. Häufig folgen die Erzählungen der schematischen Abfolge: Der Protagonist zieht in den Krieg, erlebt exzessive Gewalt und stellt die Sinnfrage. Wieland bilanziert: „Zwei naheliegende politische Fragen – Welche Ursachen hat der Erste Weltkrieg? Wie werden der Krieg und die Niederlage ideologisch gedeutet und verarbeitet? – bleiben in den meisten Texten ausgespart oder werden nur flüchtig gestreift.“ Worum geht es dann in den Romanen? Nach Wieland war es das zentrale Anliegen der Texte, zu zeigen, wie schwierig das psychische und physische Überleben im industrialisierten Krieg war. Angesichts der Verschiedenartigkeit der literarischen Texte und der politischen Verortung der Autoren erscheint diese Analyse sehr verkürzt. Auch wenn sich in den Romanen wiederkehrende Motive wie Heimweh, Hunger, Langeweile, Todesangst finden lassen, weisen doch besonders die untersuchten kriegskritischen Romane durchaus differenziertere Interpretationsmuster des Kriegsgeschehens auf. Doch gerade für diese Texte befindet Wieland, der Pazifismus sei „humanistisch und nicht politisch begründet, was letztlich zu seinem Scheitern führt“.

Kai Bleifuß untersucht zwei Kriegsromane, in denen die politischen und ökonomischen Kriegsursachen und deren Interpretation im Vordergrund stehen. Bei Erik Regers „Union der festen Hand“ (1931) und Rudolf Brunngrabers „Karl und das zwanzigste Jahrhundert“ (1932) spielt die Beschreibung des Kriegsgeschehens an der Front nur eine untergeordnete Rolle.

Bleifuß greift einen Artikel Arnold Zweigs aus der „Weltbühne“ von 1929 auf, in dem dieser, ähnlich wie Karl Hugo Sclutius, darauf hinweist, dass in der (Kriegs-)Literatur Darstellungen der Grausamkeiten des Kriegs nicht mehr auf Publikationen der kriegskritischen und pazifistischen Bewegung beschränkt seien. Vielmehr hätte das rechte Lager diese Darstellungsformen, die eigentlich als Abschreckung und Aufklärung gedacht waren, bereits in ihrer Literatur zugelassen. Zweig forderte von kriegskritischen Werken eine Aufdeckung der wirtschaftlichen Ursachen und des Zusammenspiels von Krieg und Profit.

Erik Reger beschreibt in „Union der festen Hand“ den Wandel der deutschen Schwer- und Rüstungsindustrie von einer „dienenden Funktion“ hin zu einer Machtinstitution, die eigene Regeln aufstellte und deren „Industriekapitäne“ in der Propaganda wie Heerführer glorifiziert wurden. Die (Kriegs-)Wirtschaft konnte sich durch den Krieg von ihren Bindungen an die Politik befreien und geht als Nutznießer gestärkt aus ihm hervor. Rudolf Brunngrabers Protagonist Karl hingegen erlebt die Freiheit der Märkte schon vor Beginn des Weltkriegs. Der eigentliche „Ausbruch“ des Konflikts ist nur der Beginn eines „ultimative[n] Konjunkturprogramms“, wobei der Ausgang völlig irrelevant für die Wirtschaft ist. Brunngraber schildert den internationalen Handel der Rüstungsindustrien, der dazu führte, dass britische Kriegsschiffe mit optischen Instrumenten der Firma Zeiss auf deutsche Schiffe zielen konnten und Soldaten vor Verdun im Stacheldraht der Magdeburger Draht- und Kabelwerke starben.

Die weiteren Aufsätze des Bandes thematisieren beispielsweise das nationalistische Volkslied, Themen und Motive der Weltkriegsdramatik oder die Rolle Kurt Tucholskys im Krieg, die literarische Erinnerungspublizistik steht jedoch im Vordergrund. Der Themenband verdeutlicht, wie besonders Ende der 1920er-Jahre in der Weimarer Republik die Verflechtungen von Literatur und Politik an Wichtigkeit zunehmen: Das Medium Literatur und die literarische Debatte eröffneten innerhalb der scharf und emotional geführten Debatte um die Deutung des Kriegs Möglichkeiten zur Reflexion der eigenen sozialen Lage und des politischen Standpunkts der Rezipienten.

Die bedeutende Rolle literarischer Kommunikation bei der Erschließung neuer Leserschichten und als wichtiger Teil der gesellschaftlichen Entwicklung in der Weimarer Republik zeigt sich besonders deutlich am Beispiel des Diskurses um die Kriegsdeutung. Erfreulich ist die Tendenz der Aufsätze, sich nicht nur auf kanonisierte Werke zu stützen, sondern auch heute weniger bekannte Bücher und Autoren vorzustellen. In Bezug auf die kriegskritischen literarischen Auseinandersetzungen motivieren die Aufsätze zu weiterführenden Fragenstellungen, beispielsweise würde sich eine milieu- und schichtenspezifische Untersuchung anbieten.

Titelbild

Sabina Becker / Robert Krause / Reiner Marx (Hg.): Jahrbuch zur Kultur und Literatur der Weimarer Republik.
Bd. 16 (2013/2014).
edition text & kritik, München 2014.
286 Seiten, 32,00 EUR.
ISBN-13: 9783869163864

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