Effi Briest: Kein Dienst nach Vorschrift

Eine „Lesung/ Performance“ Thomas Klings im Künstleratelier aus dem Jahr 1989 ist jetzt auf DVD erschienen

Von Gabriele WixRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gabriele Wix

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nein, zimperlich war er nicht, der junge Dichter Thomas Kling, wenn ihm das Publikum eine Lesung verhustete oder gar zerredete. Sofern er nicht gleich seinen Auftritt abbrach, gab es klare Ansagen: „Klaus, halt’s Maul!“ zum Beispiel. Und was heißt: Lesung. Performance hieß das damals, man wollte weg von Tisch, Wasserglas und vergeistigter Dichteraura. Die neuen Requisiten sind das Künstleratelier, grau gestrichener Estrich, weiß getünchte Wände, eine Sprudelflasche, ein Plastikbecher, ein Kühlschrank. Es ging ums Leben.

Leben ist auch das Stichwort in dem Filmdokument aus dem Jahr 1989. Auf Video 8 hat Boscher Theodor den von Udo Kittelmann organisierten Auftritt des 2005 verstorbenen Dichters Thomas Kling im Atelier von Peter Bömmels in Köln festgehalten und jetzt auf DVD veröffentlicht: „thomas kling liest effi briest. zu der gleichnamigen skulptur von martin gostner. spurensuche einer lesung / performance“. Die Uraufführung gilt dem Text „effi b.; deutschsprachiges polaroid“, benannt nach der Protagonistin des gleichnamigen Romans von Theodor Fontane und gleichzeitig Bezugnahme auf Martin Gostners Skulptur. Es folgen acht Gedichte aus Klings aktuell erschienenem Gedichtband „geschmacksverstärker“. 20 Minuten lang beobachten zwei Kameras den Dichter. Der Film zeigt, wie er – ein loses Blatt in der rechten Hand, die linke starr auf dem Rücken – das Publikum begrüßt, „Guten Abend, meine Damen und Herren“, und das damals noch unveröffentlichte Gedicht aus einem Typoskript mit handschriftlichen Notizen liest, bevor er nach einer kurzen Pause den blauen schmalen Suhrkamp-Band zur Hand nimmt. Kling verlagert ständig das Gewicht von einem Fuß auf den anderen, macht Schritte vor und zurück, bückt sich, um den Plastikbecher vom Boden zu nehmen und zu trinken, bewegt sich durch den Raum, an Gostners Skulptur vorbei. So fällt er aus dem Bild, wenn die Kamera nicht schnell genug den Rhythmus seines Hin und Her übernimmt, und es entwickelt sich ein Spiel zwischen Filmer und Dichter, das Thomas Kling oft genug gewinnt.

Gostners Effi, „dieses so charmante und doch auch schon sehr laszive Objekt von einem Kühlschrank“ (Kittelmann), eng mit gelber Wäscheleine aus Kunststoff umwickelt, ist auf einen Sockel von braun marmorierten Bodenplatten gesetzt. „Spießerboden“, schreibt Gostner im Booklet. Er hat die Verfilmung von Rudolf Jugert aus den 1950er-Jahren im Kopf: „Ruth Leuwerick, ihr Korsett als Effi, ihr wunderbar gespieltes langsames Erfrieren, aber auch Frank Zappas Textzeile She’s just like a penguin in bondage, boy … führten mich auf die Spur.“ Der gefesselte Kühlschrank auf PVC-Bodenfliesen ist das einzige Objekt im Raum. Wenn die Kamera einzig auf ihn gerichtet ist, während die Stimme des Dichters aus dem Off kommt, führt das zu den intensivsten Momenten im Film.

Zwei kurze Sätze aus Fontanes Roman bilden das Scharnier zwischen Gostners Skulptur und Klings Gedicht: „Woran scheitert man denn im Leben? Überhaupt immer nur an der Wärme.“ Briest äußert die Worte gegenüber einem Freund nach der Hochzeit seiner 17-jährigen Tochter Effi mit Baron Geert von Innstetten, der vor Jahren Effis Mutter umworben hatte, aber zugunsten des damals gesellschaftlich arrivierteren Briest zurücktreten musste. Jetzt ist die Tochter an der Reihe, und die willigt ein: „Jeder ist der Richtige. Natürlich muß er von Adel sein und eine Stellung haben und gut aussehen.“ Das führt zum Scheitern, zum Erfrieren, von Anfang an. „Effi Briest oder Viele, die eine Ahnung haben von ihren Möglichkeiten und ihren Bedürfnissen und trotzdem das herrschende System in ihrem Kopf akzeptieren durch ihre Taten und es somit festigen und durchaus bestätigen“ – der Untertitel von Rainer Werner Fassbinders Verfilmung des Romans scheint präsent, wenn Kling liest: „AUSZEHRUN’ wg. SCHRANKWANT, SCHLAFZIMMERHUND NEUM TEPPICHBODN“ oder die Aussage des alten Briest unter Stroboskopblitzen zerhackt.

woran schei (‚wo?, woran bitte?‘)
[…]
WORAN SCHEITERT MANDN
[…]
WORAN SCHEI-
TERT MAN DENN IM LEHM FRAGEZEICHEN ÜBERHAUPT IMMER NUR
AN DER WÄRME 

Der Kölner Künstler Boscher Theodor war Ende der 1980er-Jahre Philosophiestudent und mit Walter Dahn, Vertreter der sogenannten Neuen Wilden, filmend unterwegs. Er entdeckte erst jetzt das nach mehreren Umzügen verschollen geglaubte Videofilmmaterial wieder. Dass er Klings Uraufführung des effi b.-Textes vor Gostners Skulptur in einem aus der Rückschau tief bewegenden Film festgehalten hat, ist allein schon ein großes Verdienst, aber bei Weitem nicht das einzige: Der Film wirft darüber hinaus ein interessantes Spotlicht auf die Kölner Kunstszene vor knapp 20 Jahren. Heute ist Martin Gostner Professor an der Kunstakademie Düsseldorf, Peter Bömmels hat die Professur für „Malerei, Grafik und andere Medien der Bildpoesie“ an der Hochschule für Bildende Künste Dresden inne und Udo Kittelmann unterstehen als Direktor der Nationalgalerie in Berlin sechs Häuser.

Im Abspann sieht man die Akteure und Gäste des Abends am 18. März 1989 versammelt: Peter Bömmels, Gerd Bonfert, Dieter Fuchs, Martin Gostner, Leiko Ikemura, Udo Kittelmann, Thomas Kling, Gerhard Naschberger, Detlef Meyer-Voggenreiter, Vincent Tavenne, Sabine Voggenreiter, Hendrik de Wit, Susanne Zander und viele andere mehr. Festgehalten von der zweiten Kamera ist filmend auch Boscher Theodor im Bild. Seinem Gespür für den richtigen Ort und den richtigen Augenblick verdankt sich ein Dokument von literatur- und kunstgeschichtlicher Bedeutung. O-Ton Kittelmann im Booklet: „Dieser Abend war kein Dienst nach Vorschrift […]. Im Rückblick erscheint es mir sogar so, dass diese Kunst- und Sprachinstallation unseren jeweiligen weiteren Weg vorgeprägt hat. Das mögliche Scheitern im Leben immer im Sinn behaltend.“

Kein Bild

Thomas Kling: kling ungelöscht. spurensicherung einer lesung/performance von thomas kling.
Herausgegeben von Boscher Theodor.
Verlag Klaus Bittner, Köln 2015.
1 DVD, 45,00 EUR.
ISBN-13: 9783926397256

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