Ein weiser Teenager

„Wo die Welt anfängt“: Die frühen Kurzgeschichten von Truman Capote

Von Philipp JakobRSS-Newsfeed neuer Artikel von Philipp Jakob

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Eine spektakuläre Entdeckung“, so prangt ein Schriftzug auf dem Cover des Ende 2015 erschienenen Bandes Wo die Welt anfängt, der 14 bisher teilweise unveröffentlichte Erzählungen von Truman Capote enthält, die dieser, so wird vermutet, im Alter zwischen 14 und 16 schrieb. Zunächst möchte man annehmen, dass sich hinter diesem Schriftzug nichts weiter als übertriebene Werbung verbirgt, eine reißerische Catch-Phrase, die dem potenziellen Leser im Buchladen ins Auge springen soll. Dass hier aber ein Schriftsteller wie Capote auf diese Art beworben werden muss, scheint ein schlechtes Omen für die Qualität der versammelten Texte zu sein. Schließlich gilt dieser als einer der bedeutendsten englischsprachigen Autoren des 20. Jahrhunderts, dessen Romane Frühstück bei Tiffany und Kaltblütig Welterfolge waren und dessen schillernde Biografie 2005 grandios verfilmt wurde.

Die Art und Weise, wie die Kurzgeschichten gefunden wurden, lässt noch nichts Spektakuläres vermuten. Entdeckt wurden sie nämlich in Capotes Nachlass in der New York Public Library von der Journalistin Anuschka Roshani und ihrem Mann, dem Verleger Peter Haag. Diese erhofften sich, auf neue Teile zu Capotes Fragment gebliebenen Roman Erhörte Gebete zu stoßen und erwarteten zunächst nichts als „das Geschreibsel eines Halbwüchsigen“, als sie die Texte in einer Box mit der Aufschrift „High School Writings“ fanden. Übrigens war das in Capotes Fall nicht das erste Versäumnis. Seine Erzählung Sommerdiebe, die 2005 veröffentlicht wurde, entdeckte man damals ebenfalls in einem Karton, der dem Nachlass eines Hausmeisters entstammte.

In diesen hier versammelten Erzählungen zeigen sich nun die ersten Übungen eines jungen Schriftstellers, die ersten Gehversuche von einem, der Jahre später mit riesigen Schritten zum gefeierten Weltstar werden sollte. Dessen Kurzgeschichte Shut a final door ihn zum O. Henry-Preisträger machen sollte und der nach seinem Romandebüt Other voices, other rooms einen festen Platz in der High Society New Yorks einnahm – mit gerade einmal 24 Jahren.

Die Übungen reichen von formalen Experimenten und Schilderungen jugendlicher Sehnsüchte bis hin zur satirischen Karikatur. Doch, und hier liegt die Entdeckung, sind diese ersten Gehversuche bereits feste Schritte. Hier offenbart sich eben nicht das ‚Geschreibsel eines Halbwüchsigen‘, sondern das Werk eines Autors, der sich seines Talents bewusst ist.

Die modrige Südstaaten-Atmosphäre, wenn er seine Charaktere durch Sümpfe waten lässt, die Verlorenheit, wenn sich ein Junge die ideale Mutter vorstellt, die spitze Zunge, wenn er zwei reiche Damen beim Tee darüber plaudern lässt, was wohl der beste Weg wäre, den Gatten zu ermorden, all diese Elemente, die sich in diesen frühen Erzählungen finden, zeichnen auch sein späteres Werk aus.

Der junge Capote verstand es bereits meisterhaft, Spannung aufzubauen. Immer wieder streut er überraschende Wendungen ein, immer wieder erschafft er neue Charaktere, die alle ihre kleinen Eigenheiten haben und dabei doch nie lächerlich wirken. Viele der Erzählungen wirken träumerisch, und da zeigt sich vielleicht der Teenager Capote, ein Junge, der noch am Anfang seines Lebens steht. Doch der Autor scheint sich selbst dieses Träumerischen bewusst zu sein, nie wirken seine Erzählungen naiv, immer wieder holt er seine Charaktere zurück in die Wirklichkeit.

In der titelgebenden Erzählung „Wo die Welt anfängt“ sitzt das Schulmädchen Sally gelangweilt im Mathematik-Unterricht. Mit dem Stoff kann sie nichts anfangen, die Lehrerin ist mit ihren Zahlen nichts weiter als ein Roboter. Da blickt Sally zum Fenster hinaus und beginnt zu träumen. Auf einmal befindet sie sich bei der Oscarverleihung, wo sie gerade den Preis überreicht bekommt. Sie richtet ein paar Dankesworte an das Publikum. Applaus. Champagner. Blitzlichtgewitter.

„Hörst du überhaupt zu, Sally?“ unterbricht die Lehrerin ihren Traum und reißt sie aus der Illusion. Capote scheint gewusst zu haben, dass dieses Leben im Glanz und Blitzlichtgewitter, das er später führen würde, nichts weiter als ein Trugbild ist.

Da ist es sehr passend, dass diese Texte gerade bei der Suche nach fehlenden Kapiteln zu Erhörte Gebete gefunden wurden, Capotes letztem, nie fertiggestellten Roman, dessen vorabgedruckte Kapitel im Esquire zu seiner Verbannung aus der High Society führten. Darin enthüllte er die intimsten Geheimnisse der Reichen und Schönen, in deren Kreis er über Jahrzehnte verkehrt hatte.

Bedenkt man die literarische Qualität der hier versammelten Texte und die geistige und literarische Reife des Teenagers Capote, die sich durch sie offenbart, dann kann man diesem Band den Rang einer beachtenswerten Entdeckung nicht absprechen. Dann wirkt auch das Adjektiv „spektakulär“ auf dem Cover nicht mehr übertrieben, denn schließlich ist es der Autor selbst gewesen, der einst über sich sagte – und da muss man ihm wohl zustimmen –: „Ich bin schwul. Ich bin süchtig. Ich bin ein Genie.“

Titelbild

Truman Capote: Wo die Welt anfängt. Erste Erzählungen.
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Anuschka Roshani.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Ulrich Blumenbach.
Kein & Aber Verlag, Zürich 2015.
160 Seiten, 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783036957319

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