Kontinuierliche Brüche

Artikulationen des Unheimlichen in der japanischen Kulturgeschichte

Von Bernhard ScheidRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernhard Scheid

Der folgende Streifzug durch einige Artikulationen des Unheimlichen in der vormodernen japanischen Kulturgeschichte erhebt weder den Anspruch auf Vollständigkeit noch sollen hier neue Quellen zu Tage gebracht werden. Die mehr oder weniger chronologisch geordneten Beispiele sind sowohl in Japan als auch in der japanologischen Forschung hinlänglich bekannt. Was ich jedoch – abgesehen von einem einführenden Überblick – herausarbeiten möchte, sind gewisse „Enttäuschungen“ einer Erwartungshaltung, wie man sie vor dem Hintergrund europäischer Grusel- und Horrorgeschichten haben könnte. Trotz verwandter Sujets weichen traditionelle japanische Horrorszenarien oft an entscheidenden Punkten von westlichen ab und münden in andere Pointen. Diese Unterschiede sollen hier nicht als japanische Alleinstellungsmerkmale hervorgehoben werden, sondern weisen meiner Meinung nach eher ex negativo auf einen Topos westlicher Horror-Narrative hin, der im traditionellen Japan, aber wohl auch in vielen anderen nicht monotheistisch geprägten Kulturen nur schwach oder gar nicht zu Tage tritt: der Endkampf oder das letzte Gefecht zwischen Gut und Böse. Während dieser letztlich religiöse Topos in der modernen Gesellschaft zumeist einem philosophischen Relativismus weichen muss, stellt er in der gegenwärtigen Populärkultur nach wie vor das gängigste Mittel der narrativen Spannungserzeugung dar. Ein Blick in die japanische Vergangenheit offenbart jedoch, dass dieses scheinbar archaische Motiv nicht immer und überall existierte.

Verbotene Blicke

Auf der Suche nach dem Unheimlichen in der japanischen Frühzeit stößt man unweigerlich auf den Mythos des Urgötterpaares Izanagi und Izanami.[1] In den klassischen Mythen[2] sind dies die ersten Götter, die man sich in menschlicher Gestalt vorstellen kann und die einander als Mann und Frau gegenübertreten. Sobald sie von einer Bachstelze die Kunst der Liebe gelernt haben,[3] zeugen sie – im wörtlichen Sinne – die sichtbare Welt, angefangen bei den japanischen Inseln, dem Wind, den Bergen, den Bäumen et cetera. Die unbändige Schöpfungskraft der beiden Gottheiten hat jedoch ein Ende, als Göttermutter Izanami bei der Geburt des Feuers „stirbt“, da es ihren Schoß verbrennt. Hier stellt sich bereits heraus, dass die beiden Urgötter nicht die volle Kontrolle über die von ihnen erschaffenen Wesen haben.

Izanamis Sterben bedeutet eine Art Transformation und zugleich Translokation in das Land der Dunkelheit (Yomi). Der allein zurückgebliebene Izanagi will diese Trennung jedoch nicht akzeptieren, begibt sich auf die Suche nach seiner Gefährtin und findet sie schließlich in einem finsteren Palast. Sie aber schärft ihm ein, dass er sie nicht ansehen darf, und zieht sich ins Palastinnere zurück, „um sich mit den Göttern der Unterwelt zu beraten“. Er hält sich natürlich nicht an das Verbot, entzündet einen Span und folgt ihr ins Palastinnere. Dort erblickt er sie in Gestalt einer aufgequollenen, von Würmern zerfressenen Leiche. Es stellt sich heraus, dass Izanami selbst die Herrin der Unterwelt ist und sich durch die Tatsache, dass Izanagi sie in ihrer neuen Gestalt erblickt hat, zutiefst „beschämt“ fühlt. Diese Beschämung schlägt unmittelbar in Hass und Wut um: Izanami ruft acht Donnergöttinnen herbei, die auch als die „acht hässlichen Frauen“ bezeichnet werden, um Izanagi zu fassen. Es folgt eine wilde Verfolgungsjagd, bei der er allerlei Tricks anwenden muss, um seine Verfolgerinnen abzuschütteln, bis er schließlich den Eingang der Dunkelwelt erreicht und ihn mit einem großen Stein verschließt. Erst dadurch ist die Welt der Lebenden und die der Toten klar getrennt und kein Hin und Her ist mehr möglich.[4]

Diese erste Horrorszene der japanischen Literatur lässt sich unschwer als Variante eines weltweit verbreiteten Mythos identifizieren, der hierzulande am besten als die Geschichte von Orpheus und Eurydike bekannt ist. Im Kern geht es dabei um das Verbot, die Gestalt einer verstorbenen Geliebten in der Totenwelt anzusehen.[5] Im vorliegenden Zusammenhang sind aber gerade die Unterschiede zwischen dem Tod der Izanami und der Geschichte von Orpheus und Eurydike interessant, da sich hier bereits Elemente finden, die für die Konstruktion des Unheimlichen in Japan konstitutiv sind. Als erstes fällt auf, dass die beiden ehemaligen Partner nicht von höheren Mächten getrennt werden, sondern dass sowohl das Verbot des Blickes als auch die Bestrafung nach der Übertretung des Verbots von Izanami selbst ausgesprochen und ausgeübt werden. So wie sich Izanamis Körper in einen ekelerregenden Leichnam verwandelt hat, schlägt auch ihre Liebe in Hass um, sobald ihr Zustand durch Izanagis Blick manifest geworden ist. Die Quelle des Unheimlichen ist die Geliebte selbst, keine anderen Mächte, die sie gefangen genommen haben.

Beschämung als Gefahr

Ein zweites wichtiges Element ist die Beschämung, die den Grund für Izanamis Sinneswandel darstellt. Sie ist auch in anderen, ähnlich strukturierten mythischen Erzählungen ein scheinbar unverzichtbares narratives Element. Das Motiv häuft sich besonders in einem Zyklus von Erzählungen, die mit dem Abstieg des „himmlischen Enkels“ Ninigi beginnt und mit der Geburt seines Urenkels Jinmu Tennō endet. Als Ninigi die Erde erstmals betritt, begegnet er bald der anmutigen Baumblüten-Prinzessin (Konohana Sakuya-hime) und möchte sie zu seiner Frau machen. Ihr Vater aber schickt ihm nicht nur seine schöne Tochter Baumblüte, sondern auch seine hässliche Tochter Felsenlang (Iwanaga-hime), die Ninigi wiederum zurückweist.

Da empfand ihr Vater große Scham […] und schickte Ninigi die Worte: „[…] Prinzessin Felsenlang habe ich dir geschickt, damit das Leben deiner erlauchten Kinder dauerhaft sei wie ein Fels […]. Da du aber Felsenlang zurück geschickt hast und allein Prinzessin Baumblüte behalten hast, wird die Lebensspanne deiner erlauchten Kinder nur schwach wie die der Baumblüten sein.“[6]

Hier vertritt zwar der Vater die Rechte seiner Tochter, doch es ist im Grunde die „Beschämung“ dieser Frau, die eine schreckliche Konsequenz nach sich zieht, nämlich die Kürze des menschlichen Lebens.

In der nächsten Generation lernt ein Sohn des Ninigi, Hoori (auch Hohodemi), am Grunde des Meeres Prinzessin Edelsteinreich (Toyotama-hime), die Tochter des Drachenkönigs, kennen und verliebt sich in sie. Nach einer sorglosen gemeinsamen Zeit im Drachenpalast packt Hoori jedoch die Sehnsucht nach der Heimat und das Paar zieht an Land. Vor der Geburt ihres gemeinsamen Kindes errichtet die Prinzessin notdürftig eine Gebärhütte aus Kormoranfedern und befiehlt ihrem Mann, keinesfalls einen Blick in die Hütte zu werfen. Auch Hoori übertritt das Verbot und erblickt seine Gefährtin in Gestalt eines Meeresungeheuers, die sie während der Geburt angenommen hat:

Vor Entsetzen über diesen Anblick floh er schleunigst von dannen. Prinzessin Edelsteinreich aber begriff, dass er sie heimlich beobachtet hatte, und fühlte sich im Herzen beschämt. […] Sogleich versperrte sie die Meeresgrenze und begab sich wieder zurück ins Meer.[7]

Besonders in dieser letzten Episode sind die Parallelen zur Izanami-Geschichte unübersehbar. Die Verletzung der „Privatsphäre“ einer Frau bewirkt eine unüberbrückbare Entfremdung zwischen den ehemaligen Liebespartnern, die sich darin äußert, dass sich die Frau einen eigenen Kosmos erschafft, in den der verletzende Mann nicht mehr eindringen darf. In diesem Fall folgt daraus die Trennung von Wasser und Land. Die „Scham“ der Protagonistin ist auch hier keine rein passive Reaktion, sondern impliziert einen Stau von negativen Gefühlen, die sich mit Verzögerung, aber umso nachhaltiger über dem Auslöser der Scham entladen werden.

Macht und Ohnmacht der Frauen

Der Japanologe und Religionshistoriker Allan Grapard hat nicht zu Unrecht darauf hingewiesen, dass all diese Motive in eine mythologische Konstruktion patriarchaler Herrschaft eingebunden sind.[8] Dies trifft ganz besonders auf die Episode von Izanagi und Izanami zu: Als sich die beiden Urgötter am Ende der Unterweltepisode endgültig trennen, schwört Izanami, sie werde jeden Tag tausend Leute sterben lassen, während Izanagi entgegnet, er werde jeden Tag 1.500 Gebärhütten errichten. Danach nimmt Izanagi ein Bad in einem Fluss und entledigt sich dadurch der Befleckungen, die durch den Kontakt mit der Totenwelt entstanden sind. Diese Waschung wird explizit als der Ursprung aller rituellen Reinigungen herausgestrichen. Damit sind die Rollen klar vorgezeichnet: Der Mann repräsentiert das Leben und die Reinheit, die Frau den Tod und die Unreinheit. Diese Botschaft wird im Izanagi-Izanami-Mythos in einer beinahe didaktischen Weise durchexerziert.[9]

Auch in den anderen mythologischen Beispielen wird klar, dass der Mann eine überlegene Rolle innehat. Obwohl er die Trennung von der Frau durch die Überschreitung eines von ihr gesetzten Tabus herbeiführt, bleibt er im Besitz der gemeinsamen Nachkommen, erhält also das wichtigste Kapital, das einer ehelichen Verbindung entspringt: die Kinder, oder, in Izanagis Beispiel, die gesamte lebende Menschheit. Die Frau hingegen kann den Mann nur strafen, indem sie sich ihm entzieht und sich selbst einen mindestens ebenso hohen Verzicht auferlegt wie ihm.

Es gibt auch einige mythologische Fälle, in denen die Geschlechterrollen des verbotenen Blicks umgekehrt sind. Das „Nihon shoki“ erzählt von der kaiserlichen Priesterprinzessin Totohime, die dem Gott Ōmononushi in sakraler Ehe zur Frau gegeben wird. Nachdem sie ihn des Nachts in menschlicher Gestalt als Liebespartner erlebt hat, begehrt sie ihn auch in seiner wahren Gestalt zu sehen. Der Gott willigt ein, aber unter der Bedingung, dass sie nicht erschrickt. Als sie ihn aber in Gestalt „einer hübschen weißen Schlange“ in ihrem Toilettkästchen erblickt, stößt sie unweigerlich einen Entsetzensschrei aus. Der Gott kündigt daraufhin die Ehe mit den Worten auf: „Du konntest dich nicht beherrschen und hast mich beschämt. Nun werde ich dich beschämen.“ Die Priesterin aber fühlt Reue und begeht Selbstmord, indem sie sich mit Essstäbchen in die Vagina sticht.[10]

Die psychologische Grundkonstellation ähnelt hier den vorangegangenen Beispielen. Der „göttliche“ Partner, der über eine unsichtbare oder paranormale Erscheinungsform verfügt, zeigt sich in „wahrer Gestalt“, löst dadurch beim anderen Partner Entsetzen aus und empfindet seinerseits Beschämung. Oder anders ausgedrückt: Der „menschliche“ Partner begehrt zu sehen, was er nicht sehen soll, reagiert negativ auf den Anblick und „beschämt“ dadurch den Betrachteten. In jedem Fall kündigt der oder die Beschämte daraufhin die Partnerschaft auf und leitet eine Reihe von unheilvollen Konsequenzen ein. Unabhängig davon, ob die versteckten, nicht-menschlichen Erscheinungsformen nun dem Mann oder der Frau zu eigen sind, bleibt der männliche Partner jedoch weitgehend unversehrt, während die Frau „stirbt“ beziehungsweise sich freiwillig in einen vollkommen isolierten Bereich zurückzieht.

Das einzige mythologische Beispiel, in dem die Sache für den Mann eindeutig schlechter ausgeht als für die Frau, ist die berühmte Geschichte vom Rückzug der weiblichen Sonnengottheit Amaterasu in die Felsenhöhle. Dieser Rückzug wird durch die „Missetaten“ von Amaterasus jüngerem Bruder Susanoo hervorgerufen, der ihren Palast verwüstet, mit Fäkalien beschmiert und ein Pferd auf sadistische Weise tötet. Das Motiv des verbotenen Blicks ist hier zugegeben kaum zu erkennen, doch das gewaltsame Eindringen in einen weiblichen Bereich (den ich an anderer Stelle als Vergewaltigung interpretiert habe)[11], die dadurch hervorgerufene Verletzung und der Rückzug in eine selbstgewählte Isolation (der in diesem Fall die Verdunkelung der Welt bedeutet) sind strukturell mit dem Izanami-Mythos verwandt. Diese Ähnlichkeit wurde bereits im zitierten Aufsatz von Allan Grapard hervorgehoben, doch ignoriert dieser in seinem Versuch, der japanischen Mythologie generell „bio-degrading of the feminine condition“ zu unterstellen,[12] dass Amaterasu durch diesen Rückzug eine Transformation durchmacht und im Triumph wieder in der sichtbaren Welt erscheint, während Susanoo gefoltert und in die Verbannung geschickt wird. Obwohl er so etwas wie eine „zweite Chance“ erhält und sich auf Erden als Kulturheroe bewährt, landet auch Susanoo letztlich in der Unterwelt und scheint dort (ohne dass dies genau erklärt wird) seine Mutter Izanami als Herrin abzulösen. Hier steht also die Frau für das Helle und Reine, der Mann hingegen für den Schmutz und den Tod.

Die Gründe für diese strukturelle Geschlechterumkehr im Amaterasu-Mythos sind bis heute Gegenstand der mythenvergleichenden Diskussion und sollen hier nicht weiter erörtert werden. Wichtig scheint mir aber, darauf hinzuweisen, dass Amaterasus Geschichte die Gleichsetzung von Mann und Frau mit Leben/Tod oder Rein/Unrein relativiert. Ein Grundmotiv, das sich hingegen durch alle erwähnten Geschichten zieht, ist der Mechanismus von Tabu-Übertretung, dadurch ausgelöster psychischer Verletzung und selbstgewählter, tödlicher Isolation, der unkalkulierbare, Schrecken erregende Konsequenzen folgen. Ein wichtiger, nie unerwähnt gelassener Begleitumstand ist die Beschämung, die jeweils als eigentliche Ursache für die Trennung genannt wird. Verkürzt könnte man daher sagen, dass „Beschämung“ – oder vielleicht besser die Überschreitung eines normalerweise geschützten Bereichs, der die Identität einer Person ausmacht – unkalkulierbare Folgen nach sich ziehen kann und zwar unabhängig davon, ob diese Überschreitung absichtlich oder unabsichtlich herbeigeführt wurde. Die Verletzung persönlicher Tabus wird somit zur Quelle des Unheimlichen, obwohl oder vielleicht gerade weil keine expliziten moralischen Gesetze diesen Bereich regeln.

Unbesänftigte Tote

Ein ähnlicher Mechanismus ist auch im Verhältnis von Lebenden und Toten am Werk und durchzieht die japanische Erzählliteratur ebenso wie die Religionsgeschichte wie ein roter Faden. Izanagis Haltung gegenüber Izanami kann in der Tat als paradigmatisch für die Haltung der Lebenden gegenüber den Toten angesehen werden. Das Erscheinen des einen im Bereich des anderen führt notgedrungen zu Konflikt, Gewalt und Chaos. Doch während Izanagi auf der Suche nach sexuellen Vergnügungen ungebeten in die Totenwelt eindringt, werden die Toten eher durch einstmals erlittenes Unrecht zurück in die Welt der Lebenden gezogen. Diese offenen Rechnungen werden zur Quelle von blankem Hass, den die Toten unbarmherzig an den Lebenden ausagieren. Totengeister erscheinen in der Welt der Lebenden also in erster Linie als Rachegeister.

Das bekannteste Beispiel hierfür ist Sugawara no Michizane (845–903), ein Staatsmann, Gelehrter und Dichter der Heian-Zeit. Das ihm zugefügte Unrecht bestand darin, dass er nicht die erhoffte Position des Staatskanzlers erhielt, sondern aufgrund einer Intrige auf einen Gouverneursposten ins weit entfernte Kyūshū strafversetzt wurde, wo er bald darauf vor Kummer starb. Kurze Zeit später starben eben jene Aristokraten, die von Michizanes Versetzung profitiert hatten, in rascher Folge. Des Weiteren stürzten Brände, Überschwemmungen und Epidemien die gesamte Hauptstadt ins Chaos. Die Ursachen fand man in Michizanes zürnendem Totengeist (onryō), der sich offenbar in einen tobenden Gewittergott verwandelt hatte. Dieser Gott konnte erst zur Ruhe gebracht werden, als Michizane postum den Posten des Kanzlers und den entsprechenden Hofrang zuerkannt bekam und schließlich, 100 Jahre nach seinem Tod, einen eigenen Schrein erhielt. Als Schreingott besann sich Michizane nun wieder auf seine intellektuellen und künstlerischen Talente und wird daher bis heute als Shintō-Gottheit der Gelehrsamkeit verehrt.[13]

Das Schema, nach dem sich Michizanes Verwandlung in einen Rachegeist vollzieht, ist paradigmatisch für eine Reihe ähnlicher Fälle, die schon aus der Zeit vor ihm dokumentiert sind. Die negativen Energien, die sich in passiver Erduldung von Leid aufgestaut haben, entladen sich nach dem Tod spontan und undifferenziert. Sie scheinen lediglich örtlich gebunden zu sein und können daher weit mehr Hinterbliebene treffen als die für das Unglück eigentlich Verantwortlichen. Die Rache der Totengeister sucht quasi blind nach ihrem Auslöser und zieht dabei jede Menge von Kollateralschäden mit sich. Es herrscht hier, ähnlich wie in den mythologischen Beispielen, nur ein sehr diffuses Gerechtigkeitsprinzip. Auch steht das Ausmaß der Rache, die von einem Totengeist ausgehen kann, nicht in direktem Verhältnis zum erlittenen Leid, wohl aber im Verhältnis zu Macht und Status der jeweiligen Person. Je mächtiger ein Mensch zu Lebzeiten ist, umso größer ist der Schaden, wenn er zu Unrecht zu Tode gekommen sein sollte.

Ein zweites Beispiel, an dem sich die Mechanik der Rachegeister gut erkennen lässt, ist der Fall des buddhistischen Abtes Raigō (1002–1084), der dazu ausersehen war, die von Tennō Shirakawa sehnlichst gewünschte Geburt eines Thronfolgers mit magisch-rituellen Mitteln voranzutreiben. Als dies gelang, forderte Raigō die versprochene Belohnung, nämlich die Rangerhöhung seines Tempels auf das Niveau des Enryaku-ji, des damals mächtigsten Klostertempels in Japan. Doch die Mönche des Enryaku-ji wussten das zu verhindern und Raigō wurde links liegen gelassen. Daraufhin setzte er seine magischen Fähigkeiten dafür ein, den mit seiner Hilfe geborenen Prinzen wieder sterben zu lassen und sich selbst in einen rächenden Totengeist zu verwandeln. Er hungerte sich zu diesem Zweck zu Tode und vollführte Riten, die ihm nach seinem Ableben die gewünschte Gestalt und Kraft verleihen sollten. Tatsächlich verwandelte er sich in eine riesige Ratte und suchte in Begleitung eines Heeres von Artgenossen den feindlichen Enryaku-ji auf, wo er und die anderen Ratten die wertvollen Sutren auffraßen, die das geistige Kapital des Tempels darstellten.[14]

Das Sich-selbst-zu-Tode-Hungern wurde vereinzelt von buddhistischen Mönchen bis in die Gegenwart hinein praktiziert, allerdings ging es in historisch dokumentierten Fällen stets um das Erreichen einer möglichst hohen Stufe der Wiedergeburt. An Raigōs Beispiel zeigt sich jedoch, dass diese extremste Form des Asketismus nicht notwendigerweise mit moralisch hehren Zielen verknüpft sein musste, sondern lediglich der Erzeugung von spiritueller Energie diente, die unabhängig vom moralisch guten Zweck dazu herangezogen werden konnte, sich nach subjektiven Kränkungen Genugtuung zu verschaffen. Allerdings war eine derartige zielgerichtete Rachestrategie offenbar nur sehr erfahrenen Magiern möglich.

Im japanischen Spätmittelalter bildeten Geschichten wie die des Raigō, aber auch die Legenden von Kriegshelden oder von verelendeten Dichtern und Dichterinnen ein eigenes Genre im Nō-Theater, in dem es fast immer um Totenseelen geht, die ihr tragisches Schicksal erzählen und durch den therapeutischen Effekt dieses Erzählens schließlich Frieden finden. In den Schauerromanen der Frühen Neuzeit (17. bis 19. Jh.) wurden diese Stoffe mit zahllosen unheimlichen Motiven angereichert und mit zeitgenössischen Motiven vermengt. Neu hinzu kamen Geistergeschichten, die in den bürgerlichen Milieus der Jetztzeit angesiedelt waren. Hier traten nun wieder in erster Linie die Geister von Frauen in Erscheinung, die Opfer von häuslicher sexueller Gewalt geworden waren und ihre einstigen Peiniger als Rachegeister in den Wahnsinn oder in den Tod trieben.

Konkurrenten der menschlichen Spezies

Neben den rächenden Totengeistern gibt es in der Welt des Imaginären auch noch andere Wesen, die den Menschen gefährlich werden können, allen voran die yōkai. Yōkai sind Fabelwesen oder Monster, die zumeist Sippen oder quasi-zoologische Gattungen bilden. Und in der Tat können auch Tiere wie Füchse, Tanuki[15] oder Schlangen, denen man die Fähigkeit zuschreibt, menschliche Gestalt anzunehmen, zu den yōkai gezählt werden. Yōkai bewegen sich zumeist am Rande der menschlichen Zivilisation und treten als Konkurrenten der Menschen in Erscheinung, wenn es um natürliche Ressourcen geht. Kappa (wörtlich: Fluss-Jungen)[16] bevölkern zum Beispiel die Schilfgürtel von Gewässern und können Menschen, die in diesen Bereich eindringen, gefährlich werden. Yōkai fühlen sich von Menschen aber auch sexuell angezogen und können menschliche Gestalt annehmen, um solche Bedürfnisse zu befriedigen. Oder sie entführen Menschen, um sie sexuell auszubeuten und sie schließlich zu verzehren.[17] Umgekehrt können yōkai, trotz ihrer Wandlungsfähigkeiten, mit physischen Waffen wie Schwert oder Bogen zur Strecke gebracht werden. Märchen und Legenden, in denen yōkai eine Rolle spielen, enden daher meist mit der physischen Vernichtung eines Monsters durch einen wackeren Helden. In Einzelfällen können aber auch ehemalige yōkai, ähnlich wie die Totengeister, zu Schreingottheiten erhoben werden.[18]

Bis in die Edo-Zeit (1600–1868) zweifelte kaum jemand in Japan an der realen Existenz von yōkai. Es gab sogar wissenschaftliche Enzyklopädien, in denen yōkai beschrieben und klassifiziert wurden. Diese Tradition lebt im heutigen Japan in der Welt der Manga und Anime weiter fort. Insbesondere der Manga-Autor Mizuki Shigeru (1922–2015) ist für seine yōkai-Charaktere, die oft direkt aus den Edo-zeitlichen Enzyklopädien zu stammen scheinen, weit über Japan hinaus bekannt. Doch während man diese Wesen in der Edo-Zeit fürchtete, sind sie heute von einem nostalgischen Hauch umgeben und wirken meist eher humoristisch als gefährlich.[19] Doch schon in der Edo-Zeit stellte man die yōkai nicht nur dämonisch, sondern auch humorvoll da und neutralisierte so den von ihnen ausgehenden Schrecken.

Der Schlaf gebiert Monster

Eine der berühmtesten bildlichen Darstellungen von yōkai-artigen Gespenstern aus der Edo-Zeit stammt von Utagawa Kuniyoshi, einem der begnadetsten Bilderzähler unter den ukiyoe-Künstlern, der vor allem das Genre der Kriegshelden um viele neue Ideen bereicherte. In seinem dreiteiligen, um 1843 entstandenen Farbholzschnitt mit dem Titel „Die Erdspinne erzeugt Monster im Haus des Minamoto no Yorimitsu“ illustrierte Kuniyoshi die berühmte Gespenstergeschichte eines yōkai in Gestalt einer Erdspinne (tsuchigumo). Der Titelheld Yorimitsu und seine vier treuen Vasallen waren historische Krieger der Heian-Zeit, deren Taten so lange ausgeschmückt wurden, bis sie sich im kollektiven Bewusstsein als Geisterjäger festsetzten. In zahllosen Legenden durchstreifen sie gemeinsam das Land, um alle möglichen Monster und Gespenster unschädlich zu machen, und begegnen auf diese Weise auch dem Spinnenmonster. Bevor Yorimitsu es mit seinen Getreuen zur Strecke bringt, gelingt es dem Monster, Yorimitsu mit einer Krankheit zu schlagen. Kuniyoshis Bild stellt diese Krankheit dar und scheint dabei zugleich die Visionen zu visualisieren, die im Kopf Yorimitsus stattfinden. Über Yorimitsu gebeugt sieht man das Spinnenmonster, das eine Mischung aus Moskito- und Spinnennetz über den matt vor sich hin dämmernden Helden breitet. Das Netz schließt auch seine Getreuen mit ein, die sich im Vordergrund der Szene die Zeit mit Teetrinken und Go-Spielen vertreiben. Sie scheinen nicht zu bemerken, dass sich außerhalb des Netzes eine Horde von äußerst vielgestaltigen Gespenstern tummelt. Diese haben es aber nicht auf die wackeren Samurai abgesehen, sondern stürmen, zu zwei Heeren formiert, gegenseitig aufeinander los.

Kuniyoshis als Massenware produzierter Farbholzschnitt zog vor allem deshalb die Aufmerksamkeit seiner Zeitgenossen auf sich, weil er als Kommentar auf die politische Situation seiner Zeit interpretiert wurde. Er fiel daher auch rasch der damaligen Zensur zum Opfer. Bis heute ist allerdings nicht eindeutig geklärt, was Kuniyoshi genau ausdrücken wollte beziehungsweise welche Botschaft den Zensoren so gefährlich erschien. Ziemlich sicher ist jedoch, dass der schlafende Held den Shōgun, also den obersten Machthaber Japans, verkörpern sollte und die vier Getreuen dessen Regierungsriege. Die Spinne trägt eine Mönchskutte und mag eine Anspielung auf den buddhistischen Klerus enthalten; die restlichen Geister repräsentieren in aller Wahrscheinlichkeit das Volk, woran bereits Vorzeichen der japanischen Revolution von 1868 zu erkennen sind.

Was die Deutung aber schwierig macht, ist der moralisch indifferente Status, den die einzelnen Protagonisten vom Künstler zugeordnet bekommen. Bis auf das Spinnenmonster selbst ist keine Figur mit eindeutig negativen Charakteristika gezeichnet. Die vier Getreuen strahlen die männliche Entschlossenheit aus, die allen von Kuniyoshi porträtierten Samurai eigen ist, doch steht ihr tapferer Ausdruck in merkwürdigem Kontrast zu ihrer Untätigkeit in Bezug auf die hinter ihnen auftauchenden Gespenster. In deren Darstellung gibt sich Kuniyoshi wiederum ganz seiner Lust am Fabulieren hin, indem er in fast jeder Figur Charakteristika bekannter Geister und Gottheiten miteinander kombiniert. Nicht nur populäre Gespenster wie der Langhals Rokurokubi oder der Lampion-Geist Oiwa finden sich hier, sondern auch Vögel, Kröten und Welse, Shintō-Götter wie Sarutahiko und Ame no Uzume, der Glücksgott Fukurokuju oder der Zen-Patriarch Bodhidharma. Zeitgenossen versuchten gerade in diesen Figuren Codes auszumachen, die auf versteckte politische Botschaften hindeuten, doch selbst wenn der Künstler bewusst solche Botschaften intendiert haben sollte, lässt sich keine Parteinahme für eine der zwei gegnerischen Gruppen von Geistern ausmachen.[20]

Nicht nur aufgrund seines Titels, sondern auch aufgrund des schlafenden, von Monstern umkreisten Helden erweckt Kuniyoshis Bild Assoziationen mit dem wenige Jahrzehnte zuvor entstandenen Meisterwerk von Francisco de Goya „Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer“ (1799). In Goyas Fall wird die schlafende Figur von Nachttieren – Eulen, Fledermäusen und einer Katze – umringt, die jedoch keine paranormalen Züge aufweisen und nur durch ihr den Schlafenden bedrängendes Verhalten unheimlich erscheinen. Der starke Licht-Schatten-Kontrast macht die helle Figur im Vordergrund eindeutig zum Zentrum des Geschehens. Es könnte der Künstler selbst sein, der über seinen Büchern und Skizzen am Arbeitstisch eingeschlafen ist.

Der Vergleich dieser beiden Bilder erlaubt meiner Ansicht nach gewisse Rückschlüsse auf die moralische Dimension des Unheimlichen in Japan im Gegensatz zu Europa. In Goyas Bild wird ein Kampf zwischen Gut und Böse sichtbar. Dem aufklärerischen Impetus des Bildtitels entsprechend wird das Gute durch die Vernunft verkörpert, die in der Situation des Schlafes von finsteren Mächten bedrängt wird. Es sind zwar keine Teufel, sondern Geschöpfe der Natur, doch eine quasi-religiöse Bildsprache lässt die Umrisse einer Botschaft erkennen: Die Ängste des Künstlers vor dem eigenen Unbewussten werden sichtbar und die Richtung, in die er gehen sollte, ist ebenso klar die Vernunft, wie die Sympathie des Betrachters bei der schlafenden Figur liegt. Die aus der Dunkelheit herbeigeflatterten Tiere sind hingegen der reine Schrecken, in ihre Darstellung mischt sich keinerlei Sympathie. Obwohl der Ausgang des Dramas ungewiss ist, besteht kein Zweifel, dass die dunklen Nachttiere die Wurzel allen Übels verkörpern und überwunden werden müssen.

In Kuniyoshis Bild hingegen stellen der schlafende Shogun (Yorimitsu) und seine Getreuen nicht notwendigerweise Sympathieträger dar, auch wenn sie die Subjekte der Bildgeschichte sind. Die Sicht des Künstlers ist eher eine soziologische, die nicht zur Identifikation einlädt. Er führt den Mächtigen lediglich vor Augen, dass sie blind sind für den herrschenden Aufruhr, weil sie entweder durch Krankheit in einen Dämmerzustand versetzt sind oder sich mit weltfremden Strategiespielen von der Realität fernhalten. Andererseits sind auch die im Aufruhr begriffenen Figuren im Hintergrund mit distanzierter Ironie gezeichnet. Die Komik wird nicht zuletzt durch eine respektlose Vermischung von erhabenen religiösen Figuren und den niedrigsten Gespenstern hervorgerufen, die sich wahllos zu zwei gegnerischen Horden formiert haben. Da sie gegenseitig aufeinander losstürzen, bleibt die Gefahr, die von ihnen ausgeht, begrenzt. Selbst das Spinnenmonster scheint eher eine Art Katalysator des Geschehens darzustellen. Seine böswillige Absicht besteht lediglich darin, dass es die Protagonisten blind macht für das, was rund um sie geschieht.

Letztes Gefecht vs. brüchige Ordnung

Die Spannung, die zweifellos in beiden Bildern einen Gutteil der Faszination ausmacht, entsteht jeweils aus der Ungewissheit, wie sich der dargestellte Konflikt entwickeln wird. Zugleich lassen sich die Tiere und Gespenster in beiden Fällen als Ausdruck des oder der Unterdrückten, Verdrängten, Marginalisierten interpretieren. Doch während Goya seine dunkle Welt des Imaginären eindeutig negativ zeichnet, gibt uns Kuniyoshi keinen Hinweis darauf, wo seine eigenen Sympathien liegen. Die Kritik an den Mächtigen impliziert keine Identifikation mit den Unterdrückten. Kuniyoshi zeigt lediglich, dass offensichtlich alle Hierarchien am Zusammenbrechen sind, und stellt die Bedrohungen, die daraus folgen, in den Raum, ohne vorherzusagen, wer Gewinner und wer Verlierer sein wird oder sein sollte.

Diese emotionale und moralische Indifferenz kennzeichnet letztlich auch den japanischen Mythos und alle anderen besprochenen Fälle. Es gibt keine klare Trennung in Gut und Böse, die moralische Identität jedes Protagonisten ist wandelbar. Ein geliebter Verwandter kann zu einem rächenden Totengeist werden, ein zufälliger, äußerlicher Umstand macht ein geliebtes Wesen zur Gefahr. All dies ist natürlich auch in abendländischen Mythen- und Legendentraditionen zu finden, doch die Konsequenz ist zumeist, dass der in ein Gespenst transformierte ehemalige Vertraute als Feind angesehen wird, der mit aller Gewalt unschädlich gemacht werden muss. Egal ob Vampir oder Zombie, die einzige Rettung besteht in seiner physischen Vernichtung. Scheitert diese Vernichtung, steht das Schicksal der gesamten Menschheit auf dem Spiel.

In Japan gibt es wie erwähnt ebenfalls Monster, die man besser vernichten sollte, doch sie wohnen im Diesseits und ihre Wirkung ist begrenzt. Bei den mächtigeren Instanzen, die im Jenseits beziehungsweise in der Totenwelt zu Hause sind, ist Ausrottung unmöglich. Daher besteht die erste und meist einzige Reaktion der Lebenden darin, die Ursachen der Frustration des Rachegeistes zu erforschen und im Nachhinein zu beseitigen, oder den Rachegeist durch Geschenke und Opfergaben gleichsam zu bestechen. Nicht Vernichtung, sondern Beruhigung durch rituelle Aufmerksamkeit ist das erste Mittel der Wahl. Gelingt der Einsatz solcher religiöser Praktiken, lässt sich das bedrohliche Wesen sogar in eine wohlwollende Gottheit verwandeln. Rituelle Mittel können aber auch zur eigenen Verwandlung in einen Rachegeist oder für andere moralisch bedenkliche Zwecke verwendet werden. Es lässt sich sogar behaupten, dass der Großteil aller religiösen Riten in Japan dazu dient, die Götter auf die eigene Seite zu ziehen, während die Frage, ob diese Götter nun „gut“ seien oder nicht, gar nicht gestellt wird. Ebenso fehlt aber auch die Idee des absoluten Bösen, das bei allen Unglücksfällen Regie führt.

Das spielt natürlich auch für die Dramaturgie des Unheimlichen eine entscheidende Rolle. Den wahrhaft unheimlichen Instanzen der anderen Welt ist mit physischen Mitteln nicht beizukommen, doch sind sie auch nicht von Grund auf böse. Ihr unheilvolles Potenzial stammt aus einer Quelle, die auch jeder Lebende besitzt. Das Potenzial, erlittenes Unrecht in posthume Rache zu verwandeln, stellt insofern eine Waffe gegen die Überschreitung persönlicher Rechte oder „Beschämungen“ dar. Doch diese Waffe kann nicht gerecht oder moralisch überlegt oder „vernünftig“ gehandhabt werden. Das Chaos, das mit dem Unheimlichen wesensmäßig verknüpft ist, stellt für alle Hinterbliebenen eine Bedrohung dar und ist daher per se zu vermeiden. Der Grundkonflikt spielt sich nicht zwischen Gut und Böse ab, sondern zwischen Ordnung und Unordnung. Unordnung entsteht nicht notwendig aus geplanter Sabotage, sondern zumeist aus akzidentiellen Fehlern im System. Diese hinterlassen Opfer, die keine anderen Waffen besitzen als das Potenzial der Rache, welche die Ordnung zu zerstören droht. Entrechtete Opfer besitzen also keinen besonderen moralischen Status. Es wird ihnen nicht zugetraut, neue, gerechtere Ordnungen zu etablieren. Japanische Horrorgeschichten nehmen daher selten dezidiert Partei für eine „gute“, aber unterdrückte Seite und steuern auch nicht auf ein letztes Gefecht zu, in dem das Böse endgültig besiegt wird (oder eben triumphiert). Stattdessen thematisieren sie eine unvollkommene Ordnung, in der sich kontinuierlich Brüche auftun, aber – wenn die Geschichte gut ausgeht – auch wieder schließen.

Anmerkungen:

[1] Die Etymologie dieser Namen ist umstritten. Einig ist sich die Forschung lediglich, dass die beiden letzten Silben gi (eigentlich ki) und mi für „Mann“ und „Frau“ stehen. 

[2] Unter den klassischen Mythen versteht man im japanischen Kontext einen narrativen Zyklus, der in den beiden frühesten Geschichtswerken Japans, „Kojiki“ („Aufzeichnungen alter Begebenheiten“, 712) und „Nihon shoki“ („Japanische Annalen“, 720), das sogenannte Zeitalter der Götter von der Weltentstehung bis zum Beginn der kaiserlichen Dynastie umfasst. Die beiden Werke enthalten unterschiedliche Varianten der einzelnen mythischen Episoden, folgen aber im Groben derselben Erzählung. Im weiteren Sinne können auch Episoden aus den Chroniken der frühen Tennō sowie aus regionalen Chroniken (fudoki), die ebenfalls zu Beginn des 8. Jahrhunderts aufgezeichnet wurden, zu den klassischen Mythen gezählt werden. Für eine gute Darstellung und Analyse der klassischen Mythen siehe Naumann 1996.

[3] Die Bachstelze animiert die Beiden durch die wippende Bewegung ihrer langen Schwanzfedern. Dieses Motiv findet sich zwar nur in einer sogenannten Nebenvariante der mythologischen Erzählung („Nihon shoki“ 1, Aston 1972, I, S. 17), doch taucht es in fast allen Illustrationen von Izanagi und Izanami auf.

[4] Die ausführlichste Variante dieser Episode findet sich im „Kojiki“ (Antoni 2012, S. 26–29).

[5] Es finden sich im Übrigen auch überraschende Parallelen zum Persephone-Mythos, wenn es zum Beispiel in einer Variante heißt, Izanami könne mit ihrem Mann nicht mitkommen, da sie bereits von den Früchten der Unterwelt gegessen habe („Nihon shoki“ 1, Variante 8). Ähnlich muss auch Persephone jeden Winter wieder zu Hades in die Unterwelt zurück, da er ihr listigerweise Granatapfelkerne zu essen gegeben hat. William George Aston (1841–1911), der bisher einzige Übersetzer des „Nihon shoki“ ins Englische, machte bereits 1896 auf diese Parallele aufmerksam (Aston 1972, I, S. 24).

[6] Übersetzung nach Antoni 2012, S. 82–83, leicht modifiziert.

[7] Nach Antoni 2012, S. 81, leicht modifiziert.

[8] Grapard 1991.

[9] Schon beim Hochzeitsritus von Izanagi und Izanami begeht die Frau einen Fehler, indem sie ihren Geliebten als erste anspricht/auffordert und nicht umgekehrt. Das rächt sich durch die Geburt eines behinderten Kindes. Erst als sie den Ritus wiederholen und der Mann das erste Wort hat, kommen erwünschte Kinder zur Welt.

[10] Übersetzung nach Aston 1972, I, S. 158–159. Für eine genauere Analyse dieses Mythems siehe Scheid 2016.

[11] Scheid 2016.

[12] Grapard 1991, S. 9.

[13] Die Legende des Michizane ist vor allem in den Chroniken des ihm geweihten Kitano-Schreins, den „Kitano Tenjin engi“, dokumentiert. Die älteste bekannte Fassung stammt von 1219. Siehe auch Borgen 1994.

[14] Diese Geschichte taucht erstmals im „Kojidan“ („Erzählungen alter Begebenheiten“, 1212–1215) auf und wurde später in Kriegerepen (gunki) wie „Heike monogatari“ und „Taiheiki“ weiter ausgebaut.

[15] Sog. Marderhunde, die in Europa kaum, in Japan dagegen sehr häufig anzutreffen sind. In der älteren Literatur oft fälschlicherweise als „Dachs“ bezeichnet.

[16] Kappa werden zumeist als affenartige Wesen mit Schildkrötenpanzer dargestellt.

[17] Vor allem der Riese Shuten Dōji ist für derartige Untaten berühmt, doch schon in den Mythen entführt und frisst die Schlange Yamata no Orochi menschliche Jungfrauen, während in späterer Zeit auch die tengu (Vogelmenschen) für Entführungen bekannt waren.

[18] Ein Beispiel dafür wäre die aufopferungsvolle Füchsin Kuzunoha, die im heutigen Ōsaka einen Schrein besitzt.

[19] Für eine Analyse der yōkai siehe Foster 2008.

[20] Zu den karikaturhaften Elementen dieses Bildes sowie zu Kuniyoshis allgemein rebellischer Haltung siehe Brandl und Linhart 2011.

Literaturverzeichnis

Klaus Antoni, 2012. Kojiki: Aufzeichnungen alter Begebenheiten. Berlin: Verlag der Weltreligionen.

George William Aston, 1972. Nihongi: Chronicles of Japan from the Earliest Times to A.D. 697. Rutland, VT: Tuttle. [Zwei Bände; erste Auflage: London 1896.]

Robert Borgen, 1994. Sugawara no Michizane and the Early Heian Court. Honolulu: University of Hawai’i Press.

Noriko Brandl und Sepp Linhart (Hg.), 2011. Ukiyo-e Caricatures. Institut für Ostasienwissenschaften der Universität Wien.

Michael Dylan Foster, 2008. Pandemonium and Parade: Japanese Monsters and the Culture of Yokai.

Allan Grapard, 1991. „Visions of Excess and Excesses of Vision: Women and Transgression in Japanese Myth.“ Japanese Journal of Religious Studies 18/1, S. 3–22.

Nelly Naumann, 1996. Die Mythen des alten Japan. München: C.H. Beck Verlag.

Bernhard Scheid, 2016. „‚Sie stach sich in den Schoß und verstarb‘: Zwei seltsame Todesfälle in den kiki-Mythen.“ In: Birgit Staemmler (Hg.), 2016. Werden und Vergehen: Betrachtungen zu Geburt und Tod in japanischen Religionen. Münster: Lit, S. 95–114.