Was den Mensch zum Menschen macht

Georges Bataille huldigt in „Der große Zeh“ einem zu Unrecht vergessenen Körperteil

Von Tobias SchmidtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tobias Schmidt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ziehen Sie jetzt bitte ihren Schuh aus und anschließend ihre Socke oder ihre Strumpfhose. Betrachten Sie ihren großen Zeh. Was sehen Sie? Einen unförmigen, zu großen oder zu kleinen, deformierten oder einfach normal gewachsenen, behaarten oder hornhautbewehrten Zeh? Haben Sie sich schon einmal Gedanken über Ihren großen Zeh gemacht? Überhaupt über das Wesen des großen Zehs und ihm eine für die Entwicklung des Menschen maßgebliche Rolle zugetraut? Nun, Georges Bataille hat es getan. 1929 erschien in der Nummer 6 der Zeitschrift Documents sein Text Le gros orteil/Der große Zeh, der nun vom kleinen Berliner Verlag Edition Blauwerke in einer handlichen (Format A6) wie schönen zweisprachigen und mit einem umfangreichen Kommentar von Valeska Bertoncini versehenen Ausgabe erstmals auf deutsch vorgelegt wird. Das Buch ist der erste Band der Reihe Splitter, in der auch schon Texte von Hans Jürgen von der Wense und T. E. Lawrence (von Arabien) erschienen sind, zu Preisen zwischen ein und zwei Euro.

Batailles kulturkritische wie hochgradig ironische Apologie des großen Zehs eignet sich sehr gut als Eröffnung der Reihe, denn wie einen Splitter treibt Bataille die Bedeutung des großen Zehs in den Kopf des Lesers hinein, wo sich der intellektuelle Schmerz gleich einer Erleuchtung ausbreitet. Im ersten Satz schon erklärt Bataille den großen Zeh zum „menschlichst[en] Teil des menschlichen Körpers, kein anderes Merkmal dieses Körpers unterscheidet sich nämlich so deutlich von dessen Entsprechung beim Menschenaffen“. Denn erst die Stellung des großen Zehs ermöglicht den aufrechten Gang, indem er den Körper stützt. Und doch verachtet der Mensch diese Großtat seines Zehs, „steckt ihm doch dieser Fuß im Dreck“ und ist damit allzu weit vom nun hocherhobenen Kopf entfernt. Und weil der Fuß samt großer Zehe so tief im Dreck steckt, gehört er einer niederen Ordnung an, ist dem Bösen verwandt, der Hölle.

Neben seiner kulturgeschichtlichen Argumentationslinie, die ja die evolutionäre Relevanz des großen Zehs bei gleichzeitiger Tabuisierung dieses „burlesken“ Körperteils betont, weist Bataille auch auf seine psychologische Dimension hin, denn „dass ein Zeh in seiner mehr oder minder erniedrigenden Ungestaltheit psychologisch für den brutalen Fall eines Menschen stehen kann, mit anderen Worten: für den Tod“, hat unmittelbar mir seiner dreckbehafteten Wirklichkeit zu tun. Ein „Aufruhr des Körpers“ wird für Bataille im „Anblick des großen Zehs“ deutlich; er meint damit, wie er am Ende seines Textes schreibt, „eine Rückkehr zur Realität [ohne ein] irgend erneuertes Bekenntnis zu ihr“. Es ist das Plädoyer für die ästhetische Eigenwertigkeit körperlicher Erscheinungen vor jeder poetischen Überformung und damit einer dem Körper entkörperlichenden Geste. Georges Bataille regt eine neue Praxis des Sehens an, des (An)Blicks, an der ein (auch sexuelles) Element von Verführung beteiligt ist: „sich niedrig verführen zu lassen“, das meint auch und vor allem sich von natürlichen, noch (scheinbar) unbelasteten Dingen intellektuell und ästhetisch affizieren zu lassen.

Dem Text sind auch jene drei Fotografien beigegeben, die schon den Text in Documents begleitet haben. Sie zeigen je eine stark vergrößerte große Zehe (zwei männliche, eine weibliche), deren Wirkung etwas Aufdringliches, den eigenen Körper angehendes zu eigen ist und damit jene Affektion (re)produziert, die der Text beschreibt.

Der profunde Kommentar von Valeska Bertoncini gibt Batailles Text einen gebührenden Rahmen und verortet ihn nicht nur im Kontext des Werks und seiner Zeit, sondern zeigt auch, wie sich Bataille gegenüber den Surrealisten, den maßgeblichen Avantgardisten seiner Zeit, deren Stern aber bereits im Sinken begriffen ist, abzusetzen versucht. Und wie vor allem André Breton sich angegriffen zeigt und seinerseits gegen Batailles ästhetisches Programm agitiert. Gegen den surrealistischen Traum, eine gewisse Virilität und den Glauben an den Zufall setzt Bataille auf die Kraft des Realen, das Wirkliche und Konkrete, auf die Präsenz körperlicher Erfahrungen. Hat der Surrealismus die Übertragung realer Phänomene in höhere ästhetische Sphären vorangetrieben und damit der Welt abgeschworen, so wollte Bataille „aus dem Gefängnis der Repräsentation“ ausbrechen, ohne dabei aber „ein positivistisches, möglichst treues Dokument einer unverstellten Wirklichkeit“ abzugeben. Es geht in den Texten Georges Batailles immer auch um das Heraustreiben der obsessionellen Komponente menschlichen Begehrens.

Titelbild

Georges Bataille: Der große Zeh.
Blauwerke Verlag, Berlin 2015.
82 Seiten, 1,00 EUR.
ISBN-13: 9783945002001

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