Niemand schreibt für sich allein

In seiner dritten und letzten Poetikvorlesung reflektiert Klaus Modick über die Dreiecksbeziehung zwischen Autor, Leser und Werk

Von Marie KrampRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marie Kramp und Sebastian SomflethRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sebastian Somfleth

Weil der Autor nach Abschluss der Niederschrift eines Romans nicht mehr derselbe ist wie zu Beginn, weil die Arbeit an einem Manuskript ihn verändert, ist „alle Literatur autobiographisch, denn man hat sie ja geschrieben.“ Eine gewagte These, mag man meinen, doch betont Klaus Modick sie mehr als einmal, und dies nicht nur in dieser dritten und letzten Poetik-Vorlesung im Rahmen des Poet in residence an der Universität Duisburg-Essen. Zwei erhellende Vorlesungen liegen bereits hinter uns, in denen Modicks Vorstellungen von Poetik zeitweise pragmatischen Überlegungen zur Situation des Autors im heutigen Literaturbetrieb gewichen sind. Modick erläutert: Kein Text ist rein fiktional. Auch wenn es sich nicht um eine autobiographische Geschichte handelt, so schreibt der Autor sie doch auf der Grundlage seiner Erfahrungen; beim Schreiben jedes Buches gewinne er neue Erkenntnisse, die seine Persönlichkeit beeinflussen, was dann wiederum in das nächste Manuskript mit einfließe. Dieser Prozess funktioniere indes auch anders herum: Denn der Akt des Aufschreibens bedeute eine Fiktionalisierung des wirklich Erlebten. Insofern ist laut Modick auch kein Text rein autobiographisch.

Nachdem sein Publikum in den ersten beiden Vorlesungen von ihm erfahren konnte, wie er Dichter wurde, obwohl er keiner werden wollte, und wie sein aktueller Roman Konzert ohne Dichter entstand, konfrontiert Klaus Modick die Zuhörenden nun mit einer Art „Meta-Lesung“ über die Identität des Autors und die dazugehörige Problematik der Autor-Inszenierung, die zwar zu seinem ökonomischen Überleben notwendig, jedoch nicht immer angenehm sei. Diese Veranstaltung scheint uns zunächst ein ungewöhnlicher Rahmen für ein solches Thema, denn was ist diese Vorlesung anderes als eine Inszenierung seiner selbst als eines Literaturschaffenden? Bei Modicks Zuhörer*innen mag es zwiespältige Empfindungen auslösen, wenn er die „Fragespiele“ im Anschluss an seine Lesungen als „selten interessant“ bezeichnet, außer in vereinzelten Fällen, in denen es Leser*innen seines Buches gelinge, ihm eine neue Perspektive auf seinen eigenen Text zu eröffnen. Denn Manuskripte, die ihren Weg zum Verlag gefunden haben, sind für Modick wie erwachsene Kinder, die man zwar großgezogen und geprägt hat, die aber dessen ungeachtet ihre eigenen Wege gehen und nun nicht mehr nur das Leben des Autors, sondern auch das Leben der Lesenden betreffen und beeinflussen. Sein Vergleich von Autorenlesungen mit der Vernissage eines Bildes passt insofern, als den Lesenden durch die Trennung zwischen Autor und Werk, die Modick zuvor mit dem Bild des erwachsenen Kindes verdeutlichte, der Eindruck einer authentischen Verbindung vermittelt wird: Wie der Maler sein Gemälde, präsentiert der Autor dem Publikum sein Werk und legitimiert dieses so mit seiner Anwesenheit. Modick berichtet offen darüber, dass die Lesungshonorare für hauptberufliche Autoren eine wirtschaftliche Notwendigkeit darstellen. Folglich muss sich der Autor – wie auch Baudelaire einst bemerkte – zusammen mit seinem Buch zum Verkauf hingeben, wodurch Literatur gewissermaßen entprivatisiert wird: Sie wird zur Veröffentlichung geschrieben und spiegelt das wider, was der Autor war, während er seinen Text schrieb.

Was die Lesenden aber suchen, wenn sie sich eine Autorenlesung anhören, ist wohl weniger die Legitimierung des Werks, als das Überwinden der vier Grundaspekte des „vereinsamten Leseprozesses“, die Modick erläutert: Bei der Autorenlesung treten die Lesenden aus ihrer Anonymität heraus in die Öffentlichkeit und offenbaren sich dem Autor als Leser*innen seines Buches. Damit überwinden sie nicht nur die Isolation, die mit dem individuellen Leseprozess in den eigenen vier Wänden einhergeht, sondern zugleich die Abwesenheit des Autors. Schließlich bricht die Lesung das Schweigen während der stillen Lektüre und befördert einen Austausch zwischen Autor und Lesenden.

Nicht nur der Inhalt seines Vortrags macht die hier betretene Metaebene deutlich, sondern auch die Struktur: Modick erläutert sein Verhältnis zur Autobiographie und Autor-Identität anhand dreier Fragen, die er als Autor nach einer Lesung am wenigsten beantworten möchte und die doch immer wieder gestellt werden.

Erste Frage: Können Sie vom Schreiben leben? Seine Antwort fällt knapp aus. Er lebe davon, dass er schreibt, und deshalb sei auch nicht alles frei und ohne ökonomische Zwänge entstanden. Schreiben bedeutet für Modick nämlich auch, Übersetzungen anzufertigen und Rezensionen über anderer Leute Bücher zu verfassen. Modick scheint an dieser Frage die Verknüpfung von ökonomischem Erfolg und literarischer Qualität zu stören. Dennoch erleben wir hier einen Autor, der nur deshalb so offen über all diese Dinge reden kann, weil er sich auf dem Markt zu behaupten weiß.

Zweite Frage: Warum schreiben Sie? Schon etwas philosophischer, wenn auch nicht weniger persönlich als die erste. Modicks erster Impuls: Man schreibt, um geliebt zu werden, und man schreibt, weil man es liebt. Schreiben als eine Droge, allerdings keine illegale, vielmehr eine sich im Geiste selbst generierende Droge. An dieser Stelle verweist er auf das Bücherlesen, denn Bücher wissen meist viel mehr über den Autor als er selbst – damit relativiert er diese Frage, die so gern von seinem Publikum gestellt wird, dahingehend, dass die Antworten viel eher im Werk zu finden sind. Modicks Schreiben wird durch seinen ästhetischen und zugleich urbanen Blick auf die Natur begründet. Es geht ihm um Schweigen und Wahrheit. Wenn Schweigen Gold ist, dann ist die Sprache der Literatur die Beschreibung des Glanzes, der das Gold des Schweigens umgibt. Somit ist Literatur für ihn auch ein Ausdruck von Mangel, da sie nie das wahre Wesen des Schweigens erfassen können wird. Wie schon an den Tagen zuvor präsentiert Modick sich auch in dieser Vorlesung als ein Autor, der es liebt, mit Worten zu spielen. Seine Aussage über das Wesen der Literatur und ihr Verhältnis zu dem „Gold des Schweigens“ ist wohl einer der schönsten Sätze der gesamten Vorlesungsreihe. Man kennt Modick als einen subtilen Autor, der es genießt, durch feine Spitzen und unterschwelligen Humor seine Leser*innen zu bezirzen. Humor, Komik – so Modick – sind sein Filter gegen tiefe Erfahrungen, sein persönliches Mittel, um Dummheit zu ertragen. Das darf unkommentiert so stehen bleiben.

Dritte Frage: Haben Sie das alles selbst erlebt? Keine Antwort hier, sondern eine Gegenfrage ist Modicks Reaktion: Warum wollen Sie das wissen? Ist das Leben des Autors überhaupt wichtig? Und hier beginnt ein Feuerwerk von Zitaten, eine Reflexionsexplosion über das Autobiographische in der Literatur, das ja nach Modicks Auffassung ohnehin in jedem Text vorhanden ist. Modick verweist gerne auf große Namen der Literaturgeschichte, wie z.B. den britischen Schriftsteller Julian Barnes, der ein ganzes Buch darüber geschrieben hat, warum dem Leser das Werk des Autors nicht ausreicht (Flauberts Papagei). Auch Lessing wird in diesem Zusammenhang zitiert: die Lesenden haben ihre Autoren „lieb gewonnen“. Diese Motivation teilt Modick, schreibt er doch auch, um geliebt zu werden. Und er sucht weiter. Sartres Gedanken dazu: Den Lesenden fehlt ein Sinn in ihrem eigenen Leben, den sie im Werk und im Leben des Autors suchen. Dessen Bücher bieten ihnen andere Lebensmöglichkeiten und -entwürfe und verweisen sie somit wieder aufs Leben zurück. Novalis, der den Autor als gottgleichen Schöpfer sieht, und Flaubert, der einst sagte: „Madame Bovary, das bin ich“, sind zwei weitere Männer, in deren Gefolge Modick über sein Schriftstellertum und das Autobiographische in seinem Werk reflektiert. Der Autor ist nirgends in seinen Texten zu sehen und doch überall zu spüren. Ist es das, was den Autor als Person für die Leser*innen so faszinierend macht? Martin Walser sieht Literatur als Erfahrung, als Entblößung und Verbergung zugleich. Ohne Literatur dem Mystizismus zum Opfer fallen zu lassen, beginnt sie – nun für Modick selbst – dort, wo der rationale Diskurs versagt. Um noch einmal auf seine Anfangsthese zurückzukommen, dass alle Literatur autobiographisch sei: Modick schreibt nicht zwangsläufig über dasjenige, was er erlebt hat, aber er schreibt, gerade weil er erlebt hat, und er schreibt so, weil er erlebt hat, was er erlebt hat. Das macht das Autobiographische in seinem Werk aus. Auch wenn Modicks letzter Vorlesungsteil zur dritten Frage gefährlich nah an eine Zitat-Collage heranreicht, unterstreichen diese Äußerungen bekannter Dichter zum Thema Autorschaft das Dilemma, in dem auch Modick selbst steckt – die Balance zwischen Nähe und Distanz zu den Lesenden: Natürlich möchte der Autor geliebt werden, aber um seines Werkes, nicht um seiner Person willen. Die Entscheidung, sich dem Publikum zu stellen, ist eine rationale.

Nach Modicks harschen Worten bezüglich der immer gleichen Leserfragen, die manche Zuhörer irritierten, rückt er im Laufe der Veranstaltung von seiner Publikumsschelte ab, wenn er etwa einräumt, dass es letztendlich „keine dummen Fragen gibt, sondern nur blasierte Antworten.“ Nicht nur die sprachlich bis ins kleinste Detail ausgefeilten Vorlesungen, sondern auch das sich an den Vortrag anschließende und äußerst interessante „Fragespiel“ zeigen, dass Klaus Modick sich nicht verweigert, über seine Literatur und sein Autorensein Auskunft zu geben.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen