Beeindruckender Cocktail mit uneindeutigem Geschmack

„Lesen. Ein Handapparat“, herausgegeben von Hans-Christian von Hermann und Jeannie Moser

Von Ulrike PreußerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrike Preußer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im bibliothekswissenschaftlichen Jargon wird unter einem Handapparat eine Zusammenstellung von Texten (durchaus unterschiedlicher medialer Beschaffenheit) verstanden, die für eine bestimmte Zeit nur einer Person oder zumindest einer begrenzten Anzahl von Personen zur Verfügung steht. Im technischen Sprachgebrauch wird hiermit hingegen ein tragbares Gerät bezeichnet, das in der Hand liegend bedient werden kann. Das Bedeutungsspektrum des Begriffs „Handapparat“ sei mit diesen exemplarisch herausgegriffenen Implikationen angedeutet: Ein Handapparat kann vor diesem Hintergrund (ausgewählte) Textur und Medium sein; er kann Exklusivität für sich beanspruchen und ist als haptisches Printerzeugnis ein handhabbares Bereitstellungsgerät – im vorliegenden Fall zum Zwecke, die historisch gewachsene, sich in ihrer Funktion daher stets verschiebende, immer auch metaphorisch zu betrachtende Kulturtechnik des Lesens aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten.

In vierzehn Beiträgen wirft der Sammelband von Hans Christian von Hermann und Jeannie Moser Schlaglichter auf die zwischen Medium und Textur changierende Beschaffenheit des Lesens. Das Nachwort der Herausgeberin und des Herausgebers bietet Anregungen für das Nachvollziehen des „Handapparats“ und seines Aufbaus, die jedoch die eher lose Verbindung der Einzelbeiträge nicht wesentlich festigen. Der Sammelband fordert durch seine Vielseitigkeit eher dazu auf, sich einen eigenen Weg durch die zusammengestellten Texte zu bahnen. Ein Kurzüberblick, der daher gerade nicht der Chronologie des „Handapparats“ folgt, sondern Ergebnis einer individuellen Lesart ist, zeigt die Pluralität der gewählten Zugänge, dem Lesen auf die Spur zu kommen:

Die Schriftstellerin Ulrike Draesner, deren Beitrag den Handapparat beschließt, schreibt bildhaft und eindringlich über das literarische Lesen, über das Bewusstwerden der Form des Gelesenen, über die versteckte Bedeutung, die Grenzen der Sprache und die Körperlichkeit des Lesens. Die Philologin Yvonne Wübben bringt den Forschungszweig der cognitive poetics ins Spiel und zeigt anhand von Lisa Zunshines Abhandlung Why we read fiction (2006), wie die menschliche Fähigkeit zur Mentalisierung dazu beiträgt, im Leseprozess das Verhalten von literarischen Figuren mit emotionalen Zuständen in Verbindung zu bringen. Damit konzentriert sie sich auf einen wesentlichen Aspekt des literarischen Lesens, den sie aus einer in Deutschland noch wenig verbreiteten Forschungsrichtung fokussiert. Die generelle Praxis des Lesens nimmt der Komparatist und Literaturtheoretiker Werner Hamacher in den Blick und zeigt, dass und inwiefern Lesen ein Transformationsprozess ist, in dem der/die LeserIn gleichsam umgeschrieben wird. Mit dem sammelnden und zersplitternden Lesen als entgegensetzte und sich doch wechselseitig bedingenden Lesarten des Rechts setzt sich der Jurist und Rechtsphilosoph Ino Augsberg auseinander. Dabei betont er vor allem die historische Bedeutsamkeit des mal ge- und mal misslingenden Kommunikationsaktes Lesen. Historische Leseforschung betreibt der Lyriker und Philologe Jesper Svenbro, der sich in seinem Beitrag mit dem Akt des Lesens in der griechischen Antike beschäftigt. Die Germanistin und Philosophin Avital Ronell beschäftigt sich schließlich mit dem Verhältnis von Lesen und Freundschaft, während die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann dem „Leben als Roman“ nachgeht, der als unabgeschlossenes Kryptogramm zwischen Lesbarkeit und Unlesbarkeit oszilliert. Inwiefern man sich in die Wirklichkeit regelrecht einlesen kann, erörtert der Philosoph Werner Kogge anhand des Spurenleseparadigmas. Die Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Sigrid Weigel spürt in Heinrich Heines Florentinischen Nächten Allegorien der Lesbarkeit nach. Die konzeptuelle Vortragbarkeit von Erzählprosa seit dem 19. Jahrhundert, die sich der These des Verstummens ausgesetzt sieht, nimmt der Germanist Reinhart Meyer-Kalkus in den Blick. Anhand von zwei Lesungen von Thomas Manns Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull lotet er die inszenatorischen Möglichkeiten aus, die sich beim lauten Vorlesen ergeben.

Der Grafiker und Typograf Ralf de Jong, dessen Text den Sammelband eröffnet, perspektiviert dahingegen die Materialität des zu Lesenden, indem er die typografische Textgestalt in den Blick nimmt. Der Schriftsteller Joachim Kalka schließt mit einem Blick auf eine gezielte Zusammenstellung von Büchern an: die eigene Bibliothek. Er erinnert dabei an literarische Bibliotheken – wie die von Kapitän Nemo – und beschreibt die eigene Bibliothek schließlich als einen temporären Ort, der als „ganz private Konfiguration der Bücherlust […] das allereigenste Laster- und Trosthaus auf einige Lebensjahrzehnte“ und insofern ein individueller, ein privater Kosmos zu sein vermag. Die Unterschiede zwischen dem Lesen eines gedruckten Buches und dem Lesen am Bildschirm präzisiert der Germanist Günther Stocker und illustriert dabei den möglichen Verlust des vertieften Lesens. Der Essay des Schriftstellers Thomas Hettche schließlich zeigt auf unterhaltsam-literarische Weise die Folgen, die ein Ende der Buchkultur nach sich ziehen kann.

Die Mischung von essayistisch-literarischen und wissenschaftlichen Beiträgen, die aus verschiedenen Disziplinen, überwiegend jedoch aus der Germanistik und der Kulturwissenschaft, stammen, lässt einen Cocktail entstehen, der unentschlossen schmeckt. Er lädt wohl dazu ein, die einzelnen hochkarätigen Bestandteile zu kosten – zum Mixen scheinen sie aber nicht so gut geeignet zu sein, denn in der Verbindung gehen die einzelnen Ingredienzien unter. Doch schließlich – und damit seien der Cocktail-Allegorie ihre Grenzen aufgezeigt – kann man ein Buch nicht trinken. Der/die LeserIn ist demnach auch nicht gezwungen, das gesamte Gebräu in einem Zug hinunterzukippen. Vielmehr sollte die entdeckerische Freude an den mal spannenden und emotionalen, mal literarisch verschlungenen, metaphorischen, kognitiven, materialen und medialen Ausflügen ins Reich des Lesens überwiegen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Jeannie Moser / Hans-Christian von Herrmann (Hg.): Lesen. Ein Handapparat.
Verlag Vittorio Klostermann, Frankfurt a. M. 2015.
235 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783465042426

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