Gemeinsam getrennt in der „cucina opiniorum“

Friedrich Vollhardt, Oliver Bach und Michael Multhammer publizieren einen Band über „Toleranzdiskurse in der Frühen Neuzeit“

Von Dennis BorghardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dennis Borghardt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nicht erst seit der omnipräsenten Flüchtlingsdebatte ist das Thema ‚Toleranz‘ in Europa zu einem Meinungsfeld avanciert, auf dem scheinbar jeder frei agieren kann, der nur über einen Zugang zum entsprechenden Medium verfügt. Sein Stellenwert im öffentlichen Diskurs erscheint seit Jahren ungebrochen und macht es zu einem fast obligatorisch zu nennenden Gegenstand des Feuilletons, der philosophischen Populär-Zeitschriften, der Online-Netzwerke sowie des allabendlichen TV-Talks. Bisweilen lassen sich dabei Explikationen des Toleranzgedankens ausmachen, denen offenbar Trivialbestimmungen zugrunde liegen wie: ‚Person X findet es eigentlich nicht richtig, was Person Y tut, sieht aber geflissentlich darüber hinweg‘. Zudem werden nicht selten terminologische Abstufungen zwischen ‚Respekt‘, ‚Akzeptanz‘ und ‚Toleranz‘ vollzogen, wobei sich derartige Hierarchien bevorzugt am Grade der emphatischen Wertschätzung orientieren, die den jeweiligen Handlungsweisen in großem (‚Respekt‘) oder weniger großem Umfang (‚Toleranz‘) zugedacht werden. Auch die sophistisch anmutende Wendung, dass man, wenn man sich selbst als einen tolerant eingestellten Menschen auffasst, dann doch wohl auch Intoleranz bei anderen hinzunehmen habe, lässt sich in diesen Zusammenhängen nicht selten vernehmen.

Demnach scheint es in solchen Debatten häufig darum zu gehen, eine Art von Duldungsmoment gegenüber einem (moralischen, politischen, kulturellen etc.) Verdikt zu markieren, das wiederum als absolut angesetzt wird. Gleichwohl erschöpft sich das Problem der Toleranz nicht in einem bloßen Hinnahme-Ethos, sondern zeichnet sich als ein Gegenstand ab, der einerseits in Ansehung der gegenwärtigen politischen, religiösen und kulturellen Konfliktfelder, andererseits aber auch bereits seiner eigenen historischen Genese nach hochgradig ambivalent erscheint. Zwar könnte man mit Blick auf die verstetigten Diskussionen über den Zuschnitt von Integrationsbemühungen und auf die Erfolge populistischer Parteien leicht zu der Einschätzung gelangen, dass es hierbei schlicht um die Bejahung oder Verneinung eines baren kulturellen Nebeneinanders verschiedener Religionen, Ideologien, Überzeugungen etc. gehe; auch könnte man im Zuge dessen auf relativistische Definitionen verfallen – in dem Sinn, dass die jeweiligen Handlungsalternativen erst über ihre Wechselbeziehungen überhaupt Konturierungen erführen. Dies würde dann bedeuten, dass sich die Auseinandersetzung mit dem mutmaßlich Heterogenen auf die Vereinbarkeit verschiedener Religionen im Sinne einer Ko-Existenz beschränken würde –  wodurch wiederum aus dem Blick geriete, dass Toleranz ein epochenübergreifendes Grundproblem der Philosophie und Theologie darstellt, das eng an Wahrheitsfragen zu knüpfen ist. Neben diesem epistemologischen Geltungsanspruch kann es mehr noch zu einem Konstituens aufklärerischer Grundskepsis gezählt werden, dass Toleranz eben nicht bloß in der pragmatischen Hinnahme fremder Meinungen aufgeht, sondern immer auch die in Frage stehende Legitimierung einer solchen Haltung als ständigen Begleiter mit sich führt. Demnach handelt es sich um ein Anspruchsdenken, das uns zwar in ethischer Hinsicht durchaus viel anzugehen scheint, dabei jedoch nicht aus der Ethik schlechthin deduzierbar ist.

Auch der jüngst bei De Gruyter erschienene Band Toleranzdiskurse in der Frühen Neuzeit  zeigt sich grundsätzlich misstrauisch gegenüber der Denkfigur, Toleranz könne eine Art soziale Übereinkunft bedeuten, die sich allein anhand der menschlichen Fähigkeit zur Duldsamkeit bemessen lasse. So wird von den Herausgebern Friedrich Vollhardt, Oliver Bach und Michael Multhammer gleich in der Einleitung konstatiert, dass sich Lessings epochemachendes Drama Nathan der Weise (1779) ebenso wenig in die Lesart einer metakulturellen Gemeinschaftsstiftung wie in die Inanspruchnahme relativistischer Standpunkte einfügen lasse; vielmehr erweise sich – rekurrierend auf Sloterdijks ironisch pointiertes Diktum über den Nathan als eine ‚Bergpredigt der Aufklärung‘ – der Wert des Dramas gerade in seiner Aufforderung, sich der Wahrheit nicht gewiss zu sein, mithin im Vermeiden eines selbst-assertorischen Denkverhaltens, in dem Behaupten und Konstatieren gewissermaßen übereinfallen – woraus nämlich schlimmstenfalls eine Affirmierung von nur vermeintlich ‚Gewusstem‘, von Vorurteilen (praeiudicia) oder gar von Aberglauben (superstitio) resultieren könnte. Für die Herausgeber zentral ist die sich im 18. Jahrhundert abzeichnende Entwicklung, die Toleranz weiter in Richtung eines vorwiegend gesellschaftlich gefassten Paradigmas zu verschieben, ohne dabei in eine religiöse und naturrechtliche Unterkomplexität zu verfallen. Denn sowohl die Sedimente aus den vorkonfessionellen Epochen wie auch die Debatten in der Reformationszeit und erst recht die in der Aufklärungszeit forcierten Kontroversen zwischen Deismus, Theismus, Fideismus, Pantheismus, Panentheismus etc. weisen auf den schwierigen Weg hin, so etwas wie eine Meinungspluralität überhaupt zu erringen, und stellen dabei vor allem ihre – bereits historisch gewachsenen – Konfliktpotentiale aus. Daher besteht ein erklärtes Hauptanliegen des aus einer Münchner Tagung im Oktober 2013 hervorgegangenen und in die Reihe Frühe Neuzeit (Band 198) integrierten Sammelbands darin, die weitere Genese der tolerantia fort von einer staatsphilosophischen hin zu einer primär gesellschaftlichen Größe neu zu thematisieren – dies nicht im eingangs erwähnten Sinn einer ständigen Aufforderung zur Duldung und Einbettung des Heterogenen in synchrone soziale Zusammenhänge, sondern auf Grundlage von und in Auseinandersetzung mit seiner eigenen historischen Bedingtheit.

Hieran lässt sich zugleich der ideengeschichtliche Vektor ablesen, auf den sich der Band stützt. Es wird nicht so sehr, wie man vielleicht hätte erwarten können, ein weiteres Mal die Rolle des Naturrechts (ius naturae) rekonstruiert – dessen Relevanz für die Entwicklung des Toleranzgedankens zählt ohnehin seit geraumer Zeit zum unbestrittenen Konsens frühneuzeitlicher Forschungsbestrebungen; etwas außen vor steht somit auch die Frage, ob es sich bei der tolerantia nun um eine gesetzmäßige oder naturgemäße Disposition handle, die sich auf ein kontradiktorisch gefasstes Verhältnis von nómos und phýsis und damit historisch-genetisch auf die sophistischen Aufklärungsdiskurse im Griechenland des fünften und vierten Jahrhunderts v. Chr. stützen könne. Dessen ungeachtet findet sich mit dem Aufsatz von Oliver Bach auch ein Beitrag, der sich dezidiert auf diesen Komplex richtet, namentlich auf die Synkretismus-Debatte, wie sie sich rund um Theophil Lessings De religionum Tolerantia (1669) im späten 17. Jahrhundert entfaltete. Indes bleibt dieser Beitrag der einzige, der naturrechtliche Implikationen in den Mittelpunkt der Betrachtungen rückt. Angesichts der überreichen Forschungsliteratur zu diesem Nexus – insbesondere zu den Philosophien Grotius‘, Pufendorfs und Lockes – stellt dies jedoch durchaus keinen Mangel dar, sondern eher eine willkommene Re-Arretierung unseres Blicks auf die zeitgeschichtlichen Phänomene. In das Untersuchungszentrum rücken somit Themen wie der spezifische Umgang mit Häresie – vorgeführt etwa in den Beiträgen von Barbara Mahlmann-Bauer und Wilhelm Kühlmann –, die Vorurteilskritik – wie etwa im Aufsatz von Hanspeter Marti – oder die Auseinandersetzungen zwischen deutscher und französischer Toleranztheorie – illustriert vor allem in den Beiträgen von Monika Fick und Gideon Stiening. Einen gut gewählten Aufmacher zu diesen Komplexen bildet das mittlerweile überkommene, vielleicht ließe sich auch sagen: von der ökumenischen Entwicklung der Kirchen eingeholte Prinzip der Irenik, das in der Einleitung präsentiert wird anhand des Gemäldes eines anonymen holländischen Malers aus dem frühen 17. Jahrhundert. Hierauf ist zu sehen, wie sich Pax (Eirḗnē ) in die Meinungsküche (cucina opiniorum [sic!]) zum Papst, Calvin und Luther dazu gesellt, um diese, wenn auch nicht in deren wechselseitig trennenden Ansichten zu vereinen, so doch zu einem friedvollen Miteinander zu ermahnen.

Mit diesem kulinarisch eingehegten Spannungsfeld, das sich substantiell zwischen Frömmigkeit (pietas), Frieden (pax) und Wahrheit (veritas) abstecken lässt, ist zugleich auch eine Zugriffsweise auf das Thema benannt, mit der sich Aufsätze wie der von Klaus Garber oder Jan-Dirk Müller beschäftigen. Zudem wird in den Beiträgen regelmäßig der antidogmatische Charakter der Toleranz hervorgehoben und anhand verschiedener geschichtlicher Konstellationen exemplifiziert – nicht nur aus philosophischer oder theologischer, sondern auch aus kulturhistorischer, literarischer, historiographischer oder auch juristischer Sicht. Hierbei geht es, um nur wenige zentrale Werke herauszustellen, denen eine Behandlung zuteil wird, um Linien, die sich von Erasmus‘ satirischem Enkomion Laus Stultitiae (1511) über Sebastian Castellios theologisches Konvolut De haereticis an sint persequendi (1554), die bereits erwähnte Disputation De Religionum Tolerantia (1669) Theophil Lessings, Spinozas Tractatus theologico-politicus (1670) und Ethica (posthum 1677), Pierre Bayles Pensées sur la comète (1683), Johann Gottfried Lessings Dissertation Vindiciae Reformationis Lutheranae a nonnullis praeiudiciis (1717) bis hin zu Julien Offray de La Mettries polemisch-libertinären Einlassungen in Schriften wie dem Anti-Sénèque (1748) und  dem Discours préliminaire (1751) erstrecken. Prominente und weniger prominente Schriften treten hierbei nebeneinander, da sie offenkundig nach ihrer zeitgeschichtlichen Relevanz und nicht aus Sicht heutiger Kanonisierung beurteilt werden. Dass mit Theophil und Johann Gottfried Lessing Großvater und Vater Gotthold Ephraim Lessings prominent eingegliedert werden – bei Johann Gottfried teils gar in biographischer Manier –, festigt zudem ein weiteres Mal den Vektor auf Lessings Nathan der Weise (1789), dessen ideengeschichtliche Fundierung zu den erklärten Anliegen des Bandes zählt; in diesem Sinn finden sich auch vier Beiträge (Monika Fick, Gideon Stiening, Liliane Weisberg und Friedrich Vollhardt), die auf Gotthold Ephraim Lessing entfallen.

Der synoptische Blick auf die behandelten Werke bestätigt zudem, dass hier fast en passant eine kleine europäische Religionsgeschichte geliefert wird. Beginnend mit den vorkonfessionellen Stadien im Renaissance-Humanismus werden verschiedene epochenspezifische Strömungen und Tendenzen nachverfolgt und in die zeitgeschichtlichen Kontexte des Skeptizismus, Fideismus, Spiritualismus, Pietismus etc. eingebettet. Der Toleranzgedanke erweist sich dabei als ein transkonfessionelles Desiderat und generiert seine parteiübergreifende Relevanz gerade aus den Wechselbeziehungen jener zum Kernbestand der europäischen Geschichte zählenden Geisteshaltungen heraus. Das Verdienst des Bandes besteht allerdings nicht in der Herstellung historischer Verlaufsanschlüsse allein, auch nicht nur in den häufig sehr präzisen und erhellenden Textlektüren beziehungsweise -exegesen, sondern liegt besonders in seinem nicht nachlassenden Bestreben begründet, immer wieder die systematischen und interdisziplinären Zusammenhänge herauszustellen, die sich zuvor vielleicht nicht so sehr im allgemeinen Bewusstsein befanden. Als luzides Beispiel hierfür kann die Relektüre der Pensées diverses sur la comète Pierre Bayles gelten, in der – wie Yves Bizeul aufzeigt – auf Grundlage des sich in der Frühen Neuzeit ausprägenden Nexus zwischen Naturwissenschaft und Philosophie eine Bekämpfung der Idolatrie und des Aberglaubens verfolgt wird; hier ist es tatsächlich einmal ein recht ungebrochener Rationalismus – namentlich der Rekurs auf die rational erfassbaren Mechanizismen verhaftete Philosophie der Cartesianer –, der dem Toleranzgedanken den Weg bahnt. ‚Rational zu denken‘ bedeutet demnach zunächst den Ausschluss von Begründungsmustern, die sich der Vernunft entziehen, und somit stricto sensu eigentlich eine Verengung des menschlichen Blickwinkels; bei Bayle wird dies indes zu einer allgemeinen, positiven Formel gewendet: Wenn der Rationalismus Intoleranz gegenüber Irrationalität einfordert, so erwächst aus dieser Intoleranz keine weitere Intoleranz, sondern überhaupt erst so etwas wie Toleranz in einem umfassenden Sinn, die eine nicht-relativistische Bewertung von Heterodoxien überhaupt erst ermöglicht. Ferner wird La Mettrie – mit seinem vorgeblich doch so freizügigen philosophischen Gemüt – aus Sicht eines Lessingschen Standpunktes als Musterbeispiel für Intoleranz vorgeführt – gerade weil er in seinem sensualistisch-materialistischen Weltbild nur eine einzige, nämlich seine eigene subjektive Denkungsart zulasse. Auch hier ergibt sich eine zeitgeschichtliche Bewertung, die nicht ganz dem verbreiteten Bild zu entsprechen scheint. Somit sind es sehr unterschiedliche, teils auch überraschende Erkenntnisse, die hier zur Darstellung kommen.

Lautet der Titel des Bands auch Toleranzdiskurse in der Frühen Neuzeit, so wird ein Leser, der Diskursgeschichte im engeren Sinn erwartet, möglicherweise etwas enttäuscht sein. Der Fokus liegt insgesamt dann doch eher auf ideen-, konstellations-, bisweilen auch begriffsgeschichtlichen Analysen, so dass ‚Denkmuster‘, ‚Denkstrukturen‘ und ‚Denkhorizonte‘ zu den geläufigen Termini zählen, mit denen hier operiert wird. Dass diese methodische Ausrichtung dennoch vielen Erkenntnisinteressen aus unterschiedlichen Disziplinen zu genügen vermag, lässt den Sammelband zu einem ebenso substantiellen wie vitalisierenden Beitrag nicht nur der geisteswissenschaftlichen Debatten werden. Ein Kritikpunkt mag auch die leicht logozentristisch anmutende Ausrichtung des Bandes sein, insofern hier ein einzelner Begriff hartnäckig in den Mittelpunkt gerückt wird, um den sich dann gleichsam alle Betrachter einig versammeln. Aber auch das erweist sich, aufs Ganze betrachtet, nicht so sehr als Makel, sondern als Ausweis einer präzisen ideengeschichtlichen Expertise, wie sie in der Fülle akademischer Publikationen nicht immer als selbstverständlich angenommen werden kann. Ziemlich sicher bliebe noch mit Foucault zu fragen, wie Toleranz in Form diskursiver Formationen Machtstrukturen überhaupt zu generieren und aufrechtzuerhalten vermag; und gewiss gingen solche Fragen über den Horizont des Bandes wenigstens systematisch hinaus. Derartige Problematisierungen bleiben indes – und dieses Phänomen lässt sich gelegentlich auch in akademischen Diskussionen beobachten – nur allzu häufig inhaltsleer ohne die Kenntnis der entsprechenden historischen Paradigmen. Diese finden sich hier auf eine Weise vorgeführt, dass erhellt wird, worüber wir überhaupt reden, wenn wir von Toleranz reden.

Mit derartigen Informationen ausgestattet, lässt sich – rückwärtsgewandt – auch mit anderen Augen auf Werke wie Huntingtons The Clash of Civilizations (1996) und die daran gekoppelten Debatten über die Vereinbarkeit von Christentum und Islam sowie – vorwärtsgewandt – auf die sich mit hoher Wahrscheinlichkeit weiter verstetigenden Diskussionen über einen europäischen Toleranzbegriff blicken. Mag sich auch ‚Toleranz‘, wenigstens in ihrer praktischen Applikation, als eine Paradoxie erweisen, mithin einen Begriff darstellen, der sich selbst verunmöglicht, so folgt daraus keineswegs die Unmöglichkeit seiner Darstellung – wie sich an diesem gelungenen Band sehen lässt.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Friedrich Vollhardt / Michael Multhammer / Oliver Bach (Hg.): Toleranzdiskurse in der Frühen Neuzeit.
De Gruyter, Berlin 2015.
422 Seiten, 99,00 EUR.
ISBN-13: 9783110442137

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