Geschichte der Listen

Eine Erinnerung an den avantgardistischen Kulturhistoriker Umberto Eco

Von Claudia SchmöldersRSS-Newsfeed neuer Artikel von Claudia Schmölders

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am liebsten sah er sich an der Spitze der europäischen Avantgarde, der Meisterdenker Umberto Eco. Eben war er der Geschichte der Schönheit und gleich darauf der Hässlichkeit nachgegangen, da veröffentlichte er 2009 das Buch Die unendliche Liste. Die Konjunktur von Rang-, Such-, Verkaufs- oder Auktionslisten, alle tendenziell unendlich, alle nach jeweiligem Orientierungsbedarf verschieden sortierbar, alle in der gegenwärtigen Kultur des World Wide Web und damit auch im Konkurrenzkampf der Verlage dominant, war zwar für ihn kein Thema, aber wie Eco die Textsorte „Liste“ nun präsentierte – anthologisch, für eine Ausstellung im Pariser Louvre –, zeugte doch von durchtriebener Retro-Vernunft.

Nicht erst in Gedichten wie Günter Eichs Inventur oder in Ben Schotts millionenfach verkauftem Bestseller Sammelsurium finden sich Datensammlungen und Listen – auch in Kunst und Literatur. Ihnen widmete Umberto Eco sein Buch – in einer exorzistischen Anstrengung gegen die herrschenden Rankings und als mahnender Genealoge. Sein Katalog steht völlig im Bann der klassischen Rhetorik und Poesie: Aufzählungen gab es schon bei Homer; Aufzählungen repräsentieren den sogenannten «Unsagbarkeitstopos» als Redefigur für alles, was unendlich ist, schön oder hässlich oder reich oder einfach vielfältig. Literarisch setzt sie sich durch mit der Moderne, als teils lyrisches, teils aber offen satirisches, oft ungeheuer komisches Werkzeug der Literatur.

Zwei Poeten beherrschen Ecos Buch: François Rabelais und Jorge Luis Borges. Rabelais steht für die Satire, Borges für das alchemistische Element, das alle Büchernarren zu solchen macht. Denn gerade die Bücher öffnen mithilfe des Alphabets ihre Listen hinaus ins Unendliche – einerseits. Andererseits aber eben zugleich zur hybriden Gesamtschau nach Art einer alexandrinischen Bibliothek. Und seit biblischer Zeit ist die Idee des einen und einzigen Buches, das alles Weltwissen zusammendenkt, eine abendländische Obsession.

Ausdehnung und Konzentration, Masse und Wert sind die beiden Formen der Anschauung, sagte Eco (mit ein bisschen Kant) und bot neben Texten auch endliche Bilder, die wir mit einem Blick übersehen können. Aber zeigen Bilder wirklich Listen? Eco zeigte Bilder von Mengen an Dingen oder Menschen. Sind namenlose Mengen oder anonyme Massen tatsächlich Listen? Und Landkarten: gezeichnete Listen? Oder tendieren nicht eher umgekehrt Listen zum Bild, weil sie so übersichtlich anfangen? Rangordnende Menschenlisten in Bildform sparte Meister Eco aus, dabei gibt es sie doch zuhauf. Es wären die uralten Halls of Fame, die mit dem antiken Pantheon Schule machten – oder auch alle Ahnenporträtgalerien, die noch heute die Bildsuche bei Google beherrschen. Jeder Facebook-Fan macht dabei mit: Fast alle Menschen möchten offenbar mit ihrem Gesicht gelistet werden.

Umberto Eco schärfte allerdings unser Gespür für Qualität jenseits der Eins. Die von ihm präsentierte Inventarliste einer Schatzkammer etwa beschreibt lauter in sich wertvolle Gegenstände. Ein Ranking in einer Wunderkammer ist unnötig. Ebenso unangreifbar und endlich sind magische Listen aller Art: Litaneien etwa oder Beschwörungsformeln oder Zutaten für einen Zaubertrank. Ein Element zu viel oder zu wenig und in der falschen Abfolge, und schon wirkt das Ding nicht mehr. Die Rolle der beschwörenden Aufzählung für ein funktionierendes Gedächtnis lässt sich nicht überschätzen. Nicht Schriftgelehrte, sondern die orale Tradition hat die aufzählende Liste erfunden. Dass sie zur zählenden wurde, ist eine Leistung der Moderne. Ecos kulturhistorische Retrospektive regte dazu an, dies zu begreifen.

Titelbild

Umberto Eco: Die unendliche Liste.
Übersetzt aus dem Italienischen von Barbara Kleiner.
Carl Hanser Verlag, München 2009.
320 Seiten, 34,90 EUR.
ISBN-13: 9783446234406

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