Handbuch zur Handschrift

Norbert Wolfs „Buchmalerei verstehen“ bietet mehr

Von Alissa TheißRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alissa Theiß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit seinem 2014 im Primus-Verlag erschienen Einführungswerk Buchmalerei verstehen möchte der Autor dem „Nichtspezialisten“ einen Überblick über diese herausragende Bildgattung des Mittelalters geben. Vorgestellt werden die wichtigsten Materialien, Techniken und Gestaltungsmethoden wie auch die unterschiedlichen Aufgaben und Rezeptionsformen des Mediums Buchmalerei. Wolf steigt ein mit einem Zitat des 1962 von Marshall McLuhan geprägten Begriffs der „Gutenberg-Galaxis“, des als geschlossener Raum verstandenen Zeitabschnitts, in welchem das Medium des gedruckten Buchs das vorherrschende, häufig einzige, war. Er beschreibt das nahende Ende der Gutenberg-Galaxis durch die modernen Medien, allen voran des Internets. Doch hier soll es um die Zeit vor der Gutenberg-Galaxis gehen, in der eine Handschrift immer ein Original und Unikat darstellte. Ein Ding, das von einer „Aura der Einmaligkeit“ umgeben war. Wolf möchte mit seiner Einführung dazu beitragen, das von der Gattung Buchmalerei mitgetragene kulturelle Gedächtnis auch für „Laien“ verstehbar zu machen.

Die Publikation besticht durch ihr unkonventionelles Layout und eine relativ hochwertige Aufmachung. Alle Abbildungen sind in Farbe wiedergegeben. Wichtige Schlagwörter aus dem Text finden sich als Marginalien in roter Schrift am Seitenrand, ganz wie bei einer mittelalterlichen Handschrift. Das Buch ist in neun Kapitel gegliedert, die sich den unterschiedlichen Aspekten der Manuskriptproduktion widmen. Im Vergleich zu Stephanie Hauschilds Skriptorium, das einen groben Überblick über den Themenbereich bietet, ist Wolfs Handbuch um einiges profunder und vor allem fachwissenschaftlicher geschrieben. Das geht zuweilen auf Kosten der Allgemeinverständlichkeit und setzt ein gewisses Maß an Vorkenntnissen voraus. Zwar werden die wichtigsten Fachtermini gleich zu Beginn erläutert, viele Begriffe werden aber auch als bekannt vorausgesetzt. Ein im Klappentext innen und auf der Rückseite angekündigtes Glossar ist im Buch bedauerlicherweise nicht vorhanden. Bestimmte Begriffe, Namen und Handschriftentitel sind im Fließtext mit Pfeilen gekennzeichnet. Sie finden sich jeweils auch, wie bereits angedeutet, am Rand, sind aber nicht immer identisch mit den „bepfeilten“ Lemmata. Warum sie herausgehoben sind, erschließt sich nicht direkt. Vielleicht dienen sie als Gliederungshilfe. Möglicherweise waren sie aber auch für das Glossar vorgesehen.

Das erste Kapitel widmet sich, wie sollte es anders sein, der Geschichte der Buchmalerei. Die Kunst des Illuminierens war, so Wolf, in allen Kulturkreisen gebräuchlich, die Bücher oder funktionell vergleichbare Medien als Informationsträger kannten. Sein Buch beschränkt sich jedoch räumlich auf die abendländische Buchmalerei. Besonders ausführlich wird auf die Kulturräume Frankreich, Deutschland und Italien sowie die Britischen Inseln eingegangen. Zeitlich umfasst die Darstellung den Zeitraum vom Beginn der ersten handgeschriebenen Bücher in der Spätantike bis zu ihrem allmählichen Verschwinden in der Frühen Neuzeit. Alle Epochen von den ersten Höhepunkten der insularen Buchkunst, wie dem Book of Kells, über die Karolingerzeit, die Ottonik, Romanik und Gotik werden in chronologischer Abfolge und unterschiedlicher Ausführlichkeit behandelt.

Im dritten Kapitel werden die Materialien, die zur Buchherstellung nötig waren, eingehend besprochen. Darunter fallen sowohl die Tinten und Farben einschließlich ihrer Rezepte, wie auch die Beschreibstoffe Pergament und Papier, auf deren geschichtliche Entwicklung und Herstellungstechniken ausführlich eingegangen wird. Die verschiedenen Phasen der Handschriftenherstellung werden detailliert anhand der Eingangsseite der Bamberger Ambrosius-Handschrift vorgestellt, auf der sich Tintenzeichnungen aller Arbeitsschritte finden. Leider ist die entsprechende Seite nicht abgebildet, was die Aussagekraft dieses Abschnitts deutlich schmälert. Bedauerlicherweise handelt es sich dabei um ein wiederkehrendes Phänomen. Auch die ausführliche Beschreibung des goldenen Prunkeinbands des Codex Aureus bleibt ohne Abbildung. Für den Leser kann dieses Vorgehen richtig frustrierend werden, wenn der Autor die Miniaturen des Leidener Aratus in aller Ausführlichkeit beschreibt und ihre Exklusivität preist, man sie aber nicht zu Gesicht bekommt. Regelrecht ironisierend wirkt es dann, wenn im Text steht „betrachtet man ein Blatt, wie fol. 31r im Egbert-Codex“, auf dem sich die dargestellten Figuren anscheinend „als unvergessliche Gestaltformeln“ geben, wenn dazu keine Abbildung geliefert wird, auf der man das überprüfen könnte. Auf die 30 großformatigen, teils ganzseitigen Farbabbildungen wird dagegen im Fließtext kaum Bezug genommen. Auf Abbildungen, die nicht in unmittelbarer Nähe zu ihrer Erwähnung reproduziert sind, wird nur unregelmäßig verwiesen. Dafür gibt es eine Vielzahl an kleinen Bildausschnitten in Form eines aufgeschlagenen Buchs, die sich ohne jegliche Bildunterschrift am Rand vieler Seiten tummeln, fast so wie die Drolerien, über deren Sinn und Zweck in der Forschung viel diskutiert wurde, wie im achten Kapitel dargestellt. Die Aussagekraft dieser buchförmigen Mini-Ausschnitte jedenfalls erschließt sich nicht ohne weiteres.

Nach einem Abschnitt über die teuren und oft schwer zu beschaffenden Materialien, wird auch auf den ideellen und materiellen Wert von Handschriften eingegangen. Neben der Aufgabe, ein Repräsentationsobjekt zu sein, konnte ein Codex auch als Wertanlage dienen. So entsprach, wie Wolf darlegt, in Italien gegen Ende des 14. Jahrhunderts der Wert selbst einer billigen medizinischen Handschrift den Lebenshaltungskosten von etwa einem viertel Jahr.

Darauf folgt eine Besprechung der verschiedenen Buchgattungen. Als grundlegende Einteilung fungiert die Unterscheidung in sakrale und weltliche Inhalte, wenn auch eine klare Trennung beim Multifunktionswunder Handschrift nicht immer möglich ist. Wolf stellt zunächst die einzelnen Typen sakraler Handschriften vor. Es werden sowohl die liturgischen Bücher (Evangeliare, Missale, Breviere, Antiphonare etc.) vorgestellt, wie auch die zur privaten Andacht gedachten Gebet- und Stundenbücher. Unter die Handschriften weltlichen Inhalts fallen astronomische, pharmakologische und naturkundliche Traktate. Dem Physiologus und dem Tacuinum Sanitatis sind jeweils längere Passagen gewidmet. Generell werden immer herausragende Beispiele des jeweiligen Buchtyps genannt und zwar mit Signatur und Aufbewahrungsort.

Auch kunstsoziologische Aspekte bleiben nicht unbehandelt. Ihnen ist das sechste Kapitel gewidmet, in dem unter anderem die Entwicklung von der Buchherstellung in klösterlichen Skriptorien hin zu weltlichen Werkstätten nachgezeichnet wird. Beispielhaft für eine Karriere als Buchmaler wird die Geschichte der Brüder Limburg erzählt. Es folgt die Vorstellung der wichtigsten Handschriften besitzenden Bibliotheken und ihrer Geschichte, der Bibliothèque Royale in Brüssel, in Deutschland der Palatina in Heidelberg oder der Bayerischen Staatbibliothek in München, und als Beispiele für Italien die Humanistenbibliothek in Florenz und die Vaticana in Rom. Die Bibliotheken werden hier zu Recht als Hüter des kulturellen Gedächtnisses des Abendlandes apostrophiert.

Erst jetzt folgt das mit „Elemente der Gestaltung“ überschriebene Kapitel, in dem neben einem Abriss der einzelnen Schriftarten und ihrer Entwicklung von spätantiker Capitalis über die karolingische Minuskel, die gotischen Schriftformen bis hin zu den Humanistenschriften der Renaissance, nun – fast möchte man sagen: endlich – ganz konkret auf die Buchmalerei eingegangen wird. Neben Komposition und Bildaufbau werden die Entwicklung der Initiale nachgezeichnet und ihre vier Haupttypen vorgestellt: Die Initiale mit Besatzornament oder mit Füllornamentik, die Initiale als eigenständiges ornamentales Gebilde sowie die historisierte Initiale, wobei nur die Typen 1-3 durchnummeriert sind, die letztgenannte dafür aber mit einem Verweis auf ein Bildbeispiel versehen ist.

Das neunte und letzte Kapitel gibt schließlich noch einen Überblick über die Rolle der Buchmalerei zu Zeiten des Buchdrucks. Hier wird das neue Medium beispielhaft an seinem Einsatz durch Maximilian I. erläutert. Die Produktion illuminierter Manuskripte läuft um 1520 aus und kommt 20 Jahre später völlig zum erliegen. Warum dem so ist, bleibt bis heute, so Wolf, „relativ rätselhaft“.

Das Buch endet mit einer Literaturliste, in der die einschlägigen Werke zu jedem Kapitel angeführt werden. Auf einen Anmerkungsapparat wurde aufgrund des Handbuchcharakters verzichtet.

Generell liest sich „Buchmalerei verstehen“ fast wie eine Vorlesung. Formulierungen wie „wie wir hörten“ verstärken diesen Eindruck. Dadurch wirkt die Darstellung sehr lebhaft und alles andere als trocken. Enthusiasmus ist dem Autor anzumerken, wenn die lobpreisenden Formulierungen mit ihm durchzugehen drohen, zum Beispiel in Form von Superlativhäufungen und wenn von Botticellis „unerhört sensibler und zarter“ Linienführung die Rede ist oder wenn frühmittelalterliche Teppichseiten „Bewunderung erregen“, wo „das Auge über ihre formalen Finessen gleitet“.

Alles in allem also ein sehr empfehlenswertes Überblickswerk, in dem nicht nur dezidiert auf die Buchmalerei als solche, sondern auch auf alle wesentlichen Punkte der Buchproduktion eingegangen wird. Das ist nicht nur sinnvoll und wichtig, sondern von zentraler Bedeutung, um zu zeigen, dass die Buchmalerei „integraler Bestandteil eines ästhetisch gestalteten und inhaltlich wie formal durchkomponierten Gesamtorganismus“ ist, wie Wolf im Vorwort zu seinem Buch schreibt.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Norbert Wolf: Buchmalerei verstehen.
Primus Verlag, Darmstadt 2014.
208 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783863123758

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