„Ich bin nicht Mann, ich bin nicht Frau, ich bin ich“

Die Ausstellung „Sturm-Frauen“ in Frankfurt zeigt die schöpferische Kraft der weiblichen Avantgarde

Von Katharina RudolphRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katharina Rudolph

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Schade, daß gnädige Frau nicht mehr malen!“, heißt es in der Bildunterschrift einer Zeichnung in der Satire-Zeitschrift „Simplicissimus“ aus dem Jahr 1898. Auf der Darstellung zu sehen sind ein Mann und eine Frau, er im Hintergrund ein Bild an der Wand betrachtend, sie im Vordergrund in einem Sessel lehnend. „Wissen Sie, das ging so zu“, erläutert die Frau. „Als ich endlich so viel gelernt hatte, um ein holländisches Bild täuschend imitieren zu können, da kam die Freilichtmalerei auf. Ich sattelte sogleich um und lernte Kohlfelder in Mittagssonne malen. Kaum hatte ich es darin zu einer gewissen Vollendung gebracht, da kam die Mode des Symbolismus zu uns. Ich schloß mich in mein Atelier ein und malte verhungerte Engel. Dann wurden im letzten Frühjahr die alten Meister wieder modern. Da ist mir die Geschichte zu dumm geworden: ich habe mein Talent entdeckt und mir einen Mann gesucht.“

Offenbar  trauten selbst die sich ansonsten so fortschrittlich gerierenden Autoren des „Simplicissimus“ den malenden Frauen um die Jahrhundertwende wenig zu. Im wilhelminischen Bürgertum wurden sie ohnehin belächelt oder gar verpönt. Zwar gehörte Zeichenuntericht zum Erziehungsrepertoire für junge Mädchen aus gutem Hause, doch blieb eine berufliche Laufbahn als Künstlerin fast allen Frauen versperrt. Bis nach dem Ersten Weltkrieg durften sie, von einigen Ausnahmen abgesehen, in Deutschland keine staatlichen Akademien besuchen, konnten sich allenfalls in teuren Privatschulen oder im Kunstgewerbe ausbilden lassen. Dass Frauen in der Vergangenheit aber, trotz dieser und vieler anderer Einschränkungen, herausragende Werke schufen, ist besonders in den letzten Jahren in Ausstellungen und deren Publikationen mit großem Engagement aufgearbeitet worden. Um nur einige wenige zu nennen: Das Lenbachhaus in München etwa zeigte 2014 erstmals in Deutschland eine Retrospektive über die Amerikanerin Florine Stettheimer, die Schirn Kunsthalle in Frankfurt präsentierte im selben Jahr die in Finnland geborene Helene Schjerfbeck und die Kunsthalle in Bielefeld inszenierte das Werk von Sophie Taeuber-Arp. Mittlerweile scheint es, als seien Ausstellungen über Künstlerinnen, insbesondere der klassischen Moderne, geradezu hip geworden. Sind sie also längst Mainstream, diese Schauen? Ein bisschen langweilig, ein bisschen abgenutzt?

In Frankfurt hat die Kunsthistorikerin Ingrid Pfeiffer der weiblichen Geschichte der Moderne, die noch lange nicht geschrieben ist, ein weiteres, fulminantes Puzzlestück hinzugefügt. Noch bis zum 7. Februar kann in der Schirn die Ausstellung „Sturm-Frauen. Künstlerinnen der Avantgarde in Berlin 1910-1932“ besucht werden. Fast 300 Werke von achtzehn Künstlerinnen sind dort versammelt. Was diese Frauen verbindet, ist nicht allein ihr Geschlecht und ihr Talent, sondern auch, dass sie alle Teil des „Sturms“ waren, einer Marke, eines Netzwerks, begründet und angeführt vom Berliner Verleger Herwarth Walden. Ab 1910 brachte er die Zeitschrift mit dem Titel „Der Sturm“ heraus, es folgten ein Verlag, eine Galerie, eine Kunstschule, eine Bühne, eine Buchhandlung, Theaterabende. Schluss mit dem Alten, Überkommenen, her mit dem Neuen, Revolutionären. Das war Waldens ästhetisches Credo. Um ihn versammelten sich die bedeutenden Vertreter der literarischen und künstlerischen Avantgarde, unter ihnen die heute weltberühmten Maler und Malerinnen Marc Chagall, Wassily Kandinsky, Gabriele Münter, Marianne von Werefkin, Sonia Delaunay, Franz Marc, Oskar Kokoschka, Paul Klee, Max Ernst oder Natalja Gontscharowa.

Wie kein anderer Galerist seiner Zeit föderte Walden Künstlerinnen. Rund ein Fünftel aller von ihm vertretenen Künstler waren weiblich, insgesamt über dreißig. Man kann das und vieles mehr auch nach dem Ende der Frankfurter Schau nachlesen im hervorragenden Katalog dazu. Thematisiert hat Walden seine Offenheit gegenüber malenden Frauen in den überlieferten Dokumenten übrigens nie. Wohl, weil es es für ihn schlichtweg nicht von Bedeutung war. Er engagierte sich mit all seiner Leidenschaft für Kunst, für gute Kunst. Nicht für Männer oder Frauen. „Ich bin nicht Mann, ich bin nicht Frau, ich bin ich“, äußerte in diesem Sinne auch Marianne von Werefkin, Malerin, Salonière und Wegbereiterin des Expressionismus, die Walden in ihrem kraftvollen, couragierten Wesen sehr ähnlich war und deren Werke er immer wieder ausstellte. In Frankfurt ist sie mit fünfzehn Bildern vertreten. Besonders eindrucksvoll darunter eines von 1909/10: eine in tiefes Blau getauchte nächtliche Landschaft, in der der Mond ein schneebedecktes Feld erstrahlen lässt. Schmale, schwarze Bäume, die die Komposition als vertikale Linien durchschneiden, ragen in den Himmel und werfen zittrige Schatten. Am Wegesrand ein Mensch, umhüllt von Einsamkeit.

Im Sommer 1919 richtete der Bildhauer Alexander Archipenko einen Brief an Walden: „Ich kann Ihnen nur empfehlen, zu ihrem Salon ‚Tour Donas‘, einen modernen und äußerst talentierten Maler, einzuladen. Er ist mein bester Schüler“. Doch anders als von Archipenko suggeriert, verbarg sich hinter „Tour Donas“ kein er, sondern eine sie. Die 1885 geborene belgische Künstlerin Marthe Donas, deren wohlkomponierte, teils collagierte kubistische Stilleben man in Frankfurt betrachten kann. In einer autobiographischen Skizze erklärte sie, einige Kollegen hätten ihr empfohlen, ein Pseudonym zu wählen. Sie sei „trop artiste pour garder un nom féminin“. Ähnlich erging es vielen. Ein geniehaftes, eigenständiges Künstler-Ich, das sich noch dazu an die Abstraktion wagte, ging nicht konform mit dem, was man von Frauen in jener Zeit erwartetete.

So sind denn auch viele der in der Frankfurter Schau gezeigten Künstlerinnen zumindest in der breiten Öffentlichkeit heute weitgehend vergessen. Wer kennt schon Alexandra Exter, Helene Grünhoff oder Lavinia Schulz? Die Sturm-Frauen und ihre weit verstreuten Werke in großem Umfang wiederentdeckt zu haben, ist das Verdienst der Kuratorin und der Autoren des Katalogs der Frankfurter Schau. Für diese Ausstellung wurde Wühlarbeit, Pionierarbeit geleistet, wurden Biographien rekonstruiert, Werke aufgespürt, künstlerische Eigenheiten herausgearbeitet. Jeder einzelnen Künstlerin ist im Katalog ein Beitrag gewidmet, in dem auch eine Auswahl der meist recht überschaubaren weiterführenden Literatur angeführt ist. In der Ausstellung selbst informieren nur knappe Wandtexte. Gerade in dieser Reduktion jedoch liegt die Stärke der Schau, denn es geht in Frankfurt vor allem um eines, ums Sehen. Darum, zu sehen, welch phantastischen Bilder diese Frauen geschaffen haben und wie vielfältig ihre Gestaltungen waren. Da erblickt man mal kräftige, leuchtende Farben, mal zarte, pastellige, mal erscheinen traumhafte, surreale Szenen, mal sachlich-maschinelle, mal traurig-melancholische. Manches ist abstrakt, anderes eher kubistisch, futuristisch, konstruktivistisch.

Herwarth Walden schrieb im Jahr 1924, kurz nachdem die ausgesprochen begabte niederländische Künstlerin Jacoba van Heemskerck – auch ihre Werke sind in Frankfurt zu sehen – gestorben war: Aus der Kraft der Sinne habe sie Bilder geschafften, „die die Welt bedeuten.“ Wer die Ausstellung noch besuchen kann oder den Katalog vor Augen hat ,der wird entdecken: Das gilt nicht allein für sie.

Titelbild

Sturm-Frauen. Künstlerinnen der Avantgarde in Berlin 1910–1932 (Katalog zur Ausstellung vom 30. Okto­ber 2015 bis 7. Februar 2016 in der Schirn Kunsthalle Frankfurt).
Hg. von Ingrid Pfeiffer und Max Hollein.
Wienand Verlag, Köln 2015.
400 Seiten, 45,00 EUR.
ISBN-13: 9783868322774

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