Der internationale Henry James

Lektüren einiger neu übersetzter Erzählungen anlässlich seines 100. Todestages am 28. Februar 2016

Von Regina RoßbachRSS-Newsfeed neuer Artikel von Regina Roßbach

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Henry James‘ Erzählung Die entscheidende Bedingung, eine von sechs in dem Band Das Tagebuch eines Mannes von fünfzig Jahren versammelten erstmals in deutscher Übersetzung vorliegenden Texte, beginnt mit der Rückkehr von einer weitgehend enttäuschenden Reise. Die beiden Freunde Bertram Braddle und Henry Chilver hatten sich mit den Erwartungen nach Amerika aufgemacht, sich „ein eigenes Bild des komischen großen Landes“ zu machen, in den „tobenden Strudel“ des gesellschaftlichen Lebens von „Washington, Boston, Newport und Mount Desert“ einzutauchen, womöglich zwei der „berühmten (und waren sie in den Vereinigten Staaten nicht alle berühmt?) einheimischen Frauen“ zu ihren Ehefrauen zu machen. Doch nun steht Chilver, aus dessen Perspektive das Geschehen berichtet wird, an Bord des soeben in den Hafen von Liverpool zurückgekehrten Schiffes und sinniert über das Scheitern des „amerikanischen Experiments“: Ihnen sind keine interessanten Frauen begegnet und am amerikanischen Leben sind sie vorbeigerauscht, ohne damit je wirklich in Berührung gekommen zu sein.

Man könnte die Hoffnungen dieser beiden Reisenden als typisch touristisch, vielleicht auch typisch imperialistisch, womöglich gar typisch menschlich bezeichnen. Doch die Mischung aus (exotistischer) Neugier am Unbekannten, dem Angezogensein vom Fremden und Neuen, und zugleich dem Wunsch, es zu durchdringen, zu definieren und sich sogar zum Besitz zu machen, ist nicht nur in sich widersprüchlich und unerreichbar, sondern zerstört letztlich auch die Möglichkeit ehrlicher Zusammenkunft. Diese Erkenntnis trifft nicht nur auf die Begegnung zwischen Nationen, sondern in gleicher Weise auch auf die zwischen Liebenden zu, wie sich im weiteren Verlauf des Textes zeigen wird. Denn eine einzige Frau hat es den beiden Freunden doch angetan: die geheimnisvolle Mrs. Damerel, mit der Braddle während der Überfahrt angebändelt hat. Die Unsicherheit der auf dem symbolisch bedeutsamen Terrain des offenen Meeres stattgefundenen ersten Begegnung setzt sich auch später fort. Braddle gelingt es einfach nicht, die Dame „zu durchschauen“; er hat sich hartnäckig in den Kopf gesetzt, sie würde ihm „eine Sache vorenthalten“. Um diese ominöse, spezielle Sache, die sie nicht preisgeben möchte, drehen sich alle folgenden Gespräche zwischen den beiden Freunden, ohne dass zu einem einzigen Zeitpunkt der genaue Inhalt der Vermutungen und Vorwürfe deutlich würde. Mrs. Damerel willigt zwar ein, Braddle zu heiraten, aber nur unter der Bedingung, dass er erst sechs Monate nach der Hochzeit das Geheimnis erfahren werde, sollte er es dann überhaupt noch erfahren wollen. Der verliebte Braddle erträgt die Ungewissheit nicht; er reist um die Welt, um Erkundungen über seine Geliebte einzuholen, und entfernt sich dabei denkbar weit von der Liebe selbst. Am Ende heiratet Chilver die Frau und wird nie wieder auf ihr Geheimnis zu sprechen kommen, wohingegen Braddle sein Leben lang nicht davon ablassen kann, weiterzusuchen.

Internationales Verstehen

Wie in diesem Beispiel an der unbekannten Amerikanerin Mrs. Damerel und den beiden britischen Reisenden hat Henry James anhand seiner Figurenkonstellationen immer wieder auch Europa und Amerika als Nationen einander gegenübergestellt. Mal steht amerikanische Naivität dem reichen Wissen Europas gegenüber, was zu tragischen Missverständnissen führt; etwa in James‘ großem Roman The Portrait of a Lady, in dem Isabel Archer sich aufgrund seines erlesenen Kunstgeschmacks in einen Heiratsschwindler verliebt, oder in seiner wohl bekanntesten Erzählung Daisy Miller, deren Protagonistin mit den rigiden Moralvorstellungen in Europa nicht vertraut ist und sich unschuldig kompromittiert. In anderen Fällen reisen Europäer mit stereotypen Amerikabildern über den Ozean, deren Fehleinschätzung zu mancher Verwicklung führt, wie etwa in Die Eindrücke einer Cousine (ebenfalls im neuen Band enthalten): Die Erzählerin Catherine Condit mag kritisch und gebildet sein; über die Menschen in ihrer Umgebung ist sie sämtlich im Irrtum. Dieser in den verschiedensten Variationen Henry James‘ gesamtes Werk durchziehender Themenkomplex wird von der Kritik als sein „international theme“ bezeichnet. Wie in der zu Beginn skizzierten Erzählung rückt häufig das Verstehenwollen der Figuren und mit ihnen des kulturell Anderen selbst in den Mittelpunkt. Der Leser sucht dann wie die Protagonisten nach Anhaltspunkten, fragt sich nach dem Wahrheitsgehalt ihrer Spekulationen und generell ihrer Glaubwürdigkeit. So geben James‘ Erzählungen keine Antworten auf die Frage, welche Eigenschaften Nationen und Menschen wirklich unterscheidet, sondern lehren viel eher Misstrauen und Distanz gegenüber dem eigenen Standpunkt. Diese Fähigkeit zur Selbstverortung und Selbstreflexion kan sich nicht anders herausbilden als durch Kennenlernen anderer Mentalitäten und Denkweisen.

Internationale Figuren

Trotzdem ist zur Entstehungszeit von Henry James‘ Texten die Bedeutung des „Nationalen“ von besonderem Interesse. Die Modernisierung aller Lebensbereiche sorgt für immer stärkere Zirkulation kultureller und finanzieller Güter zwischen den Ländern, politische Konflikte bringen vielerorts neue Grenzen hervor: eine Phase andauernder Selbstdefinition und -befragung über das Wesen „des Englischen“, „Deutschen“ oder „Amerikanischen“. Ein solches Lebensgefühl zeigt sich in James‘ Texten auf der einen Seite durch eine Entgrenzung. Mit großer Leichtigkeit wandeln die Figuren über Kontinente und Ländergrenzen hinweg. Braddle und Chilver findet man auf Schiffen und Bahnhöfen, der Erzähler von Louisa Pallant erwartet zu Beginn im Kursaal von Homburg seinen Neffen, „der meiner Obhut von einer sehr liebevollen Mutter für den Sommer anvertraut worden war (von mir wurde erwartet, ihm Europa zu zeigen – natürlich nur das Allerbeste daran) und der von Paris kommend im Begriff war, sich mir zuzugesellen.“ In der titelgebenden Erzählung Das Tagebuch eines Mannes von fünfzig Jahren reist ein englischer General nach langen Jahren der Abwesenheit wieder nach Florenz; zwischen den berühmten Sehenswürdigkeiten der Stadt, dem Palazzo Strozzi, dem Boboli-Garten oder der Galleria Palatina, kehren die Erinnerungen an seine Jugendliebe zurück. James‘ Protagonisten bewegen sich so ungebunden durch die Welt, dass man den Eindruck erhalten könnte, Reisen sei bereits am Ende des 19. Jahrhunderts für jeden erschwinglich gewesen. In krassem Kontrast zu ihrer internationalen Mobilität stehen allerdings zumeist die gedankliche Engstirnigkeit und der Nationalismus der Figuren. Catherine, die Erzählerin von Die Eindrücke einer Cousine, betrachtet trotz ihrer amerikanischen Abstammung Italien als überlegen, denn nur dort findet sie ansprechende Motive für ihre Zeichnungen: „Seit zehn Jahren skizziere ich, und ich glaube wirklich, ich kann es gut. Aber wie kann ich nur die 53rd Street skizzieren? Es gibt Zeiten, in denen ich mir sogar sage: Wie kann ich auch nur in der 53rd Street leben?“ Ihre Ablehnung richtet sich vor allem auf die New Yorker Architektur; die „schmalen, unpersönlichen Häuser“, die sie langweilen, und deren Bauweise aus Sandstein, „die Oberfläche so uninteressant wie Schmirgelpapier“, sie armselig findet. Auch die Anordnung der Straßen und Gebäude ist ihr ein Gräuel: „Herr im Himmel, was für eine Nomenklatur! Die Stadt New York ist wie eine Additionsaufgabe, die Straßen sind wie Kolonnen von Zahlen. Was für ein Ort zum Leben für mich, der mir die Mathematik verhasst ist!“ Als ihr heimlicher Verehrer Adrian Frank ihr nahelegt, es doch einmal mit dem Zeichnen von Menschen zu versuchen, reagiert sie arrogant: „Was für Menschen, die Menschen auf der Fifth Avenue? Die sind sogar noch ungeeignetere Motive als ihre Häuser.“ Auch wenn der Leser von den frechen Aussprüchen Catherines gut unterhalten wird, muss er ihre Voreingenommenheit („Ich mag es nicht, wenn Amerikaner Italienern ähneln oder wenn Italiener Amerikanern ähneln.“) und am Ende ihre zahlreichen Irrtümer erkennen. Ihre Vorurteile über die Amerikaner und die Italiener halten sie davon ab, ihrer menschlichen Qualitäten gewahr zu werden. Ihre antisemitischen Beschreibungen des jüdischen Vermögensverwalters Mr. Caliph sind trotz der offensichtlichen Unzuverlässigkeit der Erzählerin problematisch; vor allem, weil es nicht der einzige James-Text ist, der auf antisemitische Tendenzen schließen lässt: Auch etwa The Golden Bowl und The American Scene sind davon betroffen. In der Dreyfus-Affäre spendete James Zola zwar Beifall, blieb allerdings mit seinen Gegnern zum Teil befreundet.

Ein internationaler Autor und Kulturvermittler

Dass James in seinen Texten Kritik an nationalen Stereotypen übte, seine Figuren zugleich auf der Suche nach kultureller Identität und Selbstverortung zeigt, hat viel mit seiner eigenen Biographie zu tun. Als Sohn einer wohlhabenden Familie 1843 in New York City geboren und aufgewachsen, wurden Henry und seine vier Geschwister schon in jungen Jahren in verschiedene Städte Europas geschickt, unter anderem nach Genf, Zürich, Bonn und Paris, wo sie an privilegierten Schulen eine fortschrittliche Erziehung genossen. Henry studierte zunächst in Genf, später Jura in Harvard, widmete sich aber zunehmend der Schriftstellerei und erzielte bereits mit 22 Jahren seinen ersten literarischen Erfolg mit einer Veröffentlichung im Atlantic Monthly. Von da an reiste er ausgiebig, lebte eine Zeit lang in Paris, später lange in London und kehrte immer wieder auch in die USA zurück. Vom Ausbruch des Ersten Weltkriegs war er tief getroffen und beantragte 1915 aus Protest gegen die Neutralität der USA die Einbürgerung in England, wo er ein Jahr später mit 72 Jahren starb.

Man hat viel darüber diskutiert, ob James nun als Europäer oder Amerikaner gesehen werden kann. Sicher ist, dass er sich intellektuell vor allem aus Europa inspirieren ließ, etwa biologische Ideen von Darwin, Kulturkonzepte von John Ruskin und Matthew Arnold sowie ästhetische Ideen von Hyppolyte Taine und Ernest Renan aufgenommen hat. Seinen Bedenken, wie und ob sich die USA gegenüber europäischer Geistesgeschichte werde behaupten können, begegnete er jedoch keineswegs mit einer Abwendung von der Heimat. Vielmehr betätigte er sich durch theoretische Essays, öffentliche Lesungen und Korrespondenz als reger Vermittler zwischen den Kontinenten, erklärte in seinen wissenschaftlichen wie literarischen Texten den Amerikanern die europäische Kultur und andersherum. Seine amerikanische Werkausgabe, die „New York Edition“, war eines der größten Projekte seines Lebens. Wenngleich diese Edition im Ganzen aufgrund der Tendenz seiner Texte zum an Gustave Flaubert entwickelten Ästhetizismus und zur Handlungsarmut kaum erfolgreich war, waren einzelne seiner Werke für sich genommen große kommerzielle Erfolge, mit denen er ein internationales Publikum ansprach. Auch durch seine Familie und Freunde blieb er stets mit allen Orten zugleich verbunden. So wie James nie gewöhnliche Familienzusammenhänge erlebt hat, ist er genau genommen auch außerhalb der sozialen Form der Nation geblieben. Umso flexibler konnte er Familienkonstellationen und nationale Konzepte in seinem Werk literarisch erproben und gestalten.

Internationale Literatur

James pflegte Freundschaften mit den einflussreichsten Schriftstellern seiner Zeit: britischen (George Eliot, Robert Louis Stevenson), russischen (Ivan Turgenev), französischen (die Brüder Goncourt, Emile Zola, Guy de Maupassant, Ernest Renan, Gustave Flaubert) und amerikanischen (Edith Wharton). Er kannte die meisten ihrer Texte und begeisterte sich für die einen mehr, für die anderen weniger. Mehr als Begeisterungsstürme oder vernichtende Verrisse sind für James seine kritischen Differenzierungen typisch, mit denen er seine eigene Poetik an den Vorbildern entwickelte und gleichermaßen abgrenzte. Der englische realistische Roman, wie Charles Dickens und Anthony Trollope ihn schrieben, war ihm zu naiv und zu prüde, der amerikanische von Nathaniel Hawthorne zu provinziell, andererseits ging ihm bei den Franzosen die strikte Trennung von Moral und Literatur zu weit. An Turgenev gefiel ihm die Akzentuierung des Individuums, was ihm allerdings fehle, so James, sei ein Gefühl für die Form ‒ das galt ebenso für George Eliot, deren Texte er für ihre große Lebendigkeit ansonsten sehr bewunderte.[1] Durch anerkennende, aber eigenwillige Auseinandersetzung mit internationalen Traditionen entwickelte der Autor seine persönlichen literarischen Prämissen: Realismus war für ihn nicht die detailgetreue Beschreibung von Dingen, Orten oder anderen Aspekten einer vermeintlich objektiv gegebenen Umwelt; vielmehr bestand er darauf, dass die Wirklichkeit nur über das Individuum einzufangen sei, wodurch er sich von der Gesellschaftsthematik europäischer Realismustheorie entfernte und einen entscheidenden Schritt in Richtung Moderne unternahm.

In seinen Texten bestimmt deshalb stets ihre Sichtweise auf die Welt die Lebenswege seiner Figuren. Der gealterte Erzähler im Tagebuch eines Mannes von fünfzig Jahren durchlebt seine Vergangenheit durch Beobachtung eines jungen Doppelgängers ein zweites Mal und muss dabei manch lang gehegte Überzeugung überdenken. Hat er rückblickend womöglich selbst sein Glück zerstört? „Das ist wirklich eine bezaubernde Entdeckung für einen Mann meines Alters!“ Das verpasste Leben ‒ aufgrund falscher Überzeugungen, Hoffnungen und Urteile ‒ war ein weiteres von Henry James‘ großen Themen. Die in neuer Übersetzung von Walter Kappacher vorliegende Erzählung Die mittleren Jahre überträgt es auf den Schriftsteller selbst: Sich von schwerer Krankheit langsam erholend sitzt der betagte Dencombe auf einer Bank an der Küste von Bournemouth und betrachtet das Meer. Da entdeckt er in der Ferne eine Personengruppe; darunter ein junger Mann, der ein „aufreizend rotes“ Buch in der Hand hält: „Sein Buch war ein Roman ‒ es hatte den Umschlag eines Schundromans, und während der Roman des Lebens vernachlässigt an seiner Seite stand, verlor der junge Mann sich in jenem aus der Leihbücherei.“ Einen humorvollen Dreh bekommt die Erzählung, als Dencombe feststellt, dass es sich um seinen eigenen, gerade erschienenen Roman Die mittleren Jahre handelt. Die Frage nach der Qualität des Textes ist damit noch nicht geklärt, sondern der eigentliche Clou: Dencombe muss erkennen, dass der größte Teil seines Lebens vorüber ist; womöglich ist seine Chance, ein echtes Meisterwerk zu schaffen, bereits verpasst. Im Gespräch mit seinem jungen Bewunderer resümiert er seine Vergangenheit und sorgt sich um sein literarisches Vermächtnis: „Was er fürchtete war der Gedanke, sein Ruf werde sich auf Unvollendetem gründen.“ Die insgesamt rätselhafte und anspielungsreiche Erzählung lässt sich natürlich auch auf ihren perfektionistischen, selbstzweiflerischen Autor Henry James beziehen, wie der Jung und Jung Verlag durch den ebenfalls leicht kitschigen roten Einband auch buchgestalterisch aufgenommen hat. So legt der Autor in seinem Text ganz bewusst auch über seine eigenen Ängste Zeugnis ab, etwa im Leben und ganz besonders als Künstler zu scheitern ‒ natürlich gänzlich unbegründet. Denn über die herausragende Qualität von James‘ Nachlass lässt sich an seinem 100. Todestag ganz gewiss nicht mehr streiten.

[1] Vgl. Peter Buitenhuis: Henry James’ ‚The Art of Fiction’ in its European Context. In: Revue française d’études américaines (1983/17), S. 217–225.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Henry James: Das Tagebuch eines Mannes von fünfzig Jahren. Erzählungen.
Mit einem Nachwort von Maike Albath.
Übersetzt aus dem Englischen von Friedhelm Rathjen.
Manesse Verlag, Zürich 2015.
406 Seiten, 26,95 EUR.
ISBN-13: 9783717523062

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Henry James: Die mittleren Jahre. Erzählung.
Übersetzt aus dem Englischen von Walter Kappacher.
Jung und Jung Verlag, Salzburg 2015.
66 Seiten, 12,00 EUR.
ISBN-13: 9783990270776

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