Frühengland im Nebel

In „Der begrabene Riese“ von Kazuo Ishiguro suchen fünf Figuren ihre Erinnerung

Von Tobias GunstRSS-Newsfeed neuer Artikel von Tobias Gunst

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein magischer Nebel hängt über dem Land. Er verpestet die Luft, setzt die Menschen in einen Dämmerzustand und sorgt dafür, dass sie keine Erinnerungen mehr haben.

Wir befinden uns im England des 6. nachchristlichen Jahrhunderts und am Beginn von Kazuo Ishiguros neuem Roman „Der begrabene Riese“, der seiner Anlage nach zwischen fantastischer Literatur und historischem Roman schwankt, aber im Verlaufe seiner über 400 Seiten mehr und mehr zu einer literarischen Meditation, einem mäandernden Nachdenken über Erinnern und Vergessen, die Notwendigkeit der Verdrängung für das Zusammenleben und die Einsamkeit des Sterbens wird. Daniel Kehlmann hat, als der Roman im Herbst 2015 erschienen ist, eine frenetische Besprechung im Feuilleton der FAZ abgeliefert, die Ishiguros Meisterschaft rühmt, über einem einfachen Plot ein dichtes Netz von Rätselhaftigkeit, Symbolik und Komplexität aufgespannt zu haben, das den Roman zu einer Erkundung der Grundlagen menschlicher Psyche und Gemeinschaft gleichermaßen macht.

Im Kern geht es in der Geschichte, die der britische Schriftsteller japanischer Herkunft erzählt, um ein alterndes britannisches Paar, Axl und Beatrice, das sein Dorf verlässt, um ihren Sohn zu besuchen, der angeblich nur wenige Dörfer entfernt lebt. Doch wo genau, das haben sie aufgrund des Nebels vergessen, genauso, warum der Junge damals fortgegangen ist. Auf ihrem Weg begegnen sie dem rätselhaften Krieger Wistan, Gawain, einem Ritter der Tafelrunde, und einem seltsamen Jungen, Edwin, der eine verhängnisvolle Wunde am Bauch mit sich trägt. Aus der Reise zu ihrem Sohn wird schließlich die gemeinsame Mission, einen bestialischen Drachen zu töten, der für den undurchdringlichen Schleier der Erinnerung verantwortlich ist. Je näher die kleine Gruppe dem Drachen kommt, desto klarer kristallisiert sich heraus, dass keiner der ist, der er zunächst zu sein schien – nicht Gawain, nicht Wistan, nicht Edwin; nicht einmal die Liebe des Paares ist, wofür sie gehalten wird. War es zu Beginn eine alte Bekannte, die Beatrice gefragt hatte: „Wie wollt ihr, du und dein Mann, eure Liebe zueinander beweisen, wenn ihr keine Erinnerungen mehr an eure gemeinsame Vergangenheit habt?“, so ist es am Schluss des Romans Axl, der seine Frau zweifelnd fragt: „Kann es sein, dass unsere Liebe über die Jahre nie so stark geworden wäre, hätte der Nebel uns nicht so viele Erinnerungen genommen?“

Damit formuliert er den die Geschichte strukturierenden Grundkonflikt des Romans: Wie notwendig ist das Vergessen, das Auslöschen von Erinnerung, für den Einzelnen und für die Gemeinschaft? Es ist nicht zu viel verraten, wenn man sagt, dass der Nebel für das Land und die Volksgruppen eine friedensstiftende Bedeutung hat; er lässt vergessen, was Zwietracht und Hass gesät hatte – und gleichzeitig, was für Axl und Beatrice und ihre Liebe eine existenzielle Bedrohung bedeutete.

Damit ist deutlich, dass es große, universelle Themen sind, die Ishiguros Roman verhandelt. Und er nimmt sich Zeit dafür, viel Zeit. In externer Fokalisierung zunächst, das heißt, ohne uns einen Einblick in das Denken oder Fühlen der Figuren zu geben, beschreibt der Erzähler Handlungen und Dialoge ohne erklärend oder kommentierend einzugreifen. So überlässt der Text ganz dem Leser die Deutungshoheit. Das ist eine spannende Technik und sie würde funktionieren, wenn nicht das große Geheimnis, das vermeintlich im Raum steht, sehr vorhersehbar wäre; wenn nicht der Grundkonflikt sehr banal und die finale Auflösung fast kitschig wären. Im letzten Drittel des Textes kommt zudem ein häufiger Perspektivenwechsel ins Spiel, der die ästhetische Homogenität des Romans aufbricht: plötzlich spricht Gawain in einer Art innerem Monolog, plötzlich bekommen wir das Geschehen aus Edwins Perspektive und schließlich aus der eines Fährmanns vermittelt. Zum einen spiegelt dieser Perspektivenwechsel natürlich die fortschreitende Aufklärung wider und lässt sie individuell nachvollziehbar werden, zum anderen aber gesteht Ishiguro sie nur einzelnen Figuren zu, was inkonsequent ist. Auch das Vergessen oder der Grad der Amnesie trifft nicht alle Figuren gleichermaßen, so vermag sich Wistan durchaus daran zu erinnern, wen er zu hassen hat und warum. All das sorgt dafür, dass der Roman unsauber komponiert wirkt, nicht ganz durchdacht und von seiner strukturellen Anlage her nicht konsequent genug ist. 

Er erinnert mit der dichten Symbolik und überschaubaren Handlung bei gleichzeitiger, zumindest scheinbarer psychologischer Tiefe an die großen japanischen Romanciers des 20. Jahrhunderts, die der dortigen sog. ‚dritten neuen Nachkriegsgeneration‘ angehören und mit Vorliebe vermeintlich historische Stoffe allegorisch zur Veranschaulichung menschlicher Grundprobleme verarbeiten. „Der begrabene Riese“ ist ein solch allegorischer Zugang zur Historie, der einen datierbaren historischen Konflikt als Folie nimmt, um sich mit Mitteln der Fantastik und des assoziativen Erzählens zentralen Fragen der Existenz zu widmen. Ähnliche Zugänge zu dringlichen Fragen hatte Ishiguro bereits in „Was vom Tage übrigblieb“ und in „Alles, was wir geben mussten“ gewählt, doch war es ihm dort gelungen, die erzählerische Folie mit den existenziellen Fragen organisch zu verknüpfen, woran „Der begrabene Riese“ letztlich scheitert. Der historische Grundkonflikt bleibt beliebig, austauschbar und bloßer Handlungsmotivator, die Figuren in ihrer psychologischen Entwicklung überschaubar und der Spannungsbogen der Geschichte flach. So bleibt der Leser nach der Lektüre leicht unbefriedigt zurück, hineingeworfen in ein etwas diffuses Meer von Fragen, deren Antworten sich zwar schemenhaft am Horizont erkennen lassen, aber nicht näher kommen und im Nebel verschwinden.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Kazuo Ishiguro: Der begrabene Riese. Roman.
Aus dem Englischen übersetzt von Barbara Schaden.
Blessing Verlag, München 2015.
414 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783896675422

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